Unter der blutroten Flagge
- Hier können Sie den kompletten Roman als .pdf-Datei kostenlos herunterladen -
»Er kommt von Lee!«
Samuel Bush, erster Offizier der SILVER STAR, setzte das Fernrohr mit den verkratzten Messingverzierungen ab. Seine wilden, rötlichen Augenbrauen zogen sich zusammen und über seiner Nasenwurzel entstand eine scharfe Falte.
»Das kann uns nur recht sein, Mister Bush«, erklang es hart, aber in einem Timbre, das einen merkwürdig bis ins Mark berührte.
Estrella Avilla de Aragon strich sich das wilde lockige Haar aus dem Gesicht und starrte hinaus auf den tief blauen Horizont. Die Fregatte weit hinten ließ sich nur erahnen.
»Ein verfluchter Engländer«, zischte die Corsarin. »Ich erkenne ihn am Vorsegel. Wir werden ihn vernichten!«
Sie wandte sich um und rief mit mächtiger Stimme über das Deck:
»Handelsflagge setzen! Geschütze bereithalten, aber abdecken. Keiner zeigt sich über der Reling!«
»Ay, ay – Lady Captain«, bestätigte der Bootsmann.
Estrella wandte sich wieder um und schien das sich langsam aber stetig nähernde Schiff mit den Augen aufzusaugen. »Komm!« zischte sie und es klang wie eine Kobra vor dem tödlichen Biss. »Ich reiße dir den Arsch auf!«
Sam Bush lehnte sich langsam an die Bordwand und begann seine Pfeife zu stopfen. Sein dichter graurötlicher Bart vibrierte im Wind. Die Wanten und die Takelage knarrten, die Segel der SILVER STAR blähten sich, als signalisierten sie Vorfreude auf das Kommende.
Bush musterte seinen Lady-Captain. Er sah das Glitzern in ihren Augen. Unbändige, unterdrückte Wut, die aus tiefster Seele aufzusteigen schien.
Ja – Sam Bush wusste nur zu gut, was in Estrella vor sich ging.
Die Hände der Corsarin umkrampften so fest die Reling, dass die Knöchel weiß hervortraten. Unruhig scharrten ihre Stiefelsohlen auf den Planken.
Vor ihren Augen verwischte sich das wogende Meer und das Bild wandelte sich in eine gaffende, kreischende Menschenmenge. Estrella spürte die harten, schwieligen Hände der beiden Henker, die sie zum Pranger führten.
Ganz London schien sensationslüstern auf den Beinen zu sein.
»Zieht sie aus!« schrie eine sich überschlagende Stimme und bald stimmte die Meute mit ein. Eine alte hakennasige Frau grabschte an Estrellas Busen und zeriss dabei die ehemals weiße Rüschenbluse.
»Zieht ihr diese Männerhosen aus!« geiferte ein anderes aufgebrachtes Weib.
Es glich einem Spießrutenlaufen, bis man sie endlich grob auf dem Marktplatz an das Prangergerüst stieß...
Estrella begann trotz des scharfen Westwindes zu schwitzen. Sie zuckte zusammen, als Bush sie berührte. »Captain! Es ist vorbei.«
Hilflos starrte Estrella ihn an. Dann schüttelte sie sich und ihr Blick wurde hart. Sie knurrte unheildrohend: »Nein, Mr. Bush – es beginnt erst noch!«
Bush stieß sich von der Bordwand ab und stapfte – sich breitbeinig gegen die Schräglage des Schiffes stemmend – zum Ersten Kanonier.
»Diego – wenn er nahe genug ist, verpasst du ihm einen genau auf den Bug.
Und zwar dicht unter der Wasserlinie.«
Diego – ein feuriger Andalusier und der beste Kanonier der westlichen Hemisphäre – grinste breit. »Ist mir ein Vergnügen, Senõr Offizier.«
Busch nickte befriedigt. Er wusste, dass man sich auf Diego verlassen konnte. Der schoss auf hundert Yards einer Drohne die Eier ab. Falls sie welche hätte. Bush kicherte in sich hinein. Inzwischen hatte Estrella sich an den Bugsteven geklemmt. Von tief unten rauschte die Gischt zu ihr herauf.
»Der Schlund der Hölle ist für euch, verdammte Inglis«, fauchte sie.
Erneut tauchten die grässlichen Bilder der Vergangenheit auf. Fünf Jahre war es her und doch schien es erst eben gewesen zu sein. Estrella hörte das Ratschen, als ihre Kleidung zeriss. Fühlte den rauen Wind auf dem völlig entblößten, der gaffenden Menge feil geboten Körper. Sie spürte das kalte Metall der Hand- und Fußschellen, als man sie an den Pranger kettete. So scharf, dass ihre Gelenke knackten. Einer der Henker stieß ihr ein Rundholz in die Scheide.
Mit jeder Faser ihrer Seele fühlte Estrella noch den Schmerz und musste sich zusammennehmen, um nicht jetzt noch aufzuschreien.
Dann kam die Peitsche. Fünfzig scharfe Hiebe. Das Blut rann ihr von Brüsten und Schultern. Die Menge johlte und ein nahe stehendes altes Weib stieß ihr ihren nackten, schmutzigen Fuß in den Bauch...
Die Corsarin schüttelte sich.
»Schiff kommt näher«, riss sie die Stimme des Ausgucks aus den Erinnerungen.
Der Kopf der Corsarin ruckte herum. Überdeutlich zeichnete sich die englische Fregatte ab. Mit dem Fernrohr erkannte sie die Uniformen der Offiziere.
Estrella knirschte mit den Zähnen. Bald würden sie nackt vor ihr um Gnade winseln. Doch es würde keine Gnade geben. Sie würde die Bande auslachen, so wie die Gaffer damals vor Vergnügen gegrölt hatten, als die Henker ihr die kleinen heißen Kohlenpfannen unter die nackten Fußsohlen geschoben hatte.
Sie würde diese Hurenböcke an noch empfindlicherer Stelle rösten.
Es dauerte noch bald eine Stunde, bis der Engländer so nahe kam, dass man seine Bugwelle hören konnte.
Estrella sprang in die Mitte des Decks.
»Rote Flagge hissen!«
Zeitgleich donnerte Bushs Befehl so, dass man glaubte, die Takelage würde erzittern: »Feuer frei !«
Während Diegos erste Kugel genau ihr vorbestimmtes Ziel traf, schienen Estrellas Augen in einem unwirklichen Licht zu glühen.
»Betet zu euerem Gott...«
Sie sah, wie das Schiff gurgelnd in den Wogen versank.
Wie ein Abgesang versuchte die englische Flagge noch zwei schwache wedelnde Bewegungen zu machen. Dann zeigten nur noch einige Luftblasen in der giftgrünen See, was hier geschehen war.
Abrupt wandte sich Estrella um.
»Mister Bush«, rief sie ihrem Ersten Offizier zu. »Geben sie Kurs Süd-Südwest, zwei Strich.«
»Ay, ay, Lady Captain!« bestätigte er und gab den Befehl an den Steuermann.
Sogleich legte sich die SILVER STAR hart in den Wind. Die Gischt der Bugwelle spritzte und im Licht der Abendsonne schienen sich die hochwirbelnden Wassertropfen in funkelnde Diamanten zu verwandeln.
Estrella baute sich vor ihren Gefangenen auf. Nur acht hatten den Kaperkampf überlebt. Drei vornehme Damen, der Erste Offizier und einige der Mannschaft.
»Bootsmann! Lasst jedem der Gefangenen zehn Peitschenhiebe verabreichen. Damit sie gleich wissen, wo sie sind.«
Der Bootsmann kam grinsend mit einigen Matrosen heran.
»Zuerst die Damen, wie es die Höflichkeit geziemt?«
Estrella überlegte kurz. »Die Damen werden zusehen. Was mit ihnen geschieht entscheide ich später. Allerdings dürfen sie ihnen etwas Luft verschaffen. Oben herum.«
Der Bootsmann hatte verstanden.
Da fing Estrella einen Blick von Lady Helen de Vere auf.
Estrella schluckte. Dieser Blick ging ihr bis in die Seele.
Stolz steckte darin. Kein herrschender Blick – keine Furcht.
Unbändiger Stolz und ... Sie konnte es nicht beschreiben.
Als der Bootsmann ihr derb an die Schulter griff, machte Estrella rasch zwei Schritte auf die Lady zu. »Wartet noch – vorerst. Bringt sie zum Oberdeck.«
Der Bootsmann schaute erstaunt, zuckte dann aber mit den Achseln. Estrella war der Captain und deshalb der Boss. Niemand auf der SILVER STAR würde jemals ihre Anweisungen in Frage stellen.
Estrella Avilla de Aragon stellte für die Mannschaft so eine Art Göttin dar. Unantastbar. Sie gehorchten ihr blind. Denn sie hatte sie aus einem miesen, furchtbaren Leben in stinkenden Gefängnislöchern befreit.
Sie waren staatenlos. Vogelfrei. Ja! Aber auf dem Schiff durften sie Menschen sein. Wenn auch nicht zivilisiert. Aber ihr Lady-Captain sorgte dafür, dass alles im Rahmen blieb.
Sie konnten sich auf sie verlassen – und sie sich auch auf ihre Männer.
Auf dem Ruderdeck erwartete sie die Gefangene.
Mit erhobenem Haupt kam diese herauf.
Estrella musterte sie. Sie stellte keine direkte Schönheit dar, aber sie strahlte etwas besonderes aus.
Etwas, was – Estrella fluchte innerlich – sie veredelte. Scheinbar unverwundbar machte.
Die Corsarin spuckte undamenhaft über die Reling. Verdammt! W a s hinderte sie daran, dieses Weib splitternackt an den Rahen hochziehen zu lassen und sich an ihrem Gejammer zu erfreuen?! Sie war eine englische Hure! Wie eine von diesen Weibern, die damals Beifall geklatscht hatten, als man Estrella hilflos den Foltergesellen am Pranger auslieferte. Diese Weiber hatten sich aufgegeilt, als der Profoss ihr den Peitschenstiel in den Anus geschoben hatte.
Estrella atmete heftig.
Sie stampfte mit dem Stiefel auf die Planken. »Auf die Knie! Barfuss!«
Inzwischen drang das Klatschen der Peitschen zum Oberdeck herauf und vermischte sich mit den Schmerzensschreien der Gemarterten.
Estrella ließ das kalt.
»Weißt du, was ich mit dem verlausten Pack noch tun werde?« zischte sie zu Lady de Vere. »Ich werde ihre Genitalien so behandeln, dass sie sich wünschen, als Eunuchen auf die Welt gekommen zu sein.«
»Ihr habt schlechte Erfahrungen mit den Briten? Was haben euch diese Männer getan?«
Leise, aber deutlich kam diese Frage aus dem Mund der Gefangenen.
»Was sie mir getan haben?!« Estrella würgte es im Hals. Am liebsten hätte sie dieser Gans eine Ohrfeige verpasst.
Doch dann war da wieder dieser Blick. ‚Scheiße!’ durchzuckte es die Piratin. Das war ihr noch nie passiert.
»Weshalb liegst du noch nicht auf den Knien? Soll ich dich an den Daumen die Rahen hinaufziehen lassen?« herrschte sie die Frau an.
Die Gefangene zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Wenn es euch Genugtuung verschafft – so tut es. Knien werde ich nicht und meine Schuhe und Strümpfe werde ich auch nicht ausziehen.«
Sie warf mit einer koketten Kopfbewegung das lange, aber nun wirre Haar in den Nacken.
Estrella lief die Galle über. »Mr. Bush!« schrie sie von oben.
»Captain?!«
»Diese englische Lady bittet euch um hundert Stockschläge auf ihre nackten Fußsohlen!«
Der Erste Offizier und zweite Kommandant der SILVER STAR trabte heran.
Die Gefangene lächelte nur und meinte leise: »Ich werde nicht um Gnade winseln. Aber ob eure Seele bei meiner Bestrafung ruhig bleibt, bezweifle ich. Ich habe euch nämlich nichts Böses angetan.«
Estrella schluckte, als sie beinahe in den dunklen Augen der Gefangenen zu versinken schien.
»Dann kommt, Madame«, knurrte der hünenhafte Bush. »Werde mich persönlich eurer zarten Söhlchen annehmen.«
»Wartet!« stieß Estrella hervor. Eine Spur zu schnell, wie sie sich selbst schallt.
»Bringt sie in meine Kabine.«
Nun schaute Bush doch etwas merkwürdig drein.
»Wie ihr befehlt«, brummte er und zog die Engländerin mit sich.
Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Estrella ihre Kajüte betrat.
Ihre Gefangene saß auf einem Stuhl am Kartentisch. Der Oberkörper lag auf der Tischplatte zwischen den Kartenrollen. Die Frau schlief den Schlaf der Erschöpften.
Erst wollte Estrella sie unsanft in die Seiten treten. Doch etwas in ihrem Innern hielt sie davon ab.
‚Hölle’ zischte sie. Sie wusste, dass sie dieser Frau nichts tun würde. Ohne es sich recht bewusst zu sein, hegte sie tiefe Sympathien für diese Engländerin. Es gab ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Estrella konnte es nur noch nicht erklären.
Sie setzte sich auf ihren Diwan, den sie einmal von einem arabischen Piraten erbeutet hatte und zog sich die Stiefel aus. Sie massierte ihre leicht verschwitzten Füße. Dann lief sie zu dem kleinen Schrank hinüber und goss sich einen Rum ein, der jedem Kneipenwirt in Dover die Sprache verschlagen hätte.
Beim Henker – durchfuhr es die schöne Corsarin. Sie hatte ein Problem. Sie wusste, dass sie diese Frau weder foltern, noch auf dem Sklavenmarkt verkaufen würde. Die Freiheit durfte sie ihr aber auch nicht geben, denn das hätte ihre Mannschaft erstaunt.
Sie konnte sie als persönliche Dienerin behalten. Das wäre eine Lösung.
Aber bei allen Seeteufeln, sie musste sie dazu bringen, auf dem Deck barfuss vor ihr zu knien. Sonst würde Estrella vor ihren Leuten das Gesicht verlieren.
Aber wie sollte sie der Frau klar machen, dass sie das tun sollte? Vor allem, dass sie danach freiwillig als Dienerin auf n a c k t e n Füßen zu laufen hatte.
Estrella saß mit untereinander geschlagenen Beinen barfüßig auf dem Diwan, die Ellenbogen seitlich auf den Knien aufgestützt, den Oberkörper weit vorgebeugt und betrachtete mit schrägliegendem Kopf die schlafende Lady. Es brodelte in ihr. Ihre Zehen bewegten sich unablässig, ständig strich sie mit ihrer freien Hand wilde Haarsträhnen zurück.
»Verdammt – was faszinierte sie an dieser Frau?«
»Weshalb lag sie nicht längs in Ketten im Bugraum?«
Die Corsarin kippte schließlich einen weiteren Becher Rum mit weit nach hinten geworfenen Kopf in ihre Kehle. Jedem Spelunkenwirt hätte das zur Freude gereicht. Heiß wärmte der Fusel sie auf. Langsam kippte ihr Kopf wieder nach vorne, ihre Augen fielen automatisch wieder auf die Lady. Estrella war verwirrt. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Wie ein Raubtier hatte sie die Gefangene mehrmals umkreist, von allen Seiten betrachtet, aber es hatte ihr nichts geholfen. Sie fühlte sich leer und ratlos.
Diese Lady irritierte sie völlig. Selbst im Schlaf wirkte sie noch anmutig, ja edel, und... stark.
Diese Frau war eindeutig anders. Nicht wie diese ... Diese englischen Huren, dachte Estrella, und verzog verachtungsvoll die Lippen.
Und du gehörst doch dazu!
Am liebsten hätte sie das Rumglas nach der Lady geworfen. Sie hasste sie, hasste sie für ihr sicheres, selbstbewusstes Auftreten, für ihren Stolz, für ihr bloßes Dasein. Innerlich stöhnte Estrella auf.
Was sollte sie bloß tun? Sie wollte dieser Frau nicht wehtun, etwas in ihr sträubte sich mit aller Macht dagegen. Wild biss sie auf ihrer Unterlippe herum, spürte gar nicht, wie die feine Haut in kleinen Rissen aufplatzte.
Sie glitt wieder von ihrer Pritsche herab, und begann erneut nervös in der Kajüte umher zu laufen. Viel Platz dafür hatte sie nicht. Aber wie ein ungebändigtes Tier schlich sie von einer Wand zu der anderen, ihre Verzweiflung wuchs mit jedem Schritt, ihre Wut und ihr Zorn steigerte sich, wie damals, als sie ...
Die Lady stöhnte auf, ihr Kopf glitt zur Seite, und schlug dumpf auf die Holzplatte auf. Es konnte kaum wehgetan haben, trotzdem wachte sie dadurch sofort auf. Ihre Augen öffneten sich weit, und Estrella konnte sehen, dass die Lady alles voll erfasste, und auch sofort erkannte, wo sie sich befand.
Bewundernswert, dachte Estrella für sich. Die ruhigen Augen, die sich sofort auf sie legten, erschütterten sie dennoch wieder bis ins Mark. Etwas war in ihnen, etwas, was sie nicht erklären konnte...
Mit einem Schritt war sie bei der Lady, und riss deren Kopf an den Haaren heftiger zurück, als sie eigentlich wollte. Sie sah kurz den Schmerz in deren Blick aufglimmen, aber der wich sofort wieder dem stolzen Strahlen, dass diesen Augen einfach eigen war.
»Hör zu! Du bekommst nur diese eine Chance! Auf diesem Schiff wirst du barfuss laufen! Keine Drohungen, keine Folter, aber Barfüssigkeit! «
Die Lady griff mit einem leisen Lächeln nach hinten und umfasste sanft Estrellas zitterndes Handgelenk.
»Ich sagte schon, ich werde es nicht tun!« Verzweiflung schlich wieder in Estrella hoch, sie hoffte inbrünstig, dass die Lady es ihr nicht ansah.
Aber sie hatte das Gefühl, als könnte sie ihr bis auf den Grund ihrer Seele blicken.
»Es ist ganz einfach, Tod, Sklavenmarkt, oder Dienerin auf meinem Schiff! IHR dürft wählen!«
Eisig spie sie es der Engländerin in das Gesicht. Die Lady lächelte immer noch, aber Estrella erkannte, dass sie verstanden worden war. Die Lady war also keineswegs dumm oder nur kokett. Sie verstand absolut, in welcher Situation sie sich befand. Tief schauten sich die zwei Frauen stur in die Augen, keine schien einen Zoll nachgeben zu wollen, Estrella hatte das Gefühl zu versinken, aber sie wusste, wenn sie jetzt nachgab, dann würde sie die Frau töten müssen, und das konnte sie nicht. Diesen Kampf musste sie gewinnen.
Die Engländerin lächelte immer noch, als ihre Hand Estrellas Handgelenk losließ. Unendlich langsam löste auch Estrella ihren Griff aus den wirren Haaren der Lady. Mit einem fast zu hastigen Schritt wich sie von ihr zurück, und stieß mit den Beinen an ihre Pritsche. Keinen Moment lang lösten sich die Augenpaare voneinander. Außer ihren Atemzügen war in der Kajüte nichts zu hören.
»Ihr werdet mich wohl töten müssen«, die Lady sagte dies mit solch einer Gelassenheit, dass es Estrella beinahe den Atem verschlug.
Dieser verdammte Stolz! Nein, diese Frau war eindeutig nicht so, wie die anderen Frauen, die sie bisher kennengelernt hatte.
Wild blickte sie sie an.
»Was hat man euch angetan?« Fragend schaute die Lady sie an.
»Du Miststück warst doch dabei!« schleuderte Estrella es ihr entgegen.
»Oh, war ich das?« leicht zornig zog die Lady eine Augenbraue in die Höhe.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst!«
Ihre Augen blickten irritiert. Estrella schoss in die Höhe. Zornig ballte sie die Hände zu Fäusten, ihre Knöchel knackten. Warum hatte sie die Lady vorher nur nicht von Bush bearbeiten lassen. Welcher Teufel hatte sie bloß geritten, dass sie überhaupt nur eine Sekunde lang nachgegeben hatte? Was für ein Fehler!!!! Hochmütig reckte sie ihr Kinn vor.
»Also, du darfst wählen. Wenn dir dein Leben etwas Wert ist, dann gib nach, denn ich werde dich nicht zwingen. Vor versammelter Mannschaft, wirst du dich niederknien, mit n a c k t e n Füßen, und dich vor mir verneigen! Wenn du dies nicht tust, vor Ablauf der Nacht, dann weiß ich, dass du einen anderen Weg gehen wirst.«
Damit verließ Estrella rauchend vor Zorn ihrer Kajüte und knallte die Holztür mit solch einer Kraft wieder zu, dass die Lady erschrocken auf ihrem Stuhl zusammenfuhr.
Nachdenklich blickte die Lady zu einem der winzigen Fenster in der Kajüte. Es war noch tiefste Nacht. Ruhig senkte sie den Kopf. Es war Zeit, sich Gedanken um ihre nahe Zukunft zu machen. Sie lächelte leise vor sich hin. Diese Piratenbraut hatte ordentlich Temperament unter ihrem Hintern. Irgendwie beeindruckte sie das. Natürlich könnte auch sie spielend barfuss rumlaufen, was war denn schon dabei, aber das musste sie diese Corsarin ja nicht wissen lassen. Nachdenklich ließ sie sich zurücksinken.
Auf Deck lief Estrella wie von Furien gehetzt auf und ab. Keiner ihrer Jungs wagte es auch nur, sie anzusprechen. Wenn sie so war, dann ging man ihr möglichst aus dem Weg. Wütend knallte sie mit den Händen auf die Reling.
Was mache ich nur mit ihr? Was verdammt noch mal, mache ich nur mit ihr? Und was ist bloß mit mir los?
Sie warf ihren Kopf weit nach hinten und blickte in die glitzernde und blinkende Sternennacht hinauf. Eine Sternschnuppe löst sich und glitt lange durch die Dunkelheit.
Was mache ich nur mit einer Frau, deren Stolz nicht zu beugen ist?
Ratlos und nur noch mehr verwirrt starrte sie fast blind in die Nacht hinaus. Die restlichen verbliebenen Stunden vergingen äußerst langsam.
Da knarrte die Kajütentür.
Die Corsarin vernahm es selbst durch den Nachtwind, der sich pfeifend in der Takelage fing. Die Segel blähten sich prall und die SILVER STAR machte rasche Fahrt.
Estrella schätzte, dass sie in weniger als vier Tagen die San Luca Bay erreichen würden. Dort wurde ihre Ladung – sechshundert englische Gewehre und zweihundert Fässer Pulver – sehnsüchtig von den Freiheitskämpfern erwartet.
Leise Schritte tappten auf der Treppe zum Oberdeck.
Die Corsarin lehnte an der Heckreling des Hinterdecks – auf der Plattform über dem Oberdeck. Ihr wildes schwarzes Haar umwehte ihr Gesicht wie ein Schleier. Die beiden Positionsfackeln reflektierten in ihren Pupillen und vermittelten den Eindruck, ihre Augen schienen zu glühen.
Lady Helen de Vere hatte das Oberdeck erreicht und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah die Corsarin, eingerahmt in den wundervollsten Sternenhimmel, den sie jemals in ihrem Leben gesehen hatte.
Sie spürte die kühle Nässe, welche die Gischt auf den Planken hinterlassen hatte, unter den bloßen Sohlen. Ja – sie hatte sich selbst erniedrigt und Estrella Avilla de Aragon barfüßig auf dem Oberdeck aufgesucht. Den Rock hatte sie an den Seiten hochgeschürzt. Ihre nackten Beine zeichneten sich weiß in der Nacht ab.
Die Corsarin sah Helen entgegen. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz wie wild zu pochen begann.
‚Mierda! Mierda!’ durchzuckte es sie immer wieder. ‚Was sollte das?’
Ihre Finger umkrampften seitlich ihres Körpers die Reling – genau so wie am Morgen, als sie den Engländer aufbrachte. Mit etwas gespreizten Beinen suchte sie Halt gegen die Windneigung des Schiffes.
Estrella wippte mit den bloßen Zehen, denn in ihrer Wut war sie ohne Stiefel auf das Deck gestürmt. Normalerweise sah man sie nur bei gewagten Entermanövern barfuss. Das verlieh ihr in den Wanten ungeahnte Beweglichkeit. Ihre Sohlen zeigten sich dadurch hart und wenig empfindlich.
Nur dadurch hatte sie damals die Feuertortur überstanden, obwohl sie sich die Seele aus dem Leib geschrieen hatte.
Wieder überkam sie der Gedanke, diese Engländerin stellvertretend für diese geilen Londoner Weiber einfach foltern zu lassen. Doch es gab etwas, was sich in ihrem Innern dagegen sperrte. Nur bei dieser Frau. Bei den anderen Weibern kannte sie keinerlei Skrupel und das machte sie so unsicher.
Lady de Vere schritt auf nackten Füßen auf sie zu, blieb dann dicht vor ihr stehen und sank dann in die Knie. Sie legte den Kopf dicht zwischen die bloßen Füße der Corsarin.
Leise drang ihre Stimme von unten an Estrellas Ohr.
»Ich erniedrige mich nicht, weil ich den Tod oder die Folter fürchte. Trotzdem möchte ich leben.«
Estrellas Magen verkrampfte sich. Sie widerstand dem Gedanken, ihr einen kräftigen Fußtritt zu versetzen.
In einiger Entfernung erkannte die Corsarin die Silhouette ihres Ersten Offiziers. Sam Bush hatte die Szene beobachtet.
»Steh auf und geh zurück in die Kabine. Ich spreche später mit dir«, kam es rau aus dem Mund der Corsarin.
Sie sah Helen nach, als diese das Oberdeck verließ.
Estrella fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Ihr Atem ging stoßweise. Erst allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie schaute zum Himmel auf – zu den Hunderten von Gestirnen.
Oh ihr Götter – helft mir!
Estrella hatte schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie die Glocke geweckt, wenn die Nachtwache die Zeit angab.
Unruhig warf sich die Corsarin auf ihrem Lager von einer Seite auf die andere. Bilder der Vergangenheit tauchten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Endlich öffnete sie die Augen und setzte sich aufrecht. Sie stieß mit dem linken Fuß gegen einen Körper.
Vor dem Diwan, auf dem Boden, lag Helen de Vere. Auf den blanken Holzdielen, zusammengerollt wie ein Baby.
Estrella atmete tief durch. Wie sie die Frau so auf dem Boden liegen sah, überkam sie das Mitleid.
Die Corsarin beugte sich zu ihrer Gefangenen herab und schüttelte sie leicht. Benommen wandte sie den Kopf. Dann wollte sie hochfahren, doch Estrella drückte ihren Oberkörper sanft zurück.
Zu sanft eigentlich. Hätte Bush das gesehen, er hätte an seinem Lady-Captain etwas gezweifelt.
»Leg dich auf den Diwan, bevor du dir das Kreuz verrenkst. Du wirst es noch brauchen«, stieß die Corsarin hervor. Dann stieg sie über die halbliegende herüber und stapfte zu dem kleinen Schrank an der gegenüberliegenden Wand. Sie entkorkte vernehmlich die Rumflasche und spülte sich mit einem ordentlichen Schluck den Mund aus. Es brannte in der Kehle und Estrella fluchte innerlich wie ein Marktweib aus Dover.
Wieso soff sie plötzlich so viel von diesem Zeug. Normalerweise ekelte es sie an. Indessen hatte sich Helen auf dem Diwan zusammengerollt.
»Verfluchte Inglis«, zischte die Corsarin und verließ ihre Kajüte.
Barfuss marschierte sie über die morgendlichen feuchten Planken der SILVER STAR. Sie schaute hinauf zum Fock und dachte daran, wie sie vor zwei Jahren dieses Schiff mit einer altersschwachen Schaluppe gekapert hatte. Der irische Kauffahrer war so verblüfft, dass er keinerlei Gegenwehr einleitete. Gnädig hatte Estrella ihm die Schaluppe überlassen.
Inzwischen hatte sich die SILVER STAR zu einer Legende entwickelt.
Die britische Regierung hatte eine hohe Belohnung auf die Versenkung des Corsaren ausgesetzt. Estrella lachte bei dem Gedanken laut auf. 25ooo Pfund war sie der Admiralität wert.
Sam Bush trat neben seinen Lady-Captain. Aus seiner Pfeife kräuselten sich bläuliche Wolken.
»So guter Dinge? Das freut mich.«
Die Corsarin lehnte sich an die Reling. Sie nahm ihm die Pfeife aus dem Mund. »Lass mich ein paar Züge machen.«
Samuel Bush stellte den einzigen Vertrauten für sie an Bord da. Der etwa sechzigjährige Erste – zäh wie Leder und gutmütig wie ein Walross – hatte ihr das Kämpfen beigebracht. Er kannte Estrella, seit dem sie fünfzehn Jahre alt war. Er wurde auch Augenzeuge, wie die Engländer ihre Eltern ermordeten, nur – weil sie mit den Siedlern der Neuen Welt sympathisierten.
»Ich dachte lediglich darüber nach, was sich die Engländer es sich kosten lassen, nur um uns in London hängen zu sehen.«
Der Alte grunzte. »Hoffen wir, dass wir sie noch lange ärgern können.«
Die Corsarin stieß den Rauch durch die Nase und lachte hart auf.
»Glauben sie mir, Mr. Bush – ich bin der Stachel im Fleisch der verfluchten Inglis!«
Sie reichte dem Ersten die Pfeife zurück und rief ihrem Bootsmann zu:
»Senõr Gorre – holen sie die Gefangenen auf Deck!«
»Si, Capitano«, erwiderte er und stiefelte mit vier Matrosen sogleich los.
Die Corsarin selbst kehrte in ihre Kajüte zurück. Helen hatte die Augen geöffnet und blickte Estrella entgegen.
Diese atmete tief durch und sagte hart: »Steh auf, Inglis! An Deck mit dir! Beweg deinen Arsch!«
Als Helen eben durch die Tür ins Freie treten wollte, rief die Corsarin:
»Kannst du schwimmen?«
Leicht erstaunt wandte sich die Gefangene um und nickte.
»Gut«, kam es von der Corsarin. »Geh aufs Oberdeck und warte dort.«
Sie selbst zog ihre Stiefel an und schnallte ihren Degen um die Hüften. Mit den Händen fuhr sie sich durch das wilde Haar. Dann enterte sie das Deck.
Dort knieten bereits die aus dem Bugverlies geholten Gefangenen.
Ein penetranter Gestank zog sich über das Deck. Dann sah die Corsarin es und brach in höhnisches Gelächter aus. Dabei trat sie dem am nächsten knienden Engländer in die Seite.
»Das lob ich mir. Bepisst und beschissen habt ihr feinen Herrn euch!«
Dann wandte sie sich den beiden Frauen zu. Nun erst konnte sie sich ihre weibliche Beute genauer ansehen. Eine der Frauen mochte gerade zwanzig Jahre alt sein, die andere schon nahe der siebzig.
Beide wirkten sehr mitgenommen und schauten ängstlich drein.
Estrella beugte sich zu der älteren Frau herab und zischte: »Hast du auch die Schlüpfer voll?«
Die Gefangene schluckte und flüsterte dann:
»Nein, Mylady – aber ... bitte ... ich ... wir ...«
Die Corsarin runzelte gespielt die Stirn, obwohl sie genau wusste, worum es ging. »Ihr müsstet was?«
»Ich kann nicht mehr!« stieß da die jüngere hervor und schon tropfte es auf die Planken der SILVER STAR.
Sogleich versetzte die Corsarin ihr einen Tritt, dass sie mehrere Meter über das Deck rutschte.
»Du verfluchtes Ferkel! Das wirst du auflecken!«
»Lasst sie!«
Estrella wirbelte herum. Helen stand auf der Treppe zum Oberdeck und schrie herunter. »Ihr seid eine Sadistin! Sollen ihre Blasen platzen? Was denkt ihr euch?«
Die Corsarin wurde bleich vor Wut. Sie machte einen Satz auf die Treppe zu, riss Helen die Stufen herab und stieß sie auf die Planken. Schwer schlug sie auf. Ein feiner Blutfaden rann aus ihrem rechten Mundwinkel. Tränen des Schmerzes verklärten ihre Augen.
Die Corsarin beugte sich zu ihr herab und brachte ihr Gesicht ganz nahe an das der Engländerin. »Hör zu!« fauchte sie. »Noch ein Wort und du hängst mit deinen Brüsten an der obersten Rahe.«
Helen wischte sich über den Mund. Das Blut verschmierte und gab ihr ein groteskes Aussehen. »Tut es doch«, flüsterte sie. »Ihr verdammte Sadistin! Ihr scheint ja Freude an der Folter zu haben. Peitscht mich oder zieht mir die Haut ab – was immer euch einen Orgasmus bereitet. Aber bitte ... lasst diese Frauen nicht leiden, wenn nur ein winziger Funken Menschlichkeit in euch sein sollte...«
Estrella blickte die am Boden liegende an, als wollte sie diese mit bloßen Händen erwürgen. Ihr Atem ging stoßweise.
Verdammte Inglis-Hure – durchzuckte es ihr Gehirn.
Wie gebannt starrte die gesamte Mannschaft auf ihren Lady-Captain. Selbst der Wind schien eine Schweigeminute eingelegt zu haben.
Dann – unendlich langsam – richtete sich Estrella auf. Sie spuckte seitlich über die Luvreling.
»Geh aufs Oberdeck – wie ich es dir befahl«, kam es leise, aber gefährlich. Dann wandte sie sich abrupt ab und starrte auf die anderen Gefangenen.
»Mister Bush«, kam es rau aus ihrem Mund. »Diese Menschen sollen sich säubern und ... erleichtern. Sorgt dafür, dass sie im Meer ein Bad nehmen können. Aber achtet auf Haie. Es wimmelt hier davon. Zwei Mann mit Musketen in die Wanten.«
»Ay, ay, Captain!” gab der Erste zurück. »Los! Runter mit den bepissten Klamotten!« herrschte er die Gefangenen an. »Werft das Zeug über Bord!«
Über eine Strickleiter kletterten die Engländer nackt in das Wasser.
»Hauptsegel einholen!« gellte das Kommando der Corsarin über das Schiff.
Nun erst erklomm sie die Treppe zum Oberdeck, wo Helen auf sie wartete.
Da geschah etwas, womit Estrella in keinster Weise gerechnet hatte.
Die Engländerin warf sich vor ihr zu Boden und küsste der Corsarin die Stiefelspitzen.
Estrella stand wie in Eisen gegossen. Ihre Gedanken wirbelten.
»Danke«, hauchte Helen von unten.
»Verflucht! Steh auf ! Meine Nachsicht hat absolut nichts mit dir zu tun. Steh auf oder ich lasse dich auspeitschen, bis dein Blut die Planken tränkt!«
Die Corsarin stampfte mit dem Stiefel so fest auf, dass es nur so krachte.
Mierda! Was macht dieses Weib?
Estrella wusste, dass sie keine ihrer blutrünstigen Drohungen ausführen würde.
Sie wandte sich um und ließ den Blick irritiert über das Deck der SILVER STAR gleiten. Die anderen Gefangenen kletterten soeben wieder an Bord.
Estrella trat nahe an das Geländer des Oberdecks. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor. Die Gelenke knackten.
Ein Zeichen der sich in ihr überschlagenden Gefühle.
»Sorgt dafür, dass die Frauen sich um die Hüften herum bedecken können! Die Männer bleiben nackt!« rief sie nach unten. Dann drehte sie sich wieder zu Helen um. Sie deutete auf eine lange Strickleiter, die vor dem Heckgeländer lag.
»Wirf sie hinunter und zieh dich aus.«
Helen schaute etwas entgeistert.
»Mach schon!« knirschte Estrella durch die Zähne und warf ihren Degen ab.
Dann kleidete sie sich aus.
»Ab ins Wasser – ich komme mit. Aber halte dich in meiner Nähe – wegen der Haie!«
Die Sonne neigte sich bereits blutrot zum Horizont, als der Ruf aus dem Ausguck alle aufschauen ließ.
»Schiff von S t e u e r b o r d !«
Sofort rannte Estrella zum Bootsmann und riss ihm das Fernrohr aus der Hand. Nur undeutlich konnte sie das immer wieder in den Wellentälern verschwindende Schiff ausmachen.
»Kann man Flagge erkennen?« schrie sie zum Ausguck.
»Noch nicht, Capitano!«
»Sofort Meldung machen!« Sie wandte sich um. »Mister Bush! Die Gefangenen sofort unter Deck und in Ketten!«
»Ay, ay, Lady Captain!«
Die Männer, die völlig nackt in einer Ecke bei den Enterseilen gehockt hatten, wurden hart hochgerissen. Die beiden Frauen schauten ängstlich von ihren Eimern auf. Aus Segeltuch hatten sie sich notdürftig einen Rock gemacht. Bis zum Bauchnabel blieben ihre Oberkörper nackt. Barfuss schrubbten sie auf den Knien das Deck.
»Die Frauen legt nur in Fußeisen, aber weit ab von den Männern«, bestimmte die Corsarin. Dann warf sie einen Blick zu ihrer Kajüte. Helen ließ sich nicht blicken. Estrella beschloss, nach dem Rechten zu sehen.
»Sofort Meldung, wenn Schiff näher kommt!« befahl sie, dann eilte sie zur Kajüte.
Das erste, was Estrella registrierte, war der Duft nach gutem Essen.
Wie versteinert blieb sie stehen. An dem einfachen Herd hantierte – seit dem Bad nackt – Lady Helen de Vere.
Die Corsarin hatte eine harte Bemerkung auf der Zunge, doch dann besann sie sich. Helen meinte es nur gut. Langsam trat Estrella näher und schaute in den Topf.
»Wie hast du denn d a s fertiggebracht?« kam es erstaunt aus ihrem Mund.
Helen lächelte. »Ich bin als gute Köchin bekannt«, kam es leise zurück. »Aber du hältst mich ja für eine arrogante englische Gans.«
Estrellas Blick verfinsterte sich für einen Moment. Doch dann reckte das energische Kinn vor.
»Komm hier herüber!«
Wortlos folgte ihre Gefangene. Die Corsarin riss eine der zahlreichen Truhen auf und wühlte darin. Endlich hatte sie etwas gefunden, was sie zufrieden stellte. Ein einfaches, aber doch hübsch gearbeitetes andalusisches Kleid. Sie warf es Helen zu. »Hier! Zieh das an! Ich will nicht, dass du nackt herumläufst.«
Helen wollte etwas erwidern, aber mit einer kurzen Handbewegung schnitt die Corsarin ihr das Wort ab. »Ich bin gleich zurück.«
Mit diesen Worten verließ sie die Kajüte. Doch nur eine Sekunde später riss sie die Tür wieder auf. »Falls du dich an Deck blicken lässt, schlage ich dir den Kopf ab!«
Wumm!! Die Tür knallte zu.
Sam Bush stand an der Steuerbordseite und starrte durch sein Fernrohr.
»Das Schiff hat abgedreht«, bemerkte er, ohne sich zu der Corsarin umzuwenden.
Estrella atmete durch. Naja – eigentlich war es ihr ganz recht. Sie wollte nicht unbedingt ihre brisante Ladung gefährden. Erst hatte sie diese den Engländern abgenommen und nun sah sie keinen Grund, sie durch mögliche Entermanöver wieder zu verlieren.
»Bueno! Aber geben sie weiter Obacht, Mr. Bush.«
»All right, Lady.«
Die Corsarin kehrte in die Kajüte zurück. Helen stand neben dem Tisch. Ein Gedeck hatte sie aufgelegt.
Estrella runzelte die Stirn. »Was soll das? Leg ein zweites Gedeck auf und iss mit mir.«
Helen lächelte. Dann folgte sie der Anweisung.
»Das ist gut. Wirklich ... ausgezeichnet«, äußerte die Corsarin nach den ersten Bissen. Wieso kannst du so gut kochen?«
Helen zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht so behütet aufgewachsen, wie du vielleicht denken magst. Die meiste Zeit musste ich mich selbst durchschlagen.«
Estrella sah sie lange an. Dann lehnte sie sich langsam in dem alten Lehnstuhl, den sie mal erbeutet hatte, zurück und fragte:
»Wer sind die anderen beiden Frauen?«
»Ich habe sie erst auf dem Schiff kennen gelernt. Die ältere ist Lady Joan Ferguson, die jüngere Lady Gwendolyn Anbross. Lady Ferguson ist ihre Gouvernante.«
Estrella kniff die Augen zusammen. »Und wo wollten die ...Ladies hin?«
Helen stützte das Kinn in die Hände. »Nach Guatemala. So wie ich auch.«
»Interessant! Was beabsichtigtet ihr dort zu tun?«
»Ich für meinen Teil wollte meinen Onkel besuchen. Don Louis de Varga.«
Die Augenbrauen der Corsarin ruckten nach oben. »Ein Spanier?«
»Portugiese. Meine Mutter ist Portugiesin.«
Estrella stand abrupt von ihrem Stuhl auf und machte zwei rasche große Schritte auf den kleinen Schrank zu. Sie entnahm ihm ein Rumflasche und entkorkte sie mit vernehmlichem Geräusch. Sie nahm einen solchen Schluck, dass ein Teil des Rums an ihrem Kinn und Hals herunterlief.
Dann setzte sie die Flasche ab und blickte Helen fest an. Auf ihrer Stirn entstand eine steile Falte. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie der Lady die Flasche hin und grunzte: »Hier! Nimm!«
Helen schüttelte den Kopf.
»Nimm!« Estrella stampfte heftig mit dem Fuß auf.
Helen sah es für geboten an, doch die Flasche zu nehmen und einen kleinen Schluck zu trinken. Sie verzog das Gesicht. Es brannte wie Feuer in ihrer Kehle.
Die Corsarin lachte rau. »Meine kleine Lady ist gar keine reinrassige Inglis. Wer hätte das gedacht..?«
Sie entriss ihr die Flasche und kippte den Rest des Inhalts durch die Kehle. Hart stellte sie die nun leere Flasche auf den Tisch. »Was ist mit den anderen? Auch halbe Portugiesen?«
Helen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Die Gouvernante bestimmt nicht.«
Die Corsarin stellte ihren rechten Fuß fest auf Helens Oberschenkel und stützte den Ellenbogen aufs Knie. Das Kinn ruhte nun in der einen Handfläche. Ihr Gesicht befand sich ganz dicht vor dem der Lady.
»Das ist gut«, kam es leise und zischend. »Dann habe ich gleich eine Aufgabe für dich.«
Da Lady Helen de Vere die Corsarin nun fragend anschaute, fuhr diese fort: »Du darfst der Gouvernante nämlich die Bastonade verpassen. Sagen wir – fünfzig auf ihre nackten verrunzelten Sohlen.«
Die Angesprochene zuckte zusammen. »Nein!« stieß sie hervor. »Das kann ich nicht!«
Estrella nahm ihren Fuß von Helens Oberschenkel und zuckte die Achseln. »Schade – dann bekommt sie von mir hundert Hiebe.«
Helen sprang auf. »Ihr seid eine Sadistin! Ihr liebt es Menschen zu quälen!«
Die Hände der Corsarin zuckten nach vorn und rissen Helen an den Kragenrüschen des Kleides zu sich heran. »Hör zu, du kleine Halbinglis – das ist n i c h t s gegenüber dem, was man mir in London am Pranger angetan hat.«
Sie schleuderte es ihrer Gefangenen ins Gesicht.
Helen war bleich geworden. Estrella stieß sie auf den Stuhl zurück. Ihr Busen wogte bei jedem Atemzug. Man spürte die Aufgewühltheit der Corsarin mit jeder Nervenfaser.
Helen schluckte und fragte leise: »Was hat man euch angetan? Oh Gott – ich ahne es. Ich habe die Narben auf eurem Rücken beim Schwimmen gesehen.«
Estrella stützte sich schwer auf die Tischplatte. »Die Peitsche ist bei Leibe nicht das Schlimmste gewesen.«
Dann stieß sie sich vom Tisch ab und verließ wie von Furien gehetzt die Kajüte.
Schwere See kündigte den nächsten Morgen an.
Estrella Avilla de Aragon stand auf dem Oberdeck. Der scharfe Wind ließ ihr Haar wie eine pechschwarze Pferdemähne wehen. Die Rüschen ihres weißen Hemdes, das die Brustansätze frei ließ, kräuselten sich noch stärker. Tief sank der Bug der SILVER STAR immer wieder in die Wellentäler ein. Der Himmel zeigte ein bedrohliches Grau.
Sam Bush hangelte sich die Treppe zum Deck hinauf und klammerte sich an die Reling.
»Es wird ein lustiges Wetter!« schrie er gegen den Wind an.
Die Corsarin lachte hart auf. »Sind wir das nicht gewöhnt, alter Freund? Soll der Satan doch tanzen!«
Bush grinste. Diese Frau kann nichts erschüttern, durchzuckte es ihn. Laut erwiderte er gegen das Getöse aus Wind und See: »Aber unsere unfreiwilligen Passagiere im Bug werden kotzen.«
Estrellas Finger krampften sich um das Teakholz des Geländers. »Sollen sie sich die Seele aus dem Leib holen.«
Bush schüttelte den Kopf. »Besser sie kotzen auf Deck. Da kann man es besser wegspülen.«
Die Corsarin verzog das Gesicht. Dann rief sie: »Bringt sie herauf und kettet sie irgendwo fest.«
»Ay, ay – Lady Captain«. Bush tippte an seinen dreieckigen Hut.
Wenig später lagen die Gefangenen an der Luvseite, mit einer dicken Kette verbunden. Den Seefahrern machte der Sturm nichts aus, aber die Frauen erbrachen sich mehrmals.
Die Corsarin wandte angewidert den Kopf ab. Sie befahl, mehrere Eimer Wasser über die Gefangenen zu gießen.
Bald setzte zusätzlich noch ergiebiger Regen ein. Estrella rannte die Holzstufen herab und rief ihrem ersten Offizier den Befehl zu: »Mr. Bush – lassen sie halbe Leinwand setzen! Schicken sie zwei Mann in den Ausguck! Ich möchte nicht von einer dreimal verfluchten englischen Fregatte überrascht werden! Morgen sind wir an unserem Ziel!«
Der Erste machte das Zeichen des Verstehens.
Die Tür zur Kajüte wurde Estrella beinahe aus der Hand gerissen. Eine Böe trieb Regen in den Raum. Estrella schüttelte sich, sodass das Wasser nur so aus dem Haar stob. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
Auf dem Boden – vor dem Diwan – lag stöhnend Helen.
Der Corsarin lag eine zynische Bemerkung auf der Zunge, doch dann unterdrückte sie diese und machte zwei Schritte auf die Liegende zu. Sie sank in die Hocke und hob sanft Helens Kopf hoch. Aus einem leichenblassen Gesicht blickten zwei matte Augen zu ihr auf.
»Bei Poseidon«, fluchte Estrella. »Auch das noch! Das Püppchen ist seekrank.«
Helen versuchte sich mit aller Kraft aufzurichten, doch es blieb ein vergebliches Unterfangen.
Estrella schloss für einen Moment die Augen, ehe sie flüsterte: »Keine Panik. Tief durchatmen. Es geht vorbei.«
Mit ungeahnten Kräften hob die Corsarin Helen de Vere auf die Arme und legte sie auf den Diwan. »Aber kotz mir nicht die Bude voll«, knurrte sie.
Dann wandte sie sich um. Mit der linken Hand fuhr sie sich durch das noch vom Regen und Gischt feuchte Gesicht. Die SILVER STAR sackte in ein Wellental. Helen stöhnte laut auf, erbrach sich aber nicht.
Die Corsarin sprang auf und riss die Kajütentür auf. Sofort fegte der Sturm herein.
»Mr. Bush!« schrie sie durch das Heulen in der Takelage.
Der Erste hangelte sich zur Kapitänskajüte.
»Lady Captain..?«
»Sam – sie kannten doch immer ein altes Hausmittel gegen Seekrankheit. Sie haben mich damals damit für alle Zeiten kuriert.«
Trotz des Unwetters umspielte plötzlich ein Lächeln die Lippen des alten Seebären. »Für die Lady?« meinte er. »Ihr seid sehr fürsorglich.«
Auf der Stirn der Corsarin entstand eine steile Falte. »Bin ich das?«
Das Regenwasser lief ihr über Augen und Wangen.
Der Alte berührte sanft ihre Schulter. »Vor mir braucht ihr nichts zu verbergen. Ich komme gleich zurück.«
Was Bush wenig später mit Helen de Vere auf Deck veranstaltete, konnte man nur als wahre Rosskur bezeichnen. Nachdem er ihr einen Liter eines Gebräus aus Fischlake und Salzwasser eingeflößt hatte, drehte sich der Magen der Lady so um, dass man schon befürchten musste, ihre gesamten Innereien würden sich nach außen stülpen.
Eine halbe Stunde später lag Helen auf dem Diwan und konnte sich vor Schwäche absolut nicht mehr bewegen. Bush flößte der Wehrlosen nun zwei mächtige Gläser Rum ein. Helen wollte sich erneut übergeben, aber dann schloss sie die Augen und fiel in einen Coma ähnlichen Schlaf.
Der Alte richtete sich auf. »All right – da passiert nichts mehr. In etwa fünf Stunden wird sie aufwachen und keine Seekrankheit mehr kennen.«
Estrella lacht. Sie wusste aus Erfahrung, dass diese Gewaltkur tatsächlich Wirkung zeigte. Sie band Helen auf dem Diwan fest, damit sie nicht bei der gewaltigen Schräglage des Schiffes auf den Boden rollte.
Da wurde die Tür zur Kapitänskajüte aufgerissen. »Wrack voraus!«
Atemlos sah die Mannschaft mit an, wie die Corsarin sich zu dem immer stärker kränkenden Schiff hinüber hangelte.
Fünf starke Trossen verbanden die SILVER STAR mit dem Wrack der spanischen Galeone. Sam Bush stieß mit dem Fuß an die derben Stiefel, die Estrella achtlos auf das Deck geworfen hatte, bevor sie zum Wrack überwechselte.
»Teufelsweib!« zischte er und spie den Priem aus.
Estrella schwang sich nun über die Reling. Immer wieder schlugen die aufgebrachten Wogen über Deck. Die Tür zur Kapitänskajüte des Wracks schwang knarrend hin und her. Mühsam schaffte es die Corsarin, die Kajüte zu entern. Hier sah es aus, als habe eine Kanonenkugel eingeschlagen. Die Fenster waren von den Wogen zersplittert worden und immer wieder schlug das Wasser mit Macht ein. Das Schiff knirschte und ächzte.
Estrella wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb.
Hastig suchte sie nach dem Logbuch. Sie entdeckte es nass und zerfleddert unter dem halb zerbrochenen Kartentisch.
Rasch versuchte sie es zu sichten und fand bald, was sie sich erhoffte.
»Na also, liebe Spanier. Genau was ich brauche!«
Sie rannte an Deck zurück und schrie durch das Tosen von Wind und Wellen:
»Mr. Bush! Das Schiff hat jede Menge Gold in seinem Bauch!«
»Deibel!« zischte der Erste und laut rief er zurück: »Da werden wir kaum noch dran kommen!«
»Doch! Vier Mann herüber! Wir haben zehn Minuten!«
Bush verschluckte sich beinahe an seinem Priem. Doch dann kam Leben in ihn.
»Jack, Renné, Salvatore und Georg! Rüber da!«
Als einer der angesprochenen nicht gleich spurte, schnauzte der Erste: »Beweg deinen Arsch oder der Lady-Captain wird ihn dir nackt gerben!«
Das wirkte.
In kürzester Zeit hatten die Vier das Kunststück vollbracht, auf das Wrack umzusteigen. Immer bedenklicher wankte es in den haushohen Wellen.
Die Corsarin war bereits unter Deck verschwunden.
Mittels eines Korbes, mit dem man eine Art Seilbahn baute, wurden Goldbarren auf die Silver Star transportiert.
Doch gerade schwenkte der fünfte Korb herüber, da baute sich in einer Entfernung von etwa hundert Schiffslängen eine an Höhe nicht übersehbare Wasserwand auf.
Eine sogenannte Death-Wave.
»Teufel und Generäle«, entfuhr es Bush.
Er beugte sich weit über die Reling und schrie, so laut er konnte: »Alles rüber zur Silver Star. Tempo, Tempo!«
Die Corsarin steckte gerade den Kopf aus der Ladeluke des Wracks.
»Was ist ...«
Bush zeigte nur nach Osten.
Selbst auf diese Entfernung war erkennbar, dass der Corsarin alles Blut aus dem Gesicht wich.
Hektisch wandte sie den Kopf wieder zu Bush. »Alle Segel setzen und Trossen kappen!«
»Kommt erst rüber! Rasch!!«
»Führen sie meine Befehl aus, Bush!« donnerte die Corsarin zurück. Selbst durch den heulenden Sturm bekam der Erste beim Klang dieser Stimme eine Gänsehaut.
Er wandte sich um und schrie seine Befehle über das Deck.
Zwei Leute begannen die Trossen mit ihren mächtigen Haumessern zu durchtrennen. Bush wusste genau, weshalb Estrella diesen Befehl gegeben hatte. Würde die Todeswelle über den zusammengekoppelten Schiffen zusammenschlagen, würde von der SILVER STAR kaum mehr als ein paar Planken übrig bleiben.
Konnte sie sich frei schwimmen, gab es eine winzige Chance.
Wie eine Mauer rollte die Wasserwand auf die Schiffe zu.
Drüben – auf dem Wrack – schrie Estrella Befehle.
Die vier Männer machten sich daran, sich zur SILVER STAR herüber zu hangeln. Dem ersten gelang es noch relativ gut, doch als sich der zweite an die Vordertrosse hängte, wurde diese gekappt. Mit einem Aufschrei – den der Sturm verwehte – stürzte er ins Wasser. Die anderen beiden enterten über die Hecktrosse das Corsarenschiff und schafften es gerade, bevor auch diese Trosse gekappt war.
Mit bleichem Gesicht blickte Bush zu dem Wrack, das jetzt sogleich mächtig rollte.
»Estrella! Los!« schrie der alte Sam Bush verzweifelt. Die Angst um diese Frau stand ihm förmlich auf der Stirn und sein Herz fühlte sich an, als würde es in einer Zwinge stecken.
Er wusste – der Corsarin blieb höchsten noch eine Minute, dann musste die SILVER STAR mit vollen Segeln abdrehen.
Estrella stieg auf die teilweise zerschmetterte Heckreling des Spaniers. Sie hatte ein langes, lose schwingendes Seil aus der Takelage fest umgriffen. Bush wusste, dass die Corsarin eine Meisterin in dieser Seilschwingtechnik war. Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt abpassen, um eine Punktlandung auf dem hinteren Oberdeck – über der Kapitänskajüte – der SILVER STAR zu landen.
Bush presste die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Seine Augen hingen wie hypnotisiert an der Todeswoge. Jeden Augenblick musste sie über den beiden Schiffen zusammenbrechen und dann ...
Da!
Estrella ging leicht in die Hocke, um sich abzustoßen. In diesem Moment schwankte das Wrack um beinahe neunzig Grad. Etwas löste sich aus der zerfetzten Takelage und traf die Corsarin noch während ihres Absprungs am Kopf.
Ein Schrei bahnte sich seinen Weg über das Deck der SILVER STAR. Doch er stammte nicht von Sam Bush.
Jemand stieß ihn derb zur Seite und dann flog ein Schatten an ihm vorbei – auf die scheinbar höhnisch grinsenden Wogen zu.
Estrella erwachte.
Sie versuchte, sich auf ihrem Lager aufzurichten. Doch mit einem Stöhnen sank sie zurück. Ein Mühlrad schien in ihrem Kopf in andauernder Bewegung zu sein. Alles drehte sich. Dazu war ihr speiübel.
Dann spürte sie etwas Kühles auf ihrer Stirn. Es tat gut – egal, wo es auch herkam.
Die Benommenheit schwand langsam. Der Ton der Glocke drang an Estrellas Ohr.
Acht Glasen!
Blinzelnd öffneten sich ihre Augen. Sie erkannte nur Schatten. Allmählich gewann das Bild an Schärfe.
»Helen...« murmelte sie, als sie erkannte, wer sich da über sie beugte.
»Ruhig«, mahnte die Engländerin und legte der Corsarin einen frisch mit kühlem Wasser getränkten Lappen auf die Stirn. Dann begann sie Estrellas Schläfen sanft zu massieren.
Die Corsarin schloss wieder die Augen. Sie gab sich dem Geschehen hin. Ihr Körper entspannte sich zusehends.
Helen de Vere wechselte erneut den Lappen, dann trat sie an das andere Ende des Diwans und zog die wertvoll bestickte Decke zur Seite. Sie hockte sich auf die weiche Liege und massierte nun langsam, aber intensiv Estrellas Fußsohlen.
Die Corsarin streckte sich wohlig.
Helen massierte sanft von den Fersen bis zu den Zehen. Erst den rechten, dann den linken Fuß. Helen musste zugestehen, dass die Corsarin ziemlich gepflegte Füße besaß, wenn sich auch die Sohlen sehr hart anfühlten.
Helen hob nun die Füße der Corsarin etwas an, beugte sich vor und küsste ihre großen Zehen.
Sie spürte, wie Estrella sich versteifte.
Helen blickte hoch und sah, dass Estrella sich aufgerichtet hatte.
Ihr Gesicht spiegelte mannigfaltige Gefühle wider. Erst absolute Verblüffung, dann überzog leichte Röte die blasse Haut, dann wechselte der Ausdruck in Unwillen.
Die Corsarin zog ihre Füße unter die Decke.
»Bleib ruhig liegen«, gebot Helen mit leiser, aber energischer Stimme. »Ich bringe dir eine kräftigende Brühe.«
Die Corsarin schaute mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Blick, der jetzt völlige Entgeisterung aufwies, der Engländerin nach, wie sie zum Herd ging.
Helen trug jetzt ein einfaches, aus Tuch gefertigtes braunes Kleid. Ihre nackten Füße verursachten kein Geräusch auf den scheinbar frisch polierten Planken der Kapitänskajüte.
Wenig später kehrte sie mit einem Becher Fleischbrühe zurück. »Hier – nimm das. Das beruhigt den Magen und stärkt die Reserven des Körpers.«
Die Corsarin starrte Helen an, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Mechanisch ergriff sie den Becher.
Sie nahm zwei Schlucke, dann sank ihr Kopf in das Kissen zurück.
»Was ... ist ... passiert ...?«
Helen legte ihr leicht den Zeigefinger auf die Lippen. »Ruh dich noch aus. Du hast ganz schön was abbekommen.«
»Abbekom...«
Doch dann übermannte sie die Schwäche wieder.
Die Corsarin stand auf dem Oberdeck und starrte über das Heck in die Ferne. Ruhig zog die SILVER STAR dahin. Leichte Cumuluswolken zierten stellenweise den sonst stahlblauen Himmel.
Estrella betastete mit einer Hand vorsichtig ihren Hinterkopf. Man spürte die Beule immer noch.
»Hat verdammt viel Mut – dieses Mädel«, ertönte eine raue, wenn auch leise Stimme hinter Estrella.
Sie fuhr herum. Dabei verzog sie das Gesicht, denn rasche Bewegungen hatten ein furchtbares Hämmern in ihrem Kopf zur Folge.
Sie schluckte und sah Sam Bush unsicher an.
»Sag mir endlich, was passiert ist!«
Der Erste zuckte die Achseln. »Du wolltest gerade vom Wrack springen, da traf dich eine Seilrolle aus der Takelage des Spaniers. Gleichzeitig rollte die Todeswelle auf dich zu. Du sacktest ab wie ein Stein. Wir konnten nichts tun, denn es galt die SILVER STAR zu retten.«
Die Corsarin lehnte sich mit dem Rücken an die Reling. Ihr schwarzes Haar wehte wie ein Mähne um ihren Kopf und der aufböende Wind ließ die kleinen Metallplättchen an ihrer Degenscheide klirren. Es hörte sich an, wie eine ferne Melodie.
»Und?« kam es kurz.
Der Alte schob seine Pfeife in den anderen Mundwinkel. »Tja – dann ist das Mädel todesmutig in den schier kochenden Ozean gesprungen, hat dich am Schopf gepackt und dich zum Schiff gezogen. Mit einem Seil haben wir euch dann beide an Bord gehievt.«
Die Corsarin senkte den Blick auf die Deckplanken. Sie knetete nervös und unkontrolliert ihre Finger.
»Helen hat dir das Leben gerettet. Ohne Rücksicht auf ihr eigenes«, brummte Bush.
Estrella wandte sich um und trommelte aufgewühlt mit den Fingern auf dem gedrechselten Relinggeländer. Endlich wirbelte sie herum und schrie: »Weshalb?«
Sie packte Bush am Kragen seines Rüschenhemdes und schrie erneut: »Weshalb tat sie das?! Was geht sie mein lausiges Leben an?«
Dann sackte sie in die Knie und es passierte etwas, was Bush bei dieser Frau – die ihre Gefühle und Regungen immer tief in ihrem Innersten verschloss – noch nie gesehen hatte.
Estrella weinte.
Die SILVER STAR rollte in der Dünung.
San Luca Bay kam in Sicht. Sam Bush stellte sich neben Estrella an die Reling. »Wir sind in drei Stunden da.«
Die Corsarin nickte nur stumm.
Der alte Bush steckte sich seine Pfeife neu an und knurrte zwischen zwei mächtigen Rauchwolken: »Du weißt nicht, was du tun sollst – hm ?«
Estrella wandte unwirsch den Kopf. »Was meinst du?« Wie immer, wenn sie allein waren, sprachen sie sich mit Du an.
Der erste Offizier lehnte sich nun seitlich neben seinen Lady-Captain an das Geländer und brummte: »Nun – in San Luca willst du die Engländer auf dem Sklavenmarkt an die Minenbesitzer verkaufen. Aber du bist dir nicht sicher, ob du Helen de Vere auch verkaufen sollst.«
Estrella spuckte aus. »Quatsch! Was soll ich sonst mit diesem Weib machen? Außerdem – was geht’s dich an?!«
Aufgebracht machte sie ein paar lange Schritte über Deck. Dann baute sie sich vor Bush auf und funkelte ihn zornig an.
»Haben sie nichts zu tun – Mr. Bush?«
Der Erste nickte nur, paffte ein paar Rauchwolken und drehte sich dann auf dem Stiefelabsatz um. Estrellas Augen hatten ihm genug verraten. Er ahnte, welche Gefühlswogen in ihr tobten.
Die Corsarin wischte sich über die Augen. Stunden hatte sie hier oben zugebracht. Jetzt stieg sie die Treppe hinunter zum Hauptdeck. Sie winkte den Bootsmann herbei. »Wie sieht es mit unseren Gefangenen aus?«
»Sie befinden sich immer noch unter Deck in Ketten, Captain. Wie befohlen.«
»Bringt sie an Deck. Sie sollen sich säubern. Dann will ich sie sehen.«
»Ay, ay Captain.«
Estrella enterte die Kajüte. Helen lag auf den Knien und wischte den Boden.
Die Corsarin stellte sich genau vor sie. Helen blickte auf.
Stumm starrte Estrella auf die Kniende. Dann versetzte sie ihr einen Tritt vor die rechte Schulter. Helen flog durch die Kajüte und schlug schmerzhaft mit dem Kopf vor einen Stuhl.
»Wieso hast du mir das Leben gerettet?!« fauchte die Corsarin. »Weshalb? Mein Leben ist mein Leben! Mein Leben ist mein Schicksal! Du hättest mich absaufen lassen sollen!«
Helen rappelte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. »Nein«, kam es dann ruhig aus ihrem Mund.
Die Corsarin machte vier Schritte, bückte sich und riss die Engländerin an ihrem Kleid hoch. Der Stoff riss ob dieser Gewalt und legte Helens Brüste frei.
»Nein? Warum n e i n ?« sie flüsterte es nur, aber um so gefährlicher klang ihre Stimme. Jeder plötzliche Beobachter hätte den Eindruck gewonnen, dass Estrella kurz vor einem Mord stand.
Helen atmete tief durch. Dann erklärte sie mit fester Stimme: »Man wirft sein Leben nicht weg. Das ist gegen Gott.«
Mit einem Aufschrei stieß die Corsarin Helen von sich. »Gott?!«
Sie hob die Arme zum Himmel. »Gott?« schrie sie. »Wo war Gott, als meine Eltern umgebracht wurden?! Wo war Gott, als ich gefoltert wurde?!«
Helen kam schwankend auf die Füße. »Man hat euch befreit. Also sandte Gott Rettung.«
Estrella stützte sich fest auf die schwere eichene Tischplatte vor sich.
»Pfaffengequatsche!«
Helen trat nun ganz nahe an Estrella heran. »Denkt was ihr wollt. Ihr könnt mich auch dafür bestrafen, dass ich euch rettete. Ich hätte mich über euren Tod freuen können. Eine Sadistin weniger auf dieser verfluchten Welt. Aber ich sah, wie ihr untergingt und da ...« Sie wandte sich ab.
Einige Sekunden vernahm man in der Kajüte nur das Rauschen der Wogen und dumpf, beinahe verweht, die Befehle, die Bush über das Deck rief.
»Was da?« kam es plötzlich leise direkt hinter Helen.
Die Engländerin drehte sich um. Sie berührte beinahe das Gesicht der Corsarin.
»Ich konnte nicht anders. Ich musste euch helfen.«
»Warum – verdammte Inglis?« zischte Estrella nun.
Helen machte zwei Schritte zurück und fuchtelte wild mit den Armen. »Schon gut! Schon gut! Sollte sich der Fall wiederholen werde ich euch ersaufen lassen! Wenn es eurem Ego nützt – bitte sehr? Es scheint ihr seid zu dumm, bestimmte Dinge zu begreifen!«
Damit rannte sie an Estrella vorbei und riss die Kajütentür auf.
Die Corsarin wirbelte herum und riss Helen am Arm zurück. »Halt! Wer hat dir erlaubt, die Kajüte zu verlassen?«
Helen schüttelte die Hand ab. »Mir hat niemand etwas zu erlauben! Schon gar nicht ein hergelaufenes dummes Weib, das sich für die Retterin der Welt hält. Ich brauche frische Luft. Später könnt ihr mich ja dann auspeitschen oder auf ein Rad flechten – oder was auch immer eurem, im Stolz verletzten, Gehirn einfällt!«
Krachend fiel die Tür ins Schloss.
Die Corsarin stand da, als habe sie ein Gespenst gesehen.
Als die SILVER STAR in die Hafenbucht einlief, hatte sich die Corsarin wieder unter Kontrolle. Helen stand auf dem Oberdeck. Estrella würdigte sie keines Blickes.
»Mr. Bush – sind die Gefangenen in einem annehmbaren Zustand?«
»Ay, ay – Lady Captain. Sie sind verkaufsmäßig hergerichtet.«
Die Corsarin nickte befriedigt. »Gut! Die Männer kommen auf den Minenmarkt.«
Der Erste runzelte die Stirn. »Was ist mit den Frauen?«
Estrella Avilla de Aragon holte tief Luft. Dann machte sie ein paar Schritte auf Deck hin und her. Ihr Blick glitt zum Oberdeck. Dort stand – an die Reling gelehnt – ganz ruhig, Helen de Vere. Ganz so, als ginge sie das alles nichts an.
Estrella presste die Lippen zusammen.
Endlich wandte sie sich wieder Bush zu. »Bringt die Frauen in meine Kajüte. Ich will mit ihnen reden.«
Wenig später kam der alte Bush dem Befehl nach.
Als die Corsarin mit den Frauen allein war, betrachtete sie diese eingehend. Obwohl sauber vom Bad im Meer, machten sie doch einen sehr zerzausten Eindruck.
Estrella schniefte durch die Nase.
»Ihr wolltet nach Guatemala – wie ich vernahm?«
»Ja, Mylady«, flüsterte die ältere der Frauen und sank auf die Knie.
»Was wolltet ihr dort?« kam es scharf.
»Sir Harriet of Anbross ist dorthin vor acht Jahren ausgewandert, weil er politischen Intrigen in England ausgesetzt war. Es ist der Vater von Lady Gwen.« Sie deutete auf das Mädchen. Estrella schätzte sie auf knapp 24 Jahre.
»Politische Intrigen – hey!« höhnte die Corsarin. »Hat seine Bettsklavin gepetzt?«
»Mylady...« kam es empört. »Sir Harriet ist ein Ehrenmann! Nur ...«
»Nur?« Estrella ging in die Hocke und funkelte die Frau listig an.
Diese geriet noch mehr ins Stottern. »Er hat sich gegen die Politik zur Neuen Welt aufgelehnt. Er befürwortete die Selbständigkeit der Siedler und trat für die Aufhebung der Zölle ein.«
Die Gesichtszüge der Corsarin nahmen einen überraschten Ausdruck an. Fast eine Minute hüllte Schweigen die Kajüte ein. Dann ergriff Estrella die alte Lady bei den Händen und zog sie mit sich hoch. »Ihr seid Lady Joan Ferguson?«
»Ja – das ist richtig.«
Die Corsarin trat an das Heckfenster der Kajüte und starrte auf die schaumigen Wogen, die in die Bay drückten.
Abrupt wandte sie sich um. Sie deutete auf zwei übereinander gestapelte Kisten in einer Ecke neben dem Kartentisch. »Sucht euch dort etwas zum Anziehen aus. Etwas vernünftiges.«
Mit diesen Worten marschierte sie auf die Tür zu. Während sie diese öffnete, rief sie noch über die Schulter: »Es sind auch Schuhe dabei. Ladies sollten nicht barfuss laufen.«
Sie betrat das Hauptdeck.
Die SILVER STAR hatte nun am Kai festgemacht. In der kleinen Hafenansiedlung drängten sich die Menschen zusammen. Wenn Estrellas Schiff einlief, gab es Neuigkeiten und Waffen für den Freiheitskampf.
Die Corsarin ging zu ihrem ersten Offizier hinüber, der gerade mit dem Bootsmann etwas besprach.
»Mr. Bush – ich möchte, dass die beiden Ladies in meiner Kajüte bevorzugt untergebracht werden.«
Der Alte schaute etwas irritiert. »Ihr meint...«
»Genau das, Mr. Bush. Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie eine Möglichkeit finden, nach Guatemala zu reisen.«
Bush schluckte verdattert.
Etwas holprig fiel deshalb auch sein »Ay, ay, Lady-Captain« aus.
Estrella Avilla de Aragon wandte sich dann dem Oberdeck zu. »Jetzt zu dir, du kleines, verfluchtes, liebenswertes Luder«, zischte sie. »Ein wenig Furcht werde ich dir noch einjagen!«
Mit finsterer Miene enterte sie das Oberdeck und blieb dicht vor Helen de Vere stehen.
»So, Verehrteste – jetzt wird es ernst! Ich werde einen guten Preis für dich erzielen. Schließlich hat mich deine Überfahrt etwas gekostet. Los! Komm mit!«
Sie fasste Helen fest an ihrem linken Arm und zerrte sie die Treppe hinunter – bis zu einer Luke vor einem der Vorderfenster der Kajüte.
Als Helen in dem unteren Lagerraum, der sich so völlig von allen anderen Unterdecks der SILVER STAR unterschied, umsah – schluckte sie. Das sah hier aus, wie in einem Textillager. Die Corsarin bemerkte wohl den erstaunten Blick und knurrte beiläufig: »Hab’ ich einem arabischen Edelmann abgenommen. Er und seine Damen brauchten das Zeug nicht mehr. Sie durften sich auf dem Sklavenmarkt von Basra nackt präsentieren.«
Estrella angelte in einigen der mehr oder weniger ordentlichen Kleiderhaufen herum und zog dann ein azurfarbenes Haremskleid hervor. »Hier! Zieh das an. Mein Kunde stellt hohe Ansprüche. Aber beeil dich, sonst landest du doch noch bei den Minenarbeitern.«
Zögerlich zog Helen sich um. Aber sie wusste, dass ein Sträuben zur Zeit wenig Sinn machte. Die Corsarin verschwand hinter einer Art Vorhang. Als sie nach wenigen Minuten wieder auftauchte, verschlug es Helen die Sprache.
Was sie da sah – und d a s musste sie sich selbst als Frau eingestehen – war das faszinierendste weibliche Wesen, das ihr je begegnet war.
Diese Dame hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der rohen Piratenlady.
Estrella schien sich ihrer Wirkung voll bewusst zu sein. Doch Helen merkte rasch, dass sich nur das Äußere ihrer Herrin geändert hatte. Nicht ihre Gesinnung. Ehe sie sich versah, hatte die Corsarin ihr Sklavenketten angelegt. Helen schluckte. Bei dieser Demütigung spielte es keine Rolle, dass die Ketten schon als edles Geschmeide zu betrachten waren. Echte Kunstwerke – aber eben Fesseln!
An einem Halseisen zog Estrella ihre Gefangene nun an Deck und befestigte sie neben der Kajütentür.
Helen bemerkte das Raunen, welches sich durch die Mannschaft zog und selbst der alte, abgefeimte Bush bekam einen trockenen Mund, als er seines Lady-Captain ansichtig wurde.
Die Corsarin verschwand in ihrer Kajüte und kehrte wenig später mit einem Kamm und einem zierlichen Handspiegel zurück. Sie drückte beides Helen in die Hand.
»Richte dein Haar ordentlich. Du ähnelst einer Gewitterziege.«
Damit ließ sie Helen stehen und verließ über die Gangway das Schiff.
So mancher bewundernde Pfiff ertönte am Kai.
Estrella ignorierte die zahlreichen bewundernden Blicke, die ihr folgten.
Sie bog von der Mainstreet der kleinen Ansiedlung in eine düstere Seitengasse ein. Das Sonnenlicht fand hier kaum einen Weg. Alles wirkte bedrückend und Unrat lag in den Ecken. Doch die Corsarin schien sich hier gut auszukennen. Zielstrebig näherte sie sich der Rückfront eines großen Gebäudes und schlüpfte durch eine kleine Pforte hinein.
Völlige Dunkelheit umfing sie einen Moment, dann gewöhnten sich ihre Augen daran und sie erkannte die Umrisse einer Treppe.
Estrellas Stiefel verursachten dumpfe, tappende Geräusche.
Die schmale Treppe machte eine Biegung und dann erfüllte strahlendes Licht eine weite, pompöse Halle. Es fiel durch die mit herrlichen Glasmosaiken bestückte Doppeltür des Haupteinganges.
Estrella hatte die Empfangshalle des Rathauses von San Luca erreicht.
Die Corsarin blieb einen Moment stehen und genoss den Blick auf den kostbaren Marmorboden und die lebensgroßen griechischen Figuren. Ishtar und Pallas Athene flankierten eine mächtige Freitreppe, die zur ersten Etage des Gebäudes führten. Hoch unter der gewaltigen Deckenkuppel – eine Meisterleistung des Architekten – prangten zwei Schwerter und eine Taube zu einem Emblem zusammengefasst.
Estrellas Lippen umspielten ein Lächeln. Es handelte sich um das Wappen der Avilla de Aragons.
Sie holte tief Atem. Dann jagte sie förmlich die breiten Stufen hinauf. Sie rannte über die breite Empore und blieb vor einer hohen Eichentür stehen.
EL COMMANDANTE stand dort auf einem handgearbeiteten golden glänzenden Schild.
Lautlos drückte die junge Frau die mächtige Klinke herunter. Die Tür schwang leicht nach innen. Durch den nur eine Körperbreite großen Spalt erkannte die Corsarin ein weiträumiges, mit kostbaren Möbeln eingerichtetes Zimmer.
An einem edlen Schreibtisch, direkt vor dem Panoramafenster, saß eine Frau und widmete sich verschiedenen Dokumenten. Sie mochte wohl drei oder vier Jahre älter sein als Estrella.
Nun schaute sie auf und ihr Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an.
Einem zufälligen Beobachter wäre die frappierende Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen sogleich aufgefallen.
Die Corsarin betrat nun den Raum. Die Frau hinter dem Schreibtisch sprang auf und machte einige solch rasche Schritte zur Mitte des Raumes, dass ihr hüftlanges schwarzes Haar nur so flog.
Estrella rannte nun auf sie zu und beide Frauen umarmten sich in überschwenglicher Freude.
Niemand hätte in diesem Moment geglaubt, dass Estrella und der unbeugsame Lady-Captain der SILVER STAR ein und dieselbe Person seien.
Endlich ließen sie von einander ab.
Estrella warf lächelnd ihre lange Haarmähne nach hinten. Sie drehte sich im Zimmer einmal um die eigenen Achse und rief: »Bürgermeisterin von San Luca! Ich fasse es nicht. Du hast es wirklich geschafft!«
Lucia Avilla de Aragon lachte laut auf und die Ähnlichkeit der beiden Frauen zeigte sich noch deutlicher.
»Was man sich vornimmt, erreicht man auch.« Sie ergriff beide Hände Estrellas. »Oh Schwesterchen, ich bin so glücklich, dich zu sehen. Wie lange ist es her? Mindesten zwei Jahre…«
Die Corsarin zuckte leicht mit den Achseln. »Wann wurdest du Commandante? Als wir uns trennten warst du es noch nicht.«
»Dann sind es zwei Jahre her«, erwiderte Lucia. Sie zog Estrella mit sich zu einer gemütlichen Sitzecke. Die frühlingshafte Abendsonne zauberte fröhliche Schatten an die Wände des Amtszimmers und das Rauschen der alten Bäume drang herein.
Lucia zauberte eine Flasche edlen Weines und zwei kostbare Kristallgläser hervor. »Auf unser Wiedersehen müssen wir trinken. Man hört ja bis zur kanadischen Grenze von den Husarenstücken der Corsarin und ihrer SILVER STAR. Engländer und Franzosen haben ein hohes Kopfgeld auf deine Ergreifung ausgesetzt.«
Estrella lachte glockenhell. »Dafür klaue ich ihnen die Waffen.«
Nun musste auch Lucia losprusten. Sie füllte die Gläser und die beiden Schwestern prosteten sich zu. »Auf die Freiheit der Neuen Welt.«
Lucia setzte sich vor Estrella auf die Kante des schweren Eichentisches und schlug die Beine übereinander. Ihr dunkelblaues, mit feinen Stickereien versehenes Kleid rutschte etwas hoch und gab den Blick auf die Stiefel aus Rehleder frei.
Estrella deutete darauf und meinte: »Irre ich mich oder sieht das nach einem Geschenk Old Bucks aus?«
Old Buck war ein Trapper, den die Schwestern kurz nach ihrer ersten Ankunft in San Luca Bay kennen gelernt hatten. Er hatte viel zum Aufbau des Ortes beigetragen.
Lucia nickte. »Ja – den treuen Freund gibt es immer noch. Er hätte sich sicher gefreut, dich wieder zu sehen. Leider ist er zur Zeit auf dem Weg nach Alaska.«
Lucia musterte die Schwester. »Du hast so ein merkwürdiges Glitzern in den Augen. Gibt es da was, was ich wissen sollte?«
Nach einer Stunde besaß Lucia in Kurzfassung die wichtigsten Informationen aus den letzten zwei Jahren ihrer Schwester. Sie beugte sich etwas vor und schaute Estrella tief und fest in die Augen. »Und du bist dir sicher, dass du d a s vorhast?«
Die Corsarin nickte nur.
Lucia stand auf und trat an das hohe Fenster. »Dann sitzt die Geschichte aber weit tiefer, als du es dir selbst eingestehen willst.«
Estrella schüttelte den Kopf. »Unsinn!«
»Haa!« Lucia wirbelte herum. Ihr Weinglas reflektierte das Sonnenlicht und es schien, als ob Hunderte von Sternen plötzlich den Raum füllen würden. »Dieses Unsinn kenne ich! In dir explodiert es doch!«
Die Corsarin sprang auf und ihre Augen blitzen jetzt wieder so wie auf Deck der SILVER STAR.
Rasch legte ihre Schwester ihr die Hand auf den Arm. »Sie soll also den Loyalitätstest machen?«
Estrella nickte nur.
»Hm – wie soll dieser Test aussehen? Im Moment denkt sie doch, sie würde als Sklavin an gut betuchte Herren verkauft.«
Estrella sagte es ihr.
Lucia wusste nicht recht, ob sie lachen oder ernst bleiben sollte.
Sie nahm die Schwester in den Arm und meinte leise: »Deo mio – ich weiß nicht, wohin es führt, aber ich tu’s«
Sie ging zu ihrem Schreibtisch und entnahm einer Schublade einen Briefbogen mit dem Amtssiegel. Sie setzte ein kurzes Schreiben auf – unterzeichnete es und winkte dann Estrella zu sich. »Du musst gegenzeichnen, damit Sam Bush es anerkennt.«
Estrella tat es und nestelte dann aus einem braunen Wildlederbeutel, den sie am Gürtel ihres Kleides trug, eine Petschaft hervor. Ihre Schwester reichte ihr Siegellack. Nach dem die Corsarin auch ihr Wappen mit rotem Lack unter das Dokument gesetzt hatte, griff Lucia zur Klingel. Wenig später erschien ein gutaussehender, muskulöser junger Mann. Er bekam den Auftrag, das Dokument zur SILVER STAR zu bringen.
»Woouu!« machte Estrella, als der junge Mann das Amtszimmer verlassen hatte. »Ein knackiges Bürschchen. Wie ist er im Bett?«
Lucia lachte schallend auf. »Himmel! Schwesterherz! Denkst du, ich vernasche jede männliche Person in San Luca?!«
»Na – ich würde ihn nicht von der Bettkante schubsen.«
Lucia musterte sie mit eigenartigem Blick. »Deine Gefühlswelt ist wohl total aus dem Pegel«, murmelte sie.
Die Corsarin sagte nichts weiter.
Lucia schenkte Wein nach und erkundigte sich nun nach der Ladung der SILVER STAR.
Estrella gab einen knappen Bericht und man kam überein, alles so rasch als möglich an die Freiheitskämpfer zu übergeben.
»Capitano D’Angelo trifft morgen Mittag hier ein. Wir lagern die Waffen im Keller des Rathauses.«
»Hm«, machte die Corsarin. »Und das Gold? Leider konnten wir nicht alles ergattern.«
Lucia runzelte die Stirn. »Ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht. Aber du bist jemandem für dein Leben zu ewigem Dank verpflichtet. Daher ist mir dein Plan auch ein Greuel.«
Estrella sprang auf. »Sie ist eine halbe Inglis und …«
Lucia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jaja! Ich hasse die Engländer auch! Gott sei gedankt bin ich noch nicht auf ihrer Folterbank gelandet. Aber du kannst nicht jeden Engländer und jede Engländerin hassen, nur weil ihnen nicht die Gnade zuteil wurde, als Spanier geboren zu sein. Es gibt sicher auch in England Menschen, die sich nicht an deiner Qual aufgegeilt hätten!«
Ob dieser geharnischten Rede schaute die Corsarin etwas betreten zu Boden.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Lucia kam um den Tisch herum und legte beide Arme um den Hals der Schwester. Sie schaute ihr dabei fest in die schönen Augen. »Hör auf mit dem grausamen Spiel! Du willst doch auch die anderen Frauen zu ihrem ursprünglichen Ziel bringen. Weshalb dann die Härte zu Helen?«
»Ich muss erst wissen, ob ich ihr wirklich trauen kann. Dass sie mir das Leben rettete, besagt nichts.«
Lucia ließ ihre Schwester los und blickte sie forschend an. »Wie du meinst, aber es darf nicht ausarten. Wenn es gleich funktioniert, ist Schluss damit oder ich beende es.«
Estrella sprang auf und lief nervös im Zimmer hin und her. Dann barg sie das Gesicht in den Händen und schluchzte leicht. Lucia Avilla de Aragon lief auf sie zu und zog ihre Hände weg. Tränen rannen aus den sonst so hart blickenden Augen der Corsarin.
»Die große Piratin heult«, flüsterte Lucia. »Lass das keinen von deinen Männern sehen.« Sie drückte die Schwester erneut an sich. »Wenn sich Helen als loyal erweist, wirst du wissen w a s du dann zu tun hast!«
Die Corsarin und Lucia standen am Fenster des Rathauses und sahen dem Spiel auf dem Amtsplatz zu. Zahlreiche Anwohner von San Luca hatten sich um den Pranger geschart, in den die sich heftig wehrende Helen de Vere eingeschlossen wurde. Ein paar verwegene Gestalten zerrten Hände und Füße in die vorgesehenen Öffnungen der Konstruktion und schraubten sie zu.
Die Gefangene hatte keine Möglichkeit, sich großartig zu bewegen.
Nun baute sich einer der Burschen vor ihr auf und griff ihr brutal in das lange Haar. Schmerzhaft wurde ihr Kopf nach hinten gerissen.
»Hör zu, du englische Hure! Wo ist diese verfluchte Corsarin? Sie hat San Luca das letzte Mal betrogen. Es sind nur wertlose Waffen gewesen, die sie uns brachte. Dafür wird sie in unserem Kerker schmoren! Also – raus mit der Sprache!«
Estrella biss sich auf die Lippen. Helen musste denken, dass man wirklich Jagd auf sie machte.
Nun begann ein zweiter die Eingeschlossene unter den bloßen Fußsohlen zu kitzeln. Helen lachte kreischend auf und wand sich in den Fesseln. »Aufhören…hahah ich….haha…weiß nichts!«
»Wo ist Estrella Avilla de Aragon?« schnauzte der andere erneut.
Als Helen nicht sofort die Frage beantwortete, schlug ein dritter der Henkersknechte ihr kräftig mit einem sehr biegsamen dünnen Stock quer über die beiden bloßen Fußsohlen.
Die Gefangene schrie laut auf und ihre Füße zuckten im Schmerz.
Auch Estrella zuckte zusammen. Dies blieb von ihrer Schwester nicht unbemerkt.
Inzwischen drohte man unten auf dem Platz der Gefangenen die Bastonade bis zum Sonnenuntergang an.
Zisch! Zisch sauste der Stock auf die Sohlen und Helen bäumte sich so in ihren Fesseln auf, dass Hand- und Fußgelenke blutige Schrammen bekamen.
»Ich weiß nicht wo die Corsarin ist. Sie ist mit einer Jolle zu einem anderen Schiff gerudert. Sie ist fort aus San Luca!« Helen schrie es.
»Lüge!« schrie einer der Burschen zurück und schlug noch einmal – jetzt in voller Länge über Helens Sohlen. Diese kreischte nun in hysterischer Pein: »Ihr könnt mir die Haut abziehen, ihr Schweine – ich werde euch niemals sagen, wo Estrella ist!«
»Aufhören!« krächzte oben in der Amtsstube die Corsarin. Ihre Stimme verschluckte sich in einem Aufschluchzen. Sie wollte losrennen, doch Lucia hielt sie fest. »Ich mach das!«
Die Bürgermeisterin riss das Fenster auf und rief, alles andere übertönend: »Schluss! Sie sagt nichts! Bringt sie herauf!«
Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um und sagte ganz leise zu ihr: »Wenn du noch mehr forderst, verlangst du mehr als Gott.«
Die Corsarin ballte die Fäuste. »Sie sollten sie nicht schlagen! Ich hatte auskitzeln angeordnet. Nicht Schmerz und Wunden!«
Lucia kam ganz nahe an ihre Schwester heran und stellte ernst fest: »Daran erkennst du, wie rasch etwas außer Kontrolle gerät.«
Sie hörten Schritte auf der großen Empore. Lucia deutete auf eine kleine, kaum wahrnehmbare Tapetentür. »Los – verschwinde!«
Estrella stand an Deck der SILVER STAR.
Gerade hatte man die letzte Fracht ausgeladen und schaffte sie auf einem Bauernkarren aus dem Hafen. Sam Bush deutete nach links. Von dort ratterte eine Kutsche heran.
»Besuch?«
Die Corsarin sagte nichts. Sie rückte ihren Dreispitz zurecht.
Gleich nachdem sie von ihrer Schwester zurück an Bord gekommen war, hatte sie sich umgezogen. Sie trug nun schwarzes Wams zum roten Hemd, eine schwarze derbe Hose und mit künstlerischen Nieten verzierte kniehohe Stiefel. An einem breiten Ledergürtel, der von der rechten Schulter quer über den Oberkörper zur linken Hüfte verlief, trug sie einen schweren, kostbar gearbeiteten Degen.
Sie wusste genau, w e r da kam. Sie kannte die Kutsche ihrer Schwester.
Sie stand stocksteif, als eine ältere Frau – die ihr unbekannt war – Helen zur Gangway geleitete.
»Haben wir genügend Proviant, Mr. Bush?« erkundigte sich die Corsarin.
»Jawoll, Captain. Ausreichend für die Reise um die halbe Welt.«
Mit etwas unsicheren Schritten betrat Helen de Vere das Deck. Estrella verkrampfte sich.
»Geh in die Kajüte! Ich komme gleich!«
Während Helen dem Befehl nachkam, schritt die Corsarin zur Decksmitte und rief:
»Anker lichten! Volle Leinwand! Wir laufen aus!«
Die Männer machten sich an die Arbeit und bald schallte das Lied der Freien Corsaren über das Deck.
Estrella wollte gerade die Kajüte betreten, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten neben sich auftauchen sah.
Sie wirbelte herum.
»Lucia…« entfuhr es ihr.
Ihre Schwester lächelte sie an. »Denkst du, ich lasse dich s o fortfahren?«
Sie drückte Estrella an sich und gab ihr dann einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf dich auf Kleines – und lass nicht wieder so viele Jahre vergehen, bis wir uns wiedersehen.«
Estrellas Augen bekamen einen feuchten Glanz. »Bestimmt nicht«, flüsterte sie.
»Gut«, Lucia nickte. »Dann bis irgendwann auf dieser verdammten Welt.« Sie drehte sich rasch um, doch dann kam sie noch einmal zurück und meinte leise: »Pass auch auf Helen auf. Sie kann dir die beste Freundin sein, die es gibt.«
Damit verließ sie rasch das Schiff.
Die Corsarin sah ihr nach, wie sie eiligen Schrittes ihrer Kutsche zustrebte.
Dann gab sie sich einen Ruck und betrat die Kajüte.
Mit gesenktem Kopf saß Helen auf der Kante des Diwans.
Estrella schloss leise die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Langsam nahm sie den Dreispitz vom Kopf. Sie warf den Hut auf den Tisch.
Nun erst blickte Helen auf. Stolz signalisierten ihre Augen. Gleichzeitig schien der Blick eine Frage zu formen.
Die Corsarin bewegte sich leicht unsicher auf einen Stuhl zu und nahm darauf Platz.
Die lauten Befehle Bushs drangen in die Kajüte und man spürte, dass das Schiff ablegte.
»Bedurfte es dieser Art der Prüfung?« kam es leise aus Helens Mund.
Die Corsarin schwieg und senkte den Blick.
Helen sprang auf. Die Sklavenkette an ihrem Hals klirrte. »Bedurfte es dieser Prüfung?!«
Sie schrie es heraus und ihr nackter rechter Fuß stampfte in unbändigem Zorn auf die polierten Planken der Kapitänskajüte. Obwohl sie an den Sohlen Schmerzen haben musste, registrierte sie es in ihrem Zorn nicht.
Estrella zuckte zusammen.
Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das wilde schwarze Haar und schrie dann zurück:
»Ja – es bedurfte dieser Prüfung! Mierda! Weshalb bist du wieder an Bord? Meine Schwester wollte dich nach Guatemala bringen! Genau wie die anderen Frauen.«
»Ah ja?« höhnte Helen. »Du weißt genau, weshalb ich hier bin! Du hattest es doch gehofft!«
Nun sprang die Corsarin wie von der Tarantel gebissen auf. »Mierda! Und noch mal Mierda! W a s willst Du von mir? Verschwinde aus meinem Leben!«
»Gut.« Helen de Vere blieb ganz dicht vor ihr stehen. Die Corsarin überragte sie um ein kleines Stück. »Dann nimm mir diese verfluchte Kette ab und du siehst mich in diesem Leben nie wieder. Verdammte selbstherrliche Ziege!«
Estrella schoss das Blut in den Kopf. Ihre Hand krampfte sich um den Griff des Degens.
»Was ist?« zischte Helen. »Willst du mir jetzt den Kopf abschlagen? Tu es – wenn es dein Gewissen beruhigt. Oder wir tragen es aus. Jetzt und gleich!«
Die Corsarin fixierte die Sprecherin erstaunt. »Wie meinst du das?«
Helens Augen bildeten nur noch Schlitze. »Ein Zweikampf. Mit Degen.«
Estrella lachte laut und hysterisch auf. »Haha … was? Du bist irre!«
»Aaah … die Dame wird feige. Das passt zu dir. Ein großes Mundwerk – mehr nicht!«
Es schien, als erleide die Corsarin ob dieser Worte einen Schlaganfall. Ihr Kopf schien platzen zu wollen.
»Was ist?« höhnte Helen weiter. »Hast du Angst, ich könnte ebenfalls mit einem Degen umgehen? Ha! Ja – ich kann’s. Mein Vater brachte es mir bei. Und es würde mir nichts mehr Befriedigung verschaffen, als die Klinge in deinen dummen Piratenschädel zu schlagen!«
Jetzt war es mit Estrella Beherrschung absolut vorbei. Ihre rechte Hand schoss vor und verkrampfte sich um Helens Hals. »Zehnmal verfluchte Inglisnutte! Du bekommst deinen Kampf! In einer Stunde auf Deck. Wenn wir die offene See erreicht haben. Und ich schwöre es dir bei deinem Pfaffengott, dein Kopf wird vorne auf den Bug der Silver Star genagelt, damit jeder sieht, dass keine verdammte Inglis mich beleidigt.«
Mit diesen – zuletzt mit beinahe sich überschlagender Stimme ausgestoßenen Worten, raste sie aus der Kajüte.
Der Wind frischte auf.
Die SILVER STAR schoss nur so durch die Wogen.
Die Mannschaft verfolgte atemlos und irritiert das Geschehen auf dem Oberdeck.
Bush scheuchte einige der Männer von der Treppe. »Runter da Männer! Das geht euch nichts an!«
Doch auch der alte Bush zeigte sich völlig verwirrt.
D a s hier hatte es an Bord noch nie gegeben!
Oben auf dem Heckdeck, über dem Achterdeck, standen sich die Corsarin und Helen de Vere gegenüber.
Der Wind zerzauste ihr Haar. Die beiden schweren Degen blitzten rot in der Sonne, die beinahe den Horizont berührte.
Es zirpte und knarrte in der Takelage der SILVER STAR.
Die Blicke der beiden Frauen schienen Dolchstößen gleich.
Sie trugen lediglich eine Art Wickelrock. Ihre Oberkörper waren nackt und vom Wind standen ihre Brustwarzen hart vor.
Barfuss umkreisten sich die Duellantinnen.
»Ist dir dein Busen nicht im Weg?« zischte Helen mit Blick auf Estrellas gewaltige Oberweite.
»Pass auf, dass ich deinen nicht stutze«, geiferte die Corsarin zurück. Plötzlich wirbelte sie auf den Fußballen um die eigene Achse ….
‚Wuuuschschschsch’
In sprichwörtlich letzter Sekunde warf sich Helen platt auf das Deck. Estrellas Klinge streifte ihre Haarspitzen.
Die Corsarin lachte zynisch. »Na – wie gefällt dir das?«
Im Bruchteil eines Augenzwinkerns stand Helen wieder aufrecht. Ihre Klinge blitzte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne …
Estrella kreischte auf. Blut rann von ihrem Oberschenkel. Sie knickte leicht mit dem rechten Bein ein.
»So funktioniert das!« rief Helen de Vere.
Die Wunde war nicht weiter tragisch. Helen hatte Estrella die Haut nur geritzt. Doch brauchte ihre Kontrahentin einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
Helen stand abwartend, leicht vorgebeugt, den Degen einhändig am Griff umfasst.
Estrella schluckte und ging in Angriffsposition.
Sie stieß vor und traf Helens Oberarm mit der Degenspitze. Sie grub sich in das Muskelfleisch. Sogleich färbte sich die Spitze der Waffe rot.
»Aaah!« kam es aus Helens Mund. Dann schwang sie den ganzen Oberkörper herum. Die Corsarin parierte den Bogenschlag.
Klong! Die Klingen sprühten Funken. Helen wich zurück, Estrella folgte mit einem Ausfallschritt – Helen sprang auf das Geländer des Oberdecks. Ihre Zehen verkrampften sich beim balancieren. Mittschiffs starrten die Männer zu ihnen hinauf. Die Corsarin traf mit der Degenspitze die linke Wade. Helen taumelte. Estrella setzte nach. Helen vollführte einen Salto auf dem Geländer, dass aus dem Mannschaftsbereich unten ein »Hoooaah« erschallte.
Federnd kam Helen neben Estrella auf den Planken auf. Die Corsarin wich zurück. Helen stieß zu.
Die Degenspitze ritzte Estrellas nackten Bauchnabel. Leicht vorgebeugt blieb diese wie zur Salzsäule erstarrt stehen. Helen umkrampfte den Griff ihrer Waffe. Die Augen der Frauen schienen Blitze zu schleudern. Estrella zog den Bauch ein, vollzog eine Rolle rückwärts und traf mit ihren Fußsohlen Helens Kinn.
Krachend schlug deren Kopf auf die Planken. Der Degen der Corsarin zischte. Helen gelang es gerade noch den Kopf zur Seite zu wenden. Haarscharf sauste die Klinge an ihrem Ohr vorbei. Doch da befand sie sich auch schon auf den Beinen. Hechtete in die Wanten und zog dabei mit ihrer Waffe eine Schleife, dass sie Estrellas wehende Haare um einige Zentimeter kappte. Die schwarzen Locken wirbelten wie Schneeflocken über das Deck.
Estrella jappste nach Luft und sprang dann, einem Panther gleich Helen in die Wanten nach. Die Klingen kreuzend, jagten sie sich gegenseitig bis in die Spitze des letzten Mastes.
Dort oben spürte man das Rollen der SILVER STAR mächtig.
Auf der schmalen Rahe balancierend – was auch nur barfuss überhaupt möglich war – lieferten sich die beiden Frauen ein Gefecht, dass der Mannschaft den Atem stillstehen ließ.
»Heiliger Bimbam!« kam es aus dem Mund des alten Bush. »Die bringen sich gegenseitig um!«
Dann passierte es.
Estrella rutschte während eines ausholenden Kreisschlages ab. Ihr linkes Knie knickte ein. Das rechte Bein schwebte in der Luft. Die Waffe entglitt ihr und mit wedelnden Armen verlor sie das Gleichgewicht.
Ein schauriger Schrei entrann ihrer Kehle. Helen sah das weiße ihrer Augäpfel.
Das alles vollzog sich so schnell, dass die Blicke der Beobachter kaum folgen konnten.
Die Corsarin versuchte sich aufbäumend mit den verkrampften Zehen des linken Fußes zu halten – was ein unsinniges Unterfangen darstellte.
Es konnte kein Halten geben!
Sam Bush starrte mit entsetzt aufgerissenen Augen nach oben. Den Sturz aus zwölf Metern Höhe konnte Estrella nicht überleben.
Die Corsarin hatte in diesem Augenblick mit ihrem Leben abgeschlossen.
Da schnellte sich Helen ab. Den Degen wegwerfend und eines der freipendelnden Taue fassend, die zum reffen der Segel benutzt wurden, schien eine fließende Bewegung zu sein.
Während Estrella sich schon im freien Fall befand – stumm – die Augen weit aufgerissen, schwebte Helen wie ein Affe heran, bekam den rechten Fuß der Corsarin zu fassen und hielt ihn eisern fest.
Als das sich straffende Seil ihren Fall bremste, glaubte Helen, ihr Arm würde aus der Gelenkpfanne gerissen.
So pendelten sie in grausiger Höhe. Helen mit der einen Hand das Seil umkrallend, dass das Blut aus ihrer Handfläche rann – mit der anderen hielt sie Estrella Fußgelenk wie einen Schraubstock fest.
Helen stöhnte, als die SILVER STAR sich im drehenden Wind auf die andere Seite legte.
Die Corsarin wandte ruckartig den Kopf und keuchte durch das schrille Zirpen des Windes in der Takelage: »Lass los!«
»Bist du toll?« kreischte Helen zurück.
»Verdammtes Weib, lass los! Du stürzt ab!«
»Den Teufel werde ich tun! So einfach kommst du mir nicht in die Hölle!«
»Helen! Sei vernünftig!« schrie die Corsarin. »Es reicht, wenn eine von uns stirbt!«
Helen biss die Zähne zusammen, als eine erneute Pendelbewegung des Schiffes ihr Schultergelenk knirschen ließ.
»Bitte…« kam es von unten. »Lass mich einfach los. Du musst leben.«
Helen schüttelte den Kopf. »Nein – entweder sterben wir beide oder keine.«
Inzwischen war Bewegung in die Mannschaft gekommen. Mehrere Männer kletterten in die Wanten und bald griffen zahlreiche schwielige Hände zu.
Helen lag ausgepumpt auf dem Diwan.
Die Corsarin lehnte an der leicht gewölbten Seitenwand ihrer Kajüte und goss einen mächtigen Schluck Rum in sich hinein. Danach schüttete sie etwas auf ihre Handfläche und rieb damit ihre Wunden ein.
Dann ging sie auf leicht wackligen Beinen zum Diwan hinüber und reichte Helen die Flasche. »Trink, du dreimal verfluchtes Teufelsweib!«
Helen wollte erst ablehnen, besann sich dann aber anders.
»Tu was auf deine Wunden. Es brennt höllisch, aber beugt Infektionen vor«, brummte Estrella.
Helen befolgte den Rat. Es trieb ihr die Tränen in die Augen.
Die Corsarin setzte sich auf den Rand des Diwans. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber das rhythmische Heben und Senken ihres immer noch nackten Busens wies aus, dass sie innerlich sehr erregt war.
Auch Helen war noch bis zum Nabel entblößt.
Estrella ließ den Blick über den wohlgeformten Körper der Liegenden gleiten.
Helen lächelte. »Tut mir leid, was ich über deinen Busen gesagt habe. War nicht so gemeint. Er ist sehr schön.«
Die Corsarin biss sich auf die Lippen. Dann kam heiser die Frage: »Du hättest beinahe für mich dein Leben verloren. Ein falscher Griff und wir wären beide abgestürzt. Weshalb hast du das getan? Warum hast du mich nicht einfach fallen lassen? Du wärest frei gewesen.«
Ein erneutes Lächeln umspielte die Lippen der Engländerin. »Frei? Das bin ich jetzt auch.«
Estrella erhob sich. »Ja – das bist du.« Sie schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Himmel und Hölle! Du hättest bei meiner Schwester bleiben sollen! Dann befändest du dich auf dem Weg nach …« Sie brach ab.
»Wolltest du das wirklich? Brauchst du noch mehr Loyalitätsbeweise?« kam es leise.
Estrella ballte die Fäuste. »Mierda! W a s willst du?«
Sie griff zu ihrem Hemd und warf es sich über. Eilig verließ sie die Kajüte.
Helen blieb allein zurück. »Wie kann man nur so begriffsstutzig sein«, murmelte sie.
Die See rollte. Draußen war es inzwischen dunkel.
Helen stand auf. Aus der Kiste angelte sie ein einfaches Kleid. Schuhe zog sie nicht an. Leise öffnete sie die Kajütentür. Die Freiwache vertrieb sich mit allerlei Spielen die Zeit oder trank Rum. Laternen hatte die SILVER STAR nicht gesetzt. So vermochte sich der Sternenhimmel in seiner vollen Pracht den Augen entfalten.
Helen wandte sich der Treppe des oberen Freideck zu. Dort – an die hintere Reling gelehnt – fand sie die Corsarin vor. Genau wie damals. Sie stand dort, umrahmt von den Sternen, mit leicht gespreizten Beinen, barfuss und das Haar wirr vom Nachtwind.
Helen stieg die Holzstufen hinauf. Ruhig sah Estrella ihr entgegen. Genau wie damals.
Am Ende der Treppe blieb die Engländerin kurz stehen. Der Wind sang seine Melodie und das Meer rauschte in unbändiger Naturgewalt. Die Segel der SILVER STAR blähten sich in voller Spannung.
Helen ging bis zur Mitte des Decks. Sie wollte etwas sagen, doch da stieß die Corsarin sich von der Reling ab. Lautlos kam sie auf Helen zu.
Die beiden Frauen sahen sich lange an. Die Sterne reflektierten in den Pupillen Estrellas.
Dann sank die Corsarin in die Knie und küsste Helen die bloßen Füße.
»Ruder vier Strich Backbord!« rief Helen. »Wir greifen ihn uns vom Heck her!«
Sam Bush warf einen Blick zu Estrella hinüber. Diese stand entspannt an die Luv-Reling gelehnt.
Ein Lächeln breitete sich über dem Gesicht des Alten aus. Dann erwiderte er: »Zu Befehl Commodore! Ay, ay!«
Die SILVER STAR vollzog eine weite Wende und gelangte so dem Franzosen in den Rücken. Durch dieses rechtzeitige Manöver hatte noch niemand drüben an Bord etwas von dem Verfolger bemerkt.
»In einer Stunde haben wir ihn«, stellte Helen fest und rückte sich den mit Goldborden versetzten Dreispitz zurecht.
Die Corsarin trat neben sie und flüsterte anerkennend: »Wo hast du Teufelsweib das nur gelernt?«
Helen wandte sich etwas um und flüsterte zurück: »Mein Vater kommandierte die CIRVA VERDE.«
Estrella zog eine Augenbraue hoch. »D i e CIRVA VERDE ? Das berühmte Schiffsduell vor Fort Saxon?«
Helen nickte bestätigend.
»Na –« machte die Corsarin. »– dann konnte ich es nicht besser treffen.«
Die SILVER STAR tauchte in ein Wellental ein.
Estrella lehnte sich an den Mast und schloss die Augen. Ihre Gedanken wanderten vier Tage zurück.
Die Corsarin war erwacht.
Sie räkelte sich auf dem Diwan und spürte die leichten Wellenbewegungen ihres Schiffes.
Da stieß ihre Hand an etwas Warmes und Weiches.
Sie wandte den Kopf. Umrahmt von ihrem langen goldblonden Haar schlief Helen.
Entspannt und tief.
Estrella lächelte. Zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit fühlte sie wieder so etwas wie Glück in ihrem Herzen.
Sie richtete sich etwas auf, beugte den Oberkörper vor und gab Helen einen sanften Kuss auf die Stirn.
Blinzelnd öffnete die Engländerin die Augen. »Guten Morgen«, hauchte sie.
»Es ist ein guter Morgen!« Estrella schwang die langen Beine vom Diwan und marschierte splitternackt zum Kartentisch. Dort lag ein blutroter Umhang, den sie sich überwarf.
»Komm, Schlafmütze! Wir nehmen ein herrliches Bad im Ozean.«
Helen jauchzte, als sie in das wunderbare, warme, und doch erfrischende Nass eintauchte. Sie schwamm einige kräftige Züge und hielt sich dann an dem drei Meter langen Steuerruder fest. Zahlreiche Algen und Muscheln hingen in der Ruderkette.
»Das müsste mal entfernt werden«, bemerkte sie zu Estrella. Diese schaute sie mit eigenartigem Blick an. »Du verstehst etwas davon?«
»Ich verstehe von vielen Dingen etwas. Von Schiffen im Besonderen.«
Die Corsarin hangelte sich neben die Engländerin. »Woher?«
Helen zuckte die Achseln. »Ist das wichtig?«
Estrella schwieg. Endlich fragte sie: »Willst du bei mir bleiben?«
Helen warf ihr einen langen Blick zu. »Hast du das immer noch nicht begriffen?«
Wortlos war die Corsarin davon geschwommen.
Sie umrundeten beide das Schiff – jede von einer anderen Seite und trafen am Bug wieder zusammen. Die SILVER STAR machte auf Bushs Befehl nur einviertel Fahrt. Nur das Focksegel war gesetzt.
Helen und Estrella ließen sich am Buganker mitziehen.
In einiger Entfernung spielten Delphine. Ein beruhigendes Zeichen, denn dann befanden sich keine Haie in unmittelbarer Nähe.
»Du bleibst also«, kam es von Estrella. Dann zog sie sich an der Ankerkette hoch und schwang sich über die Bordwand. Helen folgte.
Die Blicke der Männer richteten sich verstohlen auf die nackten Frauen. Doch keiner wagte es dies offen zu zeigen. Wenn sie auch alle Estrella begehrten – sie war tabu. Eine Göttin! Unantastbar! Nur träumen war erlaubt.
Die Corsarin wusste, dass niemand das ungeschriebene Gesetz übertreten würde.
In der Kajüte trockneten sie sich ab. Mit einem Schluck Rum putzte sich die Corsarin die Zähne. Sie reichte Helen die Flasche. Nach kurzem Zögern tat sie es Estrella gleich.
Als Helen nach dem schlichten Kleid greifen wollte, hielt die Corsarin sie zurück.
»Warte!«
Aus einem Verschlag hinter dem Schrank, den Helen bisher noch nicht bemerkt hatte, zog Estrella eine dunkle Hose, Stiefel, ein weißes Hemd und eine Weste hervor. Dem folgten ein Dreispitz und ein Degen.
»Ab sofort bist du mein Commodore. Wie du das Bush klar machst, ist deine Sache!«
Als sie in ihrer Uniform das Deck betrat, musterten sie die Männer mit Erstaunen. Bush rieb sich das Kinn, sagte aber nichts.
Dann meldete der Ausguck den Franzosen.
Der Kapitän hatte keinerlei Chance der schnellen und wendigen SILVER STAR zu entkommen. Wie ein Phantom tauchte sie auf und legte sich längsseits. Noch bevor an Bord der Fregatte irgendwelche Gegenmaßnahmen getroffen werden konnte, hatte sich die Corsarin mit ihrer Entermannschaft bereits an Bord geschwungen. Sie setzte dem Kapitän ihr Messer an den Hals und knurrte:
»Es wäre für ihre Gesundheit besser, die Kapitulation zu erklären.«
Der schlanke, hochgewachsene Kommandant schluckte und rief dann seinen Leuten zu: »Werft die Waffen auf Deck!«
Estrella grinste. »Na bitte – geht doch!«
Die Mannschaft wurde gefesselt und auf dem Hauptdeck »aufbewahrt«.
Die Corsarin ging vor dem Kapitän in die Hocke. »Woraus besteht ihre Ladung – ich meine außer den kriegsschiffüblichen Dingen?«
»Waffen und Munition.«
»Das ist mir klar. Aber die Franzosen unterstützen Teile der Aufständischen in Amerika. Leider bringt das Engagement ihrer Regierung es mit sich – dass verschiedene Freiheitsgruppen gegeneinander gehetzt werden, statt gemeinsam zu kämpfen. Ihr König erhofft sich eine neue Kolonie um zuhause seinen Kopf zu behalten? Habe ich Recht? Deshalb hat dieses Schiff nicht nur Waffen und Munition, sondern für die Indianer Feuerwasser geladen. Für bestimmte Kollaborateure auch Gold.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Sie irren, Lady.«
Die Corsarin stand auf und rief Bush zu: »Schiff durchsuchen!«
»Ay, ay, Lady Captain.«
Ein Ruf ließ Estrella herumschnellen. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Doch dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Antlitz aus. »Holla! Wen haben wir denn da?«
»Lassen sie Sie in Ruhe. Sie ist meine Schwester!« Der Kapitän bäumte sich in seinen Fesseln auf.
»Ah ja! Ihre Schwester. Na gut. Bringt sie hier herüber. Vielleicht kann sie uns netterweise einige Fragen später beantworten!«
Estrella betrachtete die junge Frau. Ihre Kleidung schien teuer zu sein. ‚Paris’, signalisierte ihr Gehirn. ‚Die Dame gehört zur besseren Gesellschaft.’
Die Inspektionsmannschaft kehrte zurück.
»Wir können nur Waffen und Munition finden. Aber davon reichlich.«
»Hm«, die Corsarin überlegte. Aber ein kurzes Zucken um die Augen des Kapitäns machte sie stutzig.
Estrella wandte sich an die verängstigt schauende junge Frau. »Wisst ihr etwas von einer anderen Ladung als Waffen?«
»Non – isch weiss nich…«
»Mr. Bush!«
»Lady Captain?«
»Bringen sie Madame auf die SILVER STAR. Lassen sie Sie nackt ausziehen und hoch oben an der Rahe festbinden. Sagen wir … für achtundvierzig Stunden.«
Der Kapitän bäumte sich auf. »Nein! Nicht! Das könnt ihr nicht tun!«
Die Corsarin lachte gurrend. »Ich kann, Monsieur. Es sei denn …«
»Wir haben Gold! Im Bugraum unter den ersten Planken!«
»Mr. Bush – Kommando zurück. Lassen sie der Lady alle unsere Gastfreundschaft in meiner Kajüte zukommen.«
Der Alte grinste. »All right, Captain!«
Estrella begab sich mit zweien ihrer Männer sogleich in den Bugraum. Der Franzose hatte Gold im Wert von mindestens zwei Millionen Pfund Sterling geladen.
»Auf die SILVER STAR schaffen. Auch die Munition. Waffen haben wir vorerst genug. Anschließend Kapitän und Besatzung ins Rettungsboot setzen. Verpflegung für vier Tage. Fregatte dann versenken!«
»Ay, ay!«
Die Corsarin sah zu, wie die französische Fregatte gurgelnd im Ozean versank.
»Was passiert mit der hochwohlgeborenen Dame?« erkundigte sich Helen leise.
Estrella legte ihr den Arm um die Schultern und meinte freundlich lächelnd:
»Nimm dich ihrer an. Lass sie das Deck schrubben. Die SILVER STAR braucht immer eine pflegende Hand.«
Damit verschwand sie in der Kajüte.
Helen verdreht die Augen. Dann wandte sie sich an die gefangene Französin. Sie mochte wohl Mitte Zwanzig sein. Ein apartes Gesicht, umrahmt von modischen kleinen Kringellocken. Die blauen Augen blickten angstvoll und die Winkel des feingeschwungenen Mundes zuckten leicht.
Helens Blick wanderte über die teuere Kleidung.
‚Verwöhntes Mädchen aus vornehmen Hause’, schoss es ihr durch den Kopf.
»Zeig mal deine Hände!«
Zaghaft folgte die Gefangene der Aufforderung. Helen verzog das Gesicht.
»Du lieber Himmel … hast du jemals gearbeitet?«
»Oh ja – isch bin Kindererzieherin.«
Auch das noch, schnellte es in Helens Gehirn. Na – ein wenig Abwechslung würde der Dame nicht schaden. Sie beschloss aber, die Gefangene nicht zu hart ran zu nehmen.
»Komm mit!« Helen ergriff die Hand der jungen Frau und zog sie aufs Oberdeck.
»Wie ist dein Name?«
»Mirelle de Puero«, kam es ängstlich.
»Hör zu, Mirelle – hier an Bord der SILVER STAR muss man sich seine Verpflegung verdienen. Es sei denn, man will verhungern. Es steht uns noch eine weite Reise bevor.«
Die Gefangene schlug die Hände vors Gesicht. »Mon Dieu! Wohin verschleppen sie misch?«
Helen zuckte die Achseln. Das Endziel der Fahrt kannte sie ja selbst nicht. Trotzdem sagte sie: »Warte es ab. Wenn du dich fügst, geht es dir gut hier an Bord. Ein Tipp im Guten – verärgere den Lady-Captain nicht.«
Mirelle nickte heftig. »Ich werde alles tun, was sie sagen!«
Um Helens Mundwinkel stahl sich ein Lächeln. »Na, dann ist ja alles bestens. Du wirst jetzt zum Bug gehen –« Helen deutete nach vorn. »– und aus dem Verschlag dort einen Eimer und Scheuerbürste nehmen. Der Eimer besitzt ein langes Seil, damit kannst du ihn ins Meer herunterlassen, um Wasser zu bekommen. Dann schrubbst du das Deck. Ordentlich! Ich will später keinen Fleck auf den Planken mehr sehen.«
Mirelle schluckte. »Oh Himmel … ja, ich werde mir Mühe geben.«
Sie wollte loslaufen, aber Helen hielt sie am Oberarm fest. »Langsam, Kleine! So wird das nichts. Deine Kleidung ist für solche Arbeit absolut ungeeignet.«
Die Gefangene schluckte und schaute an sich herunter. »Aber isch ’abe nichts anderes…«
Helen wies sie an, auf dem Deck stehen zu bleiben und enterte die Kajüte. Estrella legte so eben den neuen Kurs fest.
Als Helen eintrat, blickte sie von der Seekarte auf. »Na ... hast du die Kleine eingewiesen?«
»Ja! Allerdings nicht so, wie d u mich eingewiesen hast«, erwiderte sie zynisch.
Die Corsarin lachte kurz auf. »Mein Häschen ist nachtragend…«
Nun beugte sich Helen zu der am Tisch sitzenden Estrella herab und brachte ihr Gesicht ganz nah an das ihre heran. »Hör zu! Erstens – ich b i n nachtragend. Zweitens – ich bin n i c h t dein Häschen. Falls du das nicht einsiehst, können wir unser Duell gerne fortsetzen.«
Über der Nasenwurzel der Corsarin entstand eine steile Falte. Doch dann löste sich ihre Anspannung und sie stellte fest: »Meine Entscheidung, dich zum Commodore zu machen, erweist sich als richtig. Du setzt dich durch.«
Dann wandte sie sich wieder der Karte zu.
Helen richtete sich wieder auf und stemmte die Arme in die Seiten. »Ha!« kam es verblüfft. »Das war’s dann … prima Antwort.«
Estrella blickte auf und lächelte. Dann ergriff sie Helens Hand und flüsterte: »Nein, das war’s nicht. Aber erst bist du mir noch eine Antwort schuldig.«
»Ich dir? Auf welche Frage?«
Nun schaute die Corsarin ernst. »Weshalb du wieder an Bord gekommen bist. Ich habe dich nach allen Regeln gedemütigt.« Sie erhob sich und schaute auf die etwas kleinere Engländerin herab. »Ich wollte sehen, ob ich dich brechen kann. Deinen Stolz zerstören. Aber es funktionierte nicht. Da wurde mir klar, dass du zu schade warst, um auf einem Sklavenmarkt zu enden. Trotz allem Hass, den ich gegen die verfluchten Inglis hege.« Sie machte eine kurze Pause, in dem sie sich durch das lange wirre Haar fuhr. »Meine Schwester wollte dich an dein ursprüngliches Ziel bringen lassen. Aber du kamst zurück zur SILVER STAR. Warum, verdammt noch mal?!«
Helen schaute ihr fest in die Augen. Dann bemerkte sie leise: »Denk doch mal nach.«
Dann wandte sie sich zu der großen Holztruhe neben dem Schrank und wühlte das Kleid heraus, das sie bis vor wenigen Tagen getragen hatte.
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach!« kam es laut und ungehalten von der Corsarin.
Helen kümmerte sich nicht darum. Sie verließ mit dem Kleid die Kajüte und kehrte zu Mirelle zurück. Diese lehnte an der Reling und schaute über das Heck auf die unendliche Weite des Meeres.
Als sie Helens Schritte hörte, wandte sie sich rasch um.
Helen hielt ihr das Kleid hin. »Hier! Zieh d a s an. Es ist praktischer.«
Als die Gefangene zögerte, knurrte Helen: »Mach schon, verdammt! Ich habe noch anderes zu tun.«
Mirelle schluckte und kam der Aufforderung rasch nach. Helen ergriff das teure Kleid und meinte: »Du bekommst es wieder. Keine Angst. Das Mieder zieh auch aus. Du kannst dich ja gar nicht richtig bewegen.«
Man merkte, dass es Mirelle peinlich war, das Mieder zu öffnen. Helen lachte laut auf. »Herrgott … stell dich nicht so an! Die Männer sehen dich schon nicht nackt. Es sei denn, du missachtest meine Anweisungen, dann bekommst du die Peitsche. Und zieh auch diese unmöglichen Schuhe aus.«
Die Gefangene zuckte zusammen. Endlich hatte sie das Kleid an und schlüpfte artig aus den Schuhen.«
Helen grinste und beugte sich vor. Sie zupfte an den weißen Strümpfen. »Reine Seide… – los, runter damit. Das Deck schrubbst du besser barfuss.«
Helen blickte der Französin nach, wie sie auf unsicheren Schritten die Treppe hinunter stakste. Sie musste sich entblößt vorkommen. Helen war da etwas härter im Nehmen. Die Behandlung, welche die Corsarin ihr hatte zukommen lassen, hätte die Kleine niemals durchgestanden, ging es Helen durch den Kopf.
Mit der Kleidung betrat sie die Kajüte. Die Corsarin hielt sich an Deck auf und sprach mit ihrem Ersten. Nachdem Helen Kleid, Mieder wie Schuhe und Strümpfe in der Truhe verstaut hatte, fiel ihr Blick auf die Seekarte. Eine gerade gezeichnete Linie führte zu einer Markierung.
Helen stutzte. Was sollte das? Dort befand sich nichts. Keine Insel, keine Atoll … nur Wasser. Die nächste Küste mochte wohl zweitausend Seemeilen entfernt liegen.
Beabsichtigte die Corsarin, sich mit einem anderen Schiff zu treffen?
»Es interessiert dich?«
Helen zuckte zusammen. Die Corsarin stand direkt hinter ihr. Sie hatte sie nicht gehört.
Langsam beruhigte sich Helens Herzschlag wieder. »Ist das unser nächster Zielpunkt?« fragte sie rau.
Estrella hob lachend die Arme. »Ja – sofern uns nichts dazwischen kommt. Kaperungen verzögern jede Reise.«
»Das ist ein Kreuz mitten im Wasser.«
Die Corsarin rollte die Karte zusammen. »Warte es ab.«
»Schiff Backbord!« dröhnte es plötzlich von Deck her. Estrella wirbelte herum.
»Ich sagte doch – es kommt immer noch was dazwischen. Sehen wir uns den Hecht an!« Damit rannte sie aus der Tür.
Helen folgte ihr rasch.
»Verdammt! Drei Kanonendecks«, knurrte Sam Bush.
Estrella setzte ihr Fernrohr ab und presste die Lippen zusammen. »Er hat uns noch nicht gesehen.«
»Das mag unser Glück sein. Der schießt uns in Grund und Boden.« Er drehte sich rasch zum Steuermann um.
»Fünft Strich Steuerbord! Sofort!« Dann packte er den Bootsmann am tätowierten Oberarm. »Volle Leinwand! Setzt jede Unterhose! Wenn das Kriegsschiff uns in Schussweite erreicht, sind wir geliefert!«
Die Mannschaft jagte die Wanten hinauf.
Das Pfeifen ließ alle zusammenzucken. Die Corsarin sah die dichte Rauchwolke im Heckbereich des Kriegsschiffes. Gleichzeitig wurde die britische Flagge am Hauptmast gesetzt.
»Mierda!« schrie Estrella auf. »Er macht Jagd auf uns!«
Die Kugel sauste über das Deck und schlug – eine mächtige Wasserfontäne aufwirbelnd – etwa hundert Yards an der Steuerbordseite ins Meer.
»Mehr Leinwand! Steuermann – hart an den Wind! Sonst lacht gleich der Satan!«
Der Steuermann legte sich mit aller Kraft in das Rad, um das Ruder gegen den Wasserdruck weiter nach rechts zu bewegen. Die SILVER STAR neigte sich im Zeitlupentempo nach Lee.
Eine mächtige Welle schwappte über Deck als die zweite Kugel des Engländers um des Haaresbreite die Spitze des Foggmastes verfehlte.
Estrella wich das Blut aus dem Gesicht. »Verfluchter Seeteufel! Ein drittes Mal wird er uns nicht verfehlen! Wieso schießt er überhaupt auf uns? Wir laufen unter portugiesischer Flagge.«
Der alte Bush spuckte über die Reling. »Das scheint ein Captain zu sein, der die SILVER STAR gut kennt.«
In diesem Moment frischte der Wind böig auf. Das Schiff knarrte und knirschte, die Leinwandspannen begannen zu vibrieren und in der Takelage breitete sich ein Geräusch aus, das einem entfernten Gong-Ensemble ähnelte. Die SILVER STAR legte sich noch um zwei Grad in den Wind. Die Bugwelle schäumte auf. Einem Pfeil gleich schoss das schlanke Schiff in ein Wellental.
»Neptun sei gepriesen«, flüsterte der Erste. »Jetzt haben wir eine Chance gegen den schwerfälligen Engländer.«
Gebannt hatte die Corsarin das Fernrohr angesetzt. Sie erkannte, dass man drüben auf dem anderen Schiff gleichfalls Wendemanöver einleitete.
»Mierda! Wieso taucht er hier auf?«
»Die SILVER STAR ist inzwischen berüchtigt. Wahrscheinlich gibt es eine Anordnung der Admiralität, sofort zu schießen, wenn der Verdacht besteht, das Schiff ausgemacht zu haben.«
Trotz der ernsten Situation verzogen sich die Mundwinkel der Corsarin zu einem spöttischen Lächeln. »So fürchtet man uns also…«
Der alte Bush runzelte die Stirn. »Natürlich! Wir hindern die Engländer daran, ihren Truppen den notwendigen Nachschub zu bringen. Du weißt doch, dass eine Belohnung auf deinen Kopf ausgesetzt ist.«
»Ja – ich dachte nur nicht, dass man uns schon gezielt sucht. Eher hätte ich mit Flucht und nächtlichem vorbeischleichen gerechnet.«
»Pah!« machte der Erste. »Dann hast du die Engländer unterschätzt. Die Franzosen wirst du bald auch noch auf dem Hals haben.«
Die Corsarin wusste längst, dass sie ein verteufelt gefährliches Spiel trieb. Sollten sich die Nationen – die ihre Interessen in der Neuen Welt gefährdet sahen – zu einer Jagd auf die SILVER STAR zusammenschließen, zeichneten sich die Chancen für Estrella und ihre Leute gering ab.
Der Wind frischte immer mehr auf und die Kunst des Steuermanns und des alten Bush verschafften der SILVER STAR einen mächtigen Abstand zu dem Kriegsschiff.
»In einer Stunde wird es dunkel«, brummte Bush. »Gebe Gott, dass der Wind bis dahin anhält. In der Nacht können wir uns immer davon machen.«
»Dann sollten sie zu ihrem Gott beten, Mr. Bush«, flüsterte die Corsarin. Dann verschwand sie in ihrer Kajüte.
Wenig später erschien Helen.
»Ist die Gefahr gebannt?«
Estrella blickte sinnend zu Boden. »Vorerst. Doch in Sicherheit wiegen dürfen wir uns noch lange nicht. Ab jetzt müssen wir uns darüber klar sein, dass wir gejagt werden.«
Helen lachte nun leise. »Gut – dann spielen wir ein bisschen Katz und Maus!«
Estrella legte Helen die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen. »So lustig ist das nicht. Wenn man uns erwischt, werden die Engländer ein abschreckendes Exempel statuieren. Jeden den sie lebend erwischen werden sie unter viel Publikumsbeachtung zu Tode foltern.«
Helen schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich fürchte mich nicht. Außerdem werden sie uns nicht erwischen.«
Die Corsarin ließ die junge Frau los und erklärte: »Bei der nächstmöglichen Gelegenheit wirst du das Schiff verlassen. Es ist mein Krieg und du wirst dafür nicht sterben.« Leise setzte sie hinzu: »Jedenfalls nicht auf solche Art.«
Helen wollte aufbegehren, als Bush in die Kajüte stürzte. »Captain! Eine zweite Fregatte!«
Die Corsarin schluckte und stieß einen Fluch aus, der jedem Bierkutscher zur Ehre gereicht hätte. »Wieso erwarten die uns hier?«
»Erwarten?« Helen machte runde Augen.
»Yeah…« dehnte Sam Bush. »Es sieht so aus, als hätten sie unseren Heimatkurs genau gekannt und wollen uns einkesseln.«
Estrella wollte nach draußen eilen, doch Helen hielt sie fest. »Wieso Heimatkurs?«
»Später Kleines«, entgegnete Estrella in zornigem Ton. Doch Helen ließ sich nicht einschüchtern. »Stop! Du hast mich zu deinem Commodore gemacht. Also habe ich ein Recht auf die Wahrheit.«
Die Augen der Corsarin blitzten, als sie zischte: »Ich sage es dir, falls du diese Nacht überlebst, C o m m o d o r e .«
Dann rannte sie Bush hinterher, der bereits seine Anordnungen gab.
Helen folgte der Corsarin.
Inzwischen herrschte finstere Nacht. Der Himmel hatte sich zugezogen und verdeckte Mond und Sterne. Es handelte sich um den zweiten Glücksfall.
Helen sah in mehreren hundert Yards Entfernung die Signallaternen der besagten Fregatte. Von einem anderen Schiff war nichts zu sehen.
»Hart Backbord!«, rief Bush.
Ehe er weiteres äußern konnte, sagte Helen gedämpft, aber bestimmt: »Mr. Bush – wir sollten die schützende Nacht nicht aufs Spiel setzen, in dem wir durch Laute unsere Position bekannt geben. Es sieht nämlich nicht so aus, als ob der Gegner diese kennen würde. Er vermutet nur.«
Bush klappte überrascht den Mund zu. Helen fing einen anerkennenden Blick der Corsarin auf. Also fuhr sie selbstsicher fort: »Ab jetzt will ich keinen Laut mehr hören. Nicht mal ein Räuspern. Ich würde das sonst als Meuterei auffassen!«
Was der letzte Satz auf See bedeutete, wussten alle. Plötzlich verwandelte sich die SILVER STAR in ein Geisterschiff.
»Das war nicht notwendig«, flüsterte Estrella ihr in Ohr. »Keiner von den Jungs will sein Leben auf einer englischen Folterbank beenden.«
Helen machte ein verächtliches Gesicht. »Aber einer davon muss den Engländern deine Route zugespielt haben.«
Trotz der Dunkelheit merkte Helen, dass die Corsarin blass wurde. Helen wandte sich zu Bush um.
»Mr. Bush«, zischte sie. »Bringen sie unsere Gefangene unter Deck. Knebeln und in Ketten legen.«
»Ay, ay, Commodore«, kam es zurück.
Doch als zwei Matrosen Mirelle – die ängstlich auf einem großen zusammengerollten Tau saß – ergreifen wollten, schrie diese plötzlich lauthals um Hilfe.
»Scheiße!« entfuhr es Helen. Sie machte zwei gewaltige Sprünge auf Mirelle zu und schlug sie einfach k.o.
Entsetzt und atemlos lauschte alle auf der SILVER STAR in die Nacht. Hatte man den Schrei auf der Fregatte gehört?
Helen prüfte den Wind. Er wehte vom Gegner weg. Nach dem Schein der Laternen mochte der Abstand zwischen den Schiffen auch mehr als achthundert Yards betragen.
Bange Minuten vergingen. Endlich atmete Helen auf. Sie merkte auch, dass um sie herum Erleichterung herrschte.
»Weg mit der Dame«, knurrte Helen.
Rasch wurde die Französin unter Deck gebracht.
Die Corsarin stand nun dicht neben ihrem Commodore und flüsterte hochachtungsvoll: »Du besitzt verdammt gute Nerven. Deo mio! Der Hieb saß!«
»Hm…« machte Helen. »Da gab es doch schon eine andere Gelegenheit …«
»Si – aber du überrascht mich immer wieder neu.«
»Jetzt werden wir uns unterhalten, meine Liebe«
Helens Stimme besaß einen gemein gefährlichen Unterton.
Mirelle begann zu zittern.
Helen hatte sie an den gefesselten Handgelenken im Bugraum hochgerissen und ein Seil durch die Kette der Handschellen gezogen. Ein Ruck und die Französin stand nur noch auf den Zehenspitzen – halb unter der Decke des Laderaums hängend.
Mit drohendem Gesichtsausdruck fingerte die Engländerin nach der Bullenpeitsche, die an einem rostigen Haken an einem Balken hing.
Mirelle bewegte stumm die trockenen Lippen.
»So – Verehrteste, wer ist deine Kontaktperson bei den Engländern?«
»Isch verschtähe nisch«, kam es völlig verunsichert aus dem Mund der Französin.
Helen lachte höhnisch. »Ah – du verschtähst nisch …« äffte sie Mirelles Aussprache nach. »Vielleicht verstehst du das besser!«
Mit einer raschen Bewegung riss sie ihr das Oberteil des Kleides herunter.
»Mon Dieu!« schrie die Französin auf. »Was tut ihr?«
»Ich frage dich ein letztes Mal. Wem hast du den Kurs der SILVER STAR verraten?«
Mirelle wand sich in den Fesseln. »Aber … Aber isch …«
Das Aufklatschen der Peitsche auf dem nackten Bauch der Französin und der helle Aufschrei waren für das Ohr zeitgleich.
Eine dicke blutunterlaufene Strieme bildet sich sogleich.
Zisch! Der zweite Schlag quer über die Brüste. Mirelles neuer Schrei verebbte ins Wimmern. »Oh bitte … ’ört auf damit. Isch ’abe nichts getan. Was sollte isch väraten ’aben?«
Helen trat dicht an ihre Gefangene heran. »Den Kurs der SILVER STAR.«
Mirelle warf den Kopf nach hinten und jammerte: »Aber … woher sollte ich den denn kennen?«
»Ja – woher?«
Helen wirbelte herum. Lässig an einen Querbalken gelehnt erkannte sie die Corsarin im diffusen Licht des Bugraumes.
»Das werde ich aus dir herauspeitschen!«
Die Französin zerrte an ihren Handfesseln. »Bitte! Ich ’abe nischts väraten … ’ört auf … bitte!«
Estrella stieß sich von dem Balken ab und legte Helen ihre Hand auf den Arm. »Lass sie los«, sagte sie leise. »Sie konnte und kann den Kurs nicht kennen. Wenn es einen Verräter gibt, müssen wir woanders suchen.«
Helen ballte die Fäuste und warf dann die Peitsche in die Ecke. »Bis morgen bleibst du hier hängen, du französisches Flittchen!«
Estrella zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ja voll in Fahrt.« Dabei blickte sie Helen forschend an. Dann zog sie Sie mit sich. »Komm! Ich erkläre dir etwas.«
Oben an Deck rief sie: »Mr. Bush – was machen unsere Verfolger?«
»Nichts zu sehen, Lady Captain.«
»Schickt zwei Mann in den Ausguck!«
»Ay, ay!«
In der Kajüte goss die Corsarin zwei Becher halbvoll mit Rum. Einen reichte sie Helen. »Du entwickelst dich zum verdammten Piratenweib.« Sie deutete auf die Karte. »Hier! Pass auf!« Ihr rechter Zeigefinger lag jetzt fest auf der Markierung.
»Hier liegt eine Insel. Nicht sehr groß – etwa acht Meilen in der Länge und sechs Meilen in der Breite. Sie ist auf keiner Seekarte verzeichnet. Ich entdeckte sie vor langer Zeit zufällig. Selbst wenn ein Seefahrer zufällig auf dieses Eiland stößt, wird er es nicht wagen, sich den scheinbar undurchdringlichen, weit vorgelagerten Klippen zu nähern.«
Sie nahm einen Schluck aus dem Becher.
»Ich allein kenne die Durchfahrtsmöglichkeit!«
Helen saß auf dem Rand des Kartentisches und ließ die Beine baumeln. Abwartend schaute sie die Corsarin an. Diese fuhr fort: »Die Insel besitzt alles, was wir zum Leben brauchen. Früchte wachsen dort, es ist Korn angepflanzt worden und es gibt Wasser im Überfluss. Durch eine dicht bewaldete Flusseinfahrt gelangt man in einen kleinen natürlichen Hafen. Gerade so groß, dass die SILVER STAR manövrieren kann. Von See her ist absolut nichts zu sehen. Eine Gebirgskette schützt uns vor Sturm.«
Die Corsarin lächelte. »Ein Paradies! Ich nenne es Albany’s Land.«
Helens Mundwinkel zuckten, ehe sie fragte: »Albany’s Land? Wie kommst du auf diesen Namen?«
Die Corsarin setzte sich auf den Diwan und ihr Blick wurde abwesend. »Meine Mutter besaß den seltenen Vornamen Albany.«
Sie schwieg einige Sekunden, ehe sie nachsetzte: »Ich habe sie sehr geliebt.«
Helen hatte einen trockenen Mund bekommen. Leicht rostig wollte sie wissen:
»Was ist mit … deiner Mutter geschehen?«
Estrella sog scharf die Luft durch die Nase ein. »Sie wurde ermordet. Von verdammten Inglis.«
Helen stürzte den Rest des Rums in ihrem Becher, durch die Kehle. Dann stand sie auf und setzte sich neben Estrella. »Wann werden wir die Insel erreichen?«
Die Corsarin schaute sie an. »Ich hoffe in vier Tagen – wenn alles gut geht.«
»Es ist die LEGACY«, knurrte Bush plötzlich und starrte mit zusammengekniffenen Augen zum matten Schein der Schiffslaternen hinüber. »Eine der best bewaffnetsten Fregatten seiner Majestät.«
»Woher wollt ihr das wissen, Sam?« flüsterte Helen.
Bush wandte sich halb um. »Ich erkenne es an den hinteren Laternen, Commodore. Die dritte Lampe – die Backbordlampe – ist schief. Seht ihr das?«
»Hm – ja – ihr habt Recht.«
»Das passierte in einem Gefecht vor vier Jahren an der Mündung des Orinoco mit einem Spanier.«
»Ihr wisst gut Bescheid.«
Der Alte lachte krächzend. »Yes, Lady-Commodore. Zu der Zeit war ich Maat auf der Legacy.«
Helen setzte das Fernrohr an und musterte den Gegner. Verwaschen erkannte sie hinter dem Schiff einen weiteren Lichtschein. Sie setzte das Rohr ab und reichte es Bush.
»Sehen sie mal hinter die Fregatte. Was halten sie davon?«
Bush folgte der Blickrichtung und flüsterte: »Hang and Denations! Eine weitere Fregatte. Hundert Yards hinter der Legacy.«
Helen atmete tief aus. »Also bedeutet das, man hat uns wirklich erwartet und will die SILVER STAR in die Zange nehmen.«
»So sieht es aus. Aber wer konnte den Kurs an die Engländer verraten?«
Helen rieb sich das Kinn. »Wie oft fahrt ihr den Kurs? Und wo führt er hin?«
Der Erste malte mit den Kiefern. »Hat euch das die Lady nicht gesagt?«
»Nein – das habe ich nicht!« kam es hart, wenn auch gedämpft von der Corsarin.
Helen drehte sich zu ihr um und stellte sich ganz nah vor sie. »Schön! Dann falle ich als Informantin wenigstens aus. Dann denkt mal scharf nach, wer der Maulwurf unter eurer Mannschaft ist. Jemand, der den Kurs x-mal mit euch gefahren ist und auch weiß, – obwohl die Seekarte nichts zeigt – wie das Ziel aussieht.«
Sie stemmte die Arme in die Seiten und schleuderte der Corsarin wutschnaubend entgegen: »Es ehrt mich, dass ihr mich zum Commodore ohne Wissen gemacht habt! Seht zu, dass ihr nicht bald auf dem Grunde des Meeres liegt!«
Damit entfernte sie sich raschen Schrittes und verschwand auf dem Oberdeck.
Estrella stampfte mit dem Fuß auf. »Bitch!«
Sam Bush legte den Arm um Estrellas Schultern. »Es ist allein deine Entscheidung, aber sie hat Recht. Weshalb machst du sie zu deiner Stellvertreterin, wenn du ihr die wichtigsten Informationen vorenthältst? Entweder du vertraust ihr – oder du tust es nicht. Dann allerdings, hättest du sie besser verkauft.«
Estrella blickte schweigend zu Boden.
Der Alte nahm seine Arme herunter. »Ich denke, Lady-Captain – unser Commodore weiß, wie wir der Falle entrinnen können.«
»Wieso sollte dieses Weib das wissen?« kam es unwillig.
»Ich habe sie beobachtet. Sie hat Salzwasser im Blut. Genau wie ihr, Captain.«
Wortlos marschierte Estrella zum Oberdeck hinauf.
Helen lehnte an der Reling und starrte auf das tiefschwarze Meer.
Die Wogen rauschten an der SILVER STAR vorbei und schienen ihre eigene Melodie zu spielen.
»Wieso kennst du dich auf dem Wasser so gut aus?«
»Ich sagte es dir schon einmal.«
»Das genügt mir nicht!«
Helen wirbelte herum. »Hör zu, du allgewaltige Herrin der sieben Meere – du bist bestimmt eine exzellente Seefahrerin. Aber auch ich habe die Schiffsführung von der Pike auf gelernt. Das genügt erst mal. Wenn d u Vertrauen zu mir fasst, dann erhältst du auch das meinige.«
Nach kurzer Pause fügte sie an: »Wir haben noch etwa fünf Stunden, um aus diesem Mauseloch herauszukommen. Zwei Engländer liegen dort vorn.« Sie zeigte zur LEGACY hinüber. »Die andere Fregatte wird uns im Morgengrauen eingeholt haben. Was dann passiert, kannst du dir an den Fingern einer Hand ausrechnen!«
Der Busen der Corsarin hob und senkte sich nervös. Sie musste zugeben, dass sie nicht wusste, wie sie aus dieser verfluchten Falle herauskommen sollte. Die Engländer hatten sie völlig überrascht. Niemals war hier in diesem Breitengrad ein anderes Schiff aufgetaucht.
»Du hast eine Idee?« fragte sie rau.
Helen ergriff Estrellas Hand. »Komm zu Sam Bush. Wir schaffen das!«
Alle an Bord der SILVER STAR hielten den Atem an.
Bush stand der Schweiß auf der Stirn. Die Corsarin griff sich an den Hals.
Helen stand am Bug und ihre Augen schienen die immer größer werdenden Hecklaternen der LEGACY verschlingen zu wollen.
Nur noch fünfzig Yards trennten die beiden Schiffe.
Die Mannschaft machte sich bereit. Zwanzig Mann hingen in den Wanten. Die Corsarin zog ihre Stiefel und die verzierte Jacke aus. Sie benötigte Bewegungsfreiheit.
»Das ist das größte Wahnsinnsunternehmen, das mir je untergekommen ist«, zischte sie Bush zu, der seinen Degen umkrampfte.
Helen gab ein Zeichen zu einem Mann, der direkt hinter ihr stand. Der gab das Zeichen weiter an einen anderen, der es wieder an den Steuermann weitergab.
Kein Lichtschein, kein Laut drang von Bord der SILVER STAR.
Nur das Meer rauschte.
Bis auf ein Notsegel hatte Helen alle Leinwand entfernt. Die Masten waren in der Finsternis nicht auszumachen.
Wie ein Phantom näherte sich das Schiff in gerader Linie dem Heck des Engländers.
Noch dreißig Yards!
Zwanzig … zehn …
Wuummm!!!
Es krachte! Holz splitterte! Es knarrte und kreischte!
Die SILVER STAR legte sich nach rechts über, schaukelte zurück – ächzte in den Fugen, als wolle der Klabautermann sich befreien …
Was auf der LEGACY vorging, konnte man von der SILVER STAR her nicht erkennen. Doch plötzlich erschallten Schreckensrufe. Alles schien durcheinander zu laufen.
»Angriff!« donnerte die Stimme der Corsarin über das Deck.
Die Männer in den Wanten sprangen auf das Hinterdeck des Engländers. Gleichzeitig ließ Helen die Bugkanone zünden.
Krachend und jaulend jagte die Kugel durch den Schiffsrumpf der LEGACY – durchbrach die Kapitänskajüte und zog seine Bahn über das gesamte Schiff.
Der hintere und der Mittelmast barsten. Holz schleuderte in tausenden von Splittern durch die Nacht. Die Masten stürzten und begruben zahlreiche englische Seesoldaten unter den Segeln.
In mitten dieses Chaos jagten die Corsarin und ihre Männer hinein.
Es entspann sich ein Kampf, der in die Geschichte der Seefahrt eingehen sollte.
Helen rammte einem englische Offizier ihren Degen bis zum Heft in den Leib. Gurgelnd sackte er zusammen.
Da entstand auf der zweiten Fregatte Bewegung. Doch sie befand sich zu weit entfernt um direkt eingreifen zu können. Auf ein Schiff der eigenen Nationalität einfach zu schießen – dazu konnte sich wohl der Kommandant nicht durchringen, zumal er nicht genau ausmachen konnte, w a s eigentlich los war.
»Feuer legen!« schrie Helen durch das Getümmel.
Bald flackerte hier und dort Segeltuch auf. Das Feuer fraß sich rasch fort und in kürzester Zeit stand die gesamte LEGACY in hellen Flammen.
»Zurück auf die SILVER STAR!« ertönte die Stimme Estrellas durch das Inferno.
Das Feuer hatte das Heck des Engländers noch nicht erreicht, als die SILVER STAR volle Leinwand setzte und der Steuermann in einem Husarenstück das Schiff von der brennenden LEGACY löste.
Der Engländer bekam noch einen Anschubs, so dass diese schwimmende Fackel rasch auf die zweite Fregatte zutrieb. Dort versuchte man hektisch Ausweichmanöver einzuleiten.
Um die SILVER STAR konnte sich niemand kümmern.
Wie ein Pfeil jagte sie durch die Nacht und bald sah man nur noch weit hinten am Horizont den Feuerschein.
Bush klatschte in die Hände. »Alle Teufel! Die müssen jetzt ihre eigene Haut retten.« Er sah Helen, rußverschmiert und schwer atmend in seiner Nähe stehen. Er rannte auf die junge Frau zu und schloss sie in seine mächtigen, sehnigen Arme.
»Bei allen Londoner Henkern – so ein Stück aus dem Tollhaus habe ich noch nie erlebt!«
Sam Bush schüttelte den Kopf. Die Pfeife wechselte vom linken Mundwinkel in den rechten. Er schaute Helen nach, die leichtfüßig die Treppe zum Oberdeck erklomm. Die Mittagssonne blitzte in den Paietten ihrer Uniform.
»Wenn ich es nicht wüsste …« brummelte er. Dann wandte er sich ab und rief einem Matrosen einen Befehl zu.
»Sam…«
Der Alte wirbelte herum. Die Corsarin stand direkt hinter ihm. Er hatte sie nicht gehört. Als er genauer hinsah, wurde ihm auch klar weshalb. Estrella trug nur Hemd und Hose. Sie lief barfuss.
»Ich will auf den Mast«, meinte sie beinahe entschuldigend, als sie den Blick Sams bemerkte.
Der Erste nickte. »Wir sind bald da – schätze ich.«
»Si – und ich will nicht wieder von einem dreimal verfluchten britischen Kriegsschiff überrascht werden.«
Damit sprang sie auf die Reling und affengleich jagte sie die Wanten hoch.
Helen beobachtete alles vom Oberdeck.
»Albany…« flüsterte sie. Nur der Wind hörte es.
Dann flogen ihre Stiefel auf die Planken und sie sauste Estrella nach.
Hoch oben – auf der höchsten Rahe – nur an einem Seil sich festhaltend – pfiff es ihnen um die Ohren. Es knatterte ohrenbetäubend in den Segeln.
Estrella wandte den Blick nicht vom Horizont, als sie rief: »Da bist du ja endlich!«
Nun war es Helen, verblüfft zu sein. »Woher konntest du wissen, dass ich kommen würde?«
Die Corsarin lachte so laut auf, dass es den Wind übertönte. »Ich kenne dich inzwischen so gut, dass ich dein Verhalten voraussehen kann.«
Sie deutet weit nach vorn. Dicht an dem Punkt, an dem Himmel und Wasser sich scheinbar vereinten, zeichneten sich schemenhaft Schleierwolken ab.
»Dort liegt Albany Island! Morgenfrüh sind wir dort!«
Helen hatte den Kopf wegen des Windes ein wenig nach links gedreht. Ihr Körper verkrampfte sich.
»Oder auch nicht!« rief sie.
Die Corsarin kam auf der Rahe einen Schritt näher. »Was sagst du?«
Dann folgte sie Helens Blickrichtung.
»Santa Lucia! Rameras!«
Ein gewaltiger Viermaster zeichnete sich wie ein Scherenschnitt gegen die Sonne ab.
»Sie geben nicht auf!« schrie die Corsarin durch das Knattern in der Leinwand.
»Können wir eher auf Albany sein als unser Verfolger?«
Estrella schüttelte den Kopf. »Ich werde den Teufel tun und den Kurs beibehalten. Wenn sie uns umzingeln, finden sie irgendwann einen Weg an Land. Noch kennen sie vielleicht nicht die genaue Lage unseres Nestes. Komm!«
Mehr rutschend als Kletternd hastete Estrella Avilla de Aragon nach unten. Sam Bush hatte wohl bemerkt, das etwas nicht stimmte und schaute seinem Lady-Captain fragend entgegen. Von hier unten war der Viermaster nicht auszumachen.
»Verfolger etwa dreißig Meilen an Backbord.«
Bush schluckte. »Engländer?«
Die Corsarin zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Es ist auch egal, ob es ein verfluchter Inglis, ein Spanier oder ein Franzose ist. Sie jagen uns inzwischen gemeinsam.«
»Kleines oder großes Schiff?«
»Vier Masten. Hinten überstehende Kajüte.«
Bush bekam einen trockenen Hals. »Überstehende … dreimal verfluchte Scheiße!«
Estrella, die sich schon umdrehen wollte, blieb wie angewurzelt stehen. Sie fragte über die Schulter: »Du kennst das Schiff?«
»Der Beschreibung nach kann es nur die Discovery sein. Vierzig Kanonen auf zwei Decks. Nicht das neueste Schiff seiner Majestät, aber umso gefährlicher.«
»Jemand muss von der obersten Mastspitze den Gegner ständig beobachten. Außerdem Kurswechsel auf zweizwei Süd.«
»Ay, ay« bestätigte der Erste.
Im Verlauf der nächsten Stunden meldete der Ausguck, dass der Verfolger nicht mehr zu sehen sei.
Estrella stand neben Helen. »Vermutlich hat er unseren Kurswechsel nicht mitbekommen und ist weiter auf Albany Island zugefahren.«
Helen rieb sich das Kinn. »Das bedeutet aber, dass wir unser Ziel vorerst nicht ansteuern können.«
Die Corsarin atmete tief durch. »Wir müssen! Es leben dort etwa dreißig Menschen für die ich verantwortlich bin.«
Auf den fragenden Blick Helens, erklärte Estrella: »Es gibt zahlreiche Menschen, die zu unrecht eingekerkert worden sind, nur weil sie mit den Maßnahmen ihrer Regierungen nicht einverstanden gewesen sind. Menschen, die auch nur anderer Ansicht waren als ihr Regime. Wo immer ich solche Unglücklichen befreien konnte, habe ich es getan. Auf ALBANY haben sie eine Heimat gefunden.«
Helen musste wieder einmal feststellen, dass die harte Schale der Corsarin nichts anderes als eine Fassade darstellte.
Nach einer Weile fragte sie: »Wieso erhielt deine Mutter den merkwürdigen Namen Albany?«
Die Gestalt der Corsarin straffte sich. »Das geht dich nichts an!« knurrte sie und entfernte sich rasch. Sie winkte Sam Bush zu sich. »Wir müssen ALBANY weiträumig umfahren. Ich muss wissen, ob sich noch mehr Feinde in der Nähe aufhalten.«
Es wurde tiefe Nacht, bis die SILVER STAR im weiten Bogen die Insel umrundet hatte. Von einem Feind zeigte sich weit und breit nichts.
»Bueno«, flüsterte Estrella und wischte sich über die Augen. »Wir laufen die Klippenfurt an.«
Laut rief sie zu ihrem Ersten: »Mr. Bush – bereit machen zur Durchfahrt!«
»Ay, ay – Lady!«
Die Segel wurden bis auf zwei kleinere eingeholt.
Schaumkronen zeigten trotz der Dunkelheit die scheinbar undurchdringliche Riffbarriere an. Helen stand an der Steuerbordseite und starrte gebannt auf diesen natürlichen Schutzschild der Insel. ALBANY selbst mochte wohl noch acht Meilen innerhalb dieser tödlichen Riffe liegen. Ihr war absolut schleierhaft, wie Bush – auch noch mitten in der Nacht – hier eine Durchfahrt finden sollte.
Estrella rannte vorn zum Bug und kletterte ganz weit auf die Spitze des Schiffes.
Bald schallten ihre Tiefenangaben über das dunkle Deck. Sämtliche Laternen waren auf ihren Befehl gelöscht worden.
Das Tosen der Wogen, die sich an den Riffen brachen nahm immer mehr zu und schwoll zu einem wahrlichen Dröhnen an. Die Gischt spritzte. Bedenklich nahe kamen die scharfen Felsen der SILVER STAR.
Eine winzige falsche Steuerreaktion und …
Helen schloss die Augen. Ihre Finger umkrampften die Reling. Sie spürte den Schmerz bis in die Schultergelenke.
Da schallten die Jubelrufe über das Deck.
Geschafft!
Helen konnte nur erahnen, dass sie sich wieder im freien Wasser befanden. Die SILVER STAR glitt mehr dahin, als dass sie fuhr.
Die Corsarin kehrte vom Bug zurück und sprach leise mit Bush. Danach kam sie zu Helen herüber.
»Jetzt folgt uns so rasch kein verdammter Engländer mehr«, bemerkte sie leise.
»Hoffentlich sind deine Feinde nicht längst da.«
Estrella zuckte zusammen. Das konnte Helen selbst bei der Dunkelheit erkennen.
»Mierda! Das ist nicht möglich! Diese Fregatten haben zu viel Tiefgang. Die kommen nicht durch die Klippen.«
Helen zuckte leicht die Achseln. »Trotzdem solltest du Küstenwachen aufstellen.«
Estrella starrte schweigend in die Finsternis. Nur die Wellen rauschten. Das Riff bildete auch eine Barriere gegen die Gewalten des Meeres und so schwamm die SILVER STAR ruhig wie in einem Binnensee.
»Achtung, Mr. Bush!« rief Estrella plötzlich.
»Keine Sorge, Captain – wir kommen glatt durch die Einfahrt!« kam es zurück.
Helen erkannte, dass sich das Ufer rasch näher schob. Das Schiff glitt in eine Art Flussmündung. Tiefhängende Äste und Zweige streiften die Takelage und die Deckaufbauten. Es knirschte und knarrte. Dann erweiterte sich die Wasserfläche wieder und vereinzelt drangen Lichter aus dem Baum- und Buschwerk. Sie spiegelten sich auf der Wasseroberfläche.
Die Corsarin deutete zu dem Lichterschein. »Albany.«
Beinahe lautlos glitt die SILVER STAR näher und bald kam der Pier in Sicht.
Ein Signalhorn ertönte und in kürzester Zeit strömten unzählige Menschen – Frauen, Männer und Kinder – auf die Anlegestelle zu.
Estrella legte Helen den Arm um die Schulter. »Siehst du – das ist meine Verantwortung, die ich trage.«
Gewaltiger Jubel erhob sich, als die SILVER STAR festmachte.
Ein großer, muskulöser Mann – ein wahrer Hüne – mit gutmütigem Gesicht und wirrem blondem Haar, legte eine Art Fallreep an. Estrella verließ als erste das Schiff. Der Hüne machte einige rasche Schritte auf sie zu und nahm sie stürmisch in die Arme.
Helen stand an der Reling.
»Das ist Bridge Butters«, kam es leise hinter der Engländerin. Sam Bush lehnte sich neben sie an das Geländer und schmauchte an seiner Pfeife. »Er ist so eine Art Bürgermeister hier und …«
Helen bemerkte das Zögern und wandte den Kopf seitlich zum Ersten. »Und..?«
Bush räusperte sich. »Er ist bis zur Selbstaufgabe in Estrella verliebt.«
Helen atmete tief durch. »Sieht gut aus, der Bursche. Und …liebt sie ihn?«
»Er hat ihr zweimal das Leben gerettet. Es war …« Ein Ruf unterbrach Bush. Es war der Bootsmann. »Der Ausguck meldet Lichter vor dem Riff!«
»Thunderstorm!« Bush spuckte ins Wasser. »Verfluchte Engländer! Haben sie sich doch hergetraut…«
Er drehte sich um. »He!« rief er dem Schiffsjungen zu. »Hol den Lady-Captain!«
»Wartet!« fiel Helen ihm in den Satz.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte der Alte die Engländerin an.
Helen legte die Hand auf den Griff ihres Degens. »Sucht vier Mann aus und lasst ein Boot zu Wasser. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.«
»Ihr?« fragte Bush verblüfft.
»Ich! Denn ich bin auf diesem Schiff der Commodore. Habt ihr das vergessen, Mr. Bush?!«
Nach kurzem Zögern grunzte der Alte ein » Ay, ay« und führte den Befehl aus.
»Die halbe Besatzung bleibt für den Notfall an Bord!« erweiterte Helen noch den Befehl.
Wenig später befand sich ein Beiboot im Wasser. Vier Mann besetzten die Ruder. Bush sprang hinter Helen ins Boot.
Als er Helens Stirnrunzeln bemerkte, erklärte er leise, aber vernehmlich: »Entweder ihr nehmt mich mit oder ihr müsst mich umbringen.«
Trotz der Lage musste Helen lächeln. Sie legte dem alten erfahrenen Seebären die Hand auf den Arm und meinte: »All right, Mr. Bush.«
Das Boot legte ab und die Männer stemmten sich in die Riemen. Schnell, aber fast unhörbar glitt das Boot in immer rascherer Fahrt den Flussarm entlang auf die verdeckte Einfahrt zu.
Die Stimmen vom Kai verebbten immer mehr und jetzt drang nur noch das Rauschen des Wassers an das Ohr der Bootsbesatzung.
Helen lehnte sich zu Bush herüber, der im Heck saß, und fragte leise: »Wie ist die andere Seite der Insel beschaffen?«
»Hm – da kommt erst recht niemand durch. Die Riffe ragen noch weiter ins Meer, sind noch tückischer und zum großen Teil unsichtbar unter der Wasseroberfläche. Hinzu kommt eine Steilküste – ähnlich den Felsen von Dover. Aber aus Granit und völlig senkrecht.«
Helen biss sich auf die Lippen. Dann meinte sie: »Also auch für erfahrene Kletterer keine Chance?«
Der Alte lachte leise vor sich hin. »Seid ohne Sorge, unsere Lady hat das alles überprüft. Außerdem gibt es auf dem höchsten Punkt der Küste zwei Wachtürme.«
Helen runzelte die Stirn. »Weshalb hier dann keine Wachen?«
Bush grunzte belustigt. »Jede Menge, Commodore. Nur sieht man sie nicht.«
Er deutete auf eine Baumkrone, die sich durch besondere Dichte auszeichnete. »Dort sitzen zwei Leute.«
»Ausgezeichnet! Trotzdem will ich zur Mündung des Wasserarms. Ich traue den Engländern nicht.«
»Das sagt ihr ?«
»Vergesst nicht, dass ich keine reinrassige Britin bin.«
»Ah ja …« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Der Lady-Captain erzählte mir, euer Vater habe die CIRVA VERDE kommandiert.«
»Richtig, Mr. Bush.«
»So ist ihr Vater kein Engländer?«
»Gewesen. Mr. Bush. Mein Vater fiel vor dem Hafen von Neu Orlean. Ein Scharfschütze in der Takelage eines englischen Schiffes.« Sie schwieg einige Sekunden und setzte fort: »Mein Vater war Admiral der spanischen Krone. Bis man ihn wegen seiner Kritik an der Politik gegenüber der Siedler in der Neuen Welt unehrenhaft aus der Marine warf. Er wurde zum Freibeuter.«
Bush knurrte etwas in seinen Bart, was sich wie: ‚ so war das’, anhörte.
Dann hatten sie den letzten Schutz des Bushwerkes an dem in die Insel ragenden Wasserarms erreicht.
»Ruder still!« befahl Bush.
Das Boot glitt zwischen den dicht hängenden Vorhang aus Buschwerk und Baumkronen. Einem Uneingeweihten musste hier scheinbar die Zufahrt versperrt sein.
Weit draußen – etwa zwei Meilen entfernt – drang der matte Schein von Schiffslaternen herüber.
»Sie trauen sich nicht näher heran«, knurrte Bush. »Trotzdem bereitet es mir Sorgen.«
»Wie sieht es mit Schwimmern aus?« wollte Helen wissen.
»Die würden in kürzester Zeit von Haien und Moränen zerfetzt werden.«
Helen hatte ihr Fernrohr aus dem Futteral gezogen, doch auch damit konnte sie nicht viel mehr ausmachen, als dass es sich da draußen um einen Schoner handelte.
»Sehr ungewöhnlich, dass die britische Marine hier mit einem Schoner herumfährt.«
Dem musste der Erste zustimmen, fand aber auch keine Erklärung. »Eine Viermastbark hätte ich eher gelten lassen.«
Helen holte tief Luft. »Mr. Bush – ich fürchte, wir haben es mit einem Spähkommando zu tun. Estrella muss die Wachen verdoppeln und noch an anderen Punkten der Insel postieren.«
Als sie in den Ort zurückkehrten, hatte sich der Mainplace in einen Festplatz verwandelt.
Sam Bush lachte knurrend. »Yeah – wenn Estrella heimkehrt, wird sie wie eine Königin begrüßt.«
»Demnach ist das hier euere richtige Heimat, während Estrellas Schwester in Amerika ihr Zuhause sieht und dort für die Freiheit kämpft«, stellte Helen fest.
Sie schaute Bush dabei von der Seite her an.
Der wiegte den Kopf und brummte: »So ist es nicht ganz richtig. Hier leben Menschen, die zu Unrecht von Regierungen eingekerkert worden sind. Nur – weil sie anderer Meinung oder eines anderen Glaubens waren. Solche Menschen finden sich auch in der Neuen Welt. Aber für diese Leute hier ist es auf ALBANY sicherer. Außerdem unterstützt Estrella ihre Schwester. Dazu benötigt sie natürlich einen unabhängigen Stützpunkt.«
Helen blieb stehen. »Wieso trug Estrellas Mutter diesen eigenartigen Namen – Albany. Er passt nicht ins Spanische und nicht ins Englische so recht.«
Der Alte war nun auch stehen geblieben und zündete nachdenklich seine Pfeife an.
Zwischen zwei mächtigen Rauchwolken brummte er dann: »Es ist irisch. Aber das wisst ihr doch, Commodore.« Damit stapfte er davon.
Helen presste die Lippen aufeinander.
Ja! Sie wusste es. Doch jetzt besaß sie Gewissheit.
Die Corsarin befand sich mitten im Getümmel der Bewohner von ALBANY. Keine Chance, an sie heran zu kommen.
Etwas abseits stand Mirelle, die Französin. Helen beschleunigte ihre Schritte und stand bald neben ihr. »Na – wo steckt dein Komplize?« zischte sie.
Die Französin zuckte zusammen. Selbst bei dem flackernden Fackellicht konnte man sehen, wie sie blass wurde.
»Mademoiselle – wes’alb denkt ihr immer noch, isch sei eine Verräterin?«
Helen ließ den Blick verächtlich an ihrer Gestalt in dem ramponierten Kleid entlang gleiten. »Weil ich euch nicht traue!«
Damit drehte sie sich abrupt um und machte sich auf die Suche nach der restlichen Besatzung der SILVER STAR.
Bush konnte sie nicht entdecken, dafür den Bootsmann. Ein vierschrötig wirkender Typ, aber mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Erstaunt hörte er sich den Bericht Helens an.
»Ihr habt Recht, das ist brisant. Doch sollten wir nicht vorher die Genehmigung des Captain einholen?«
Helens Augen begannen gefährlich zu funkeln. »Senốr Paco – vergesst nicht, dass mich der Captain zum Commodore der SILVER STAR ernannt hat.«
Der Bootsmann senkte den Blick verlegen zu Boden. Dann murmelte: »Verzeiht – ich werde mich sogleich um alles kümmern.«
Er huschte davon. Helen lächelte still. Sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
Plötzlich wurde sie an den Armen ergriffen und ehe sie sich versah befand sie sich mitten im Tanzgetümmel. Sie hatte keine andere Wahl – sie musste mitmachen …
Der Himmel über ALBANY am nächsten Morgen stellte eine Pracht dar.
Tiefes Blau wechselte mit zierlichen Federwölkchen.
Helen hatte ein herrliches Bad in einem natürlichen Felsenbecken, nahe der Ansiedlung genommen und fühlte sich nun frisch zu neuen Taten fähig. Das leichte Leinenkleid hatte sie von einer Mrs. Fowler erhalten, bei der sie übernachtet hatte.
Irgendwie war es dieser alten Dame gelungen, sie aus dem fürchterlichen Trubel herauszufischen.
»Ich glaube Kindchen, sie suchen eher einen etwas ruhigeren Platz«, hatte sie gesagt und Helen aus der Menge herausgezogen. »Wissen sie – das ist immer so, wenn die SILVER STAR einläuft. Die Leute hier sind dann außer Rand und Band. Estrella ist so etwas wie eine Göttin für sie.«
Nun stand Helen auf einem Felsen etwas außerhalb der Ansiedlung und blickte aufs Meer. Da näherten sich Schritte. Es war Sam Bush.
»Ihr fackelt nicht lange. Alle Achtung!« grunzte er. »Der Bootsmann hat mir bereits alles berichtet.«
Helen hob leicht die rechte Augenbraue an. »Wie zeigt sich die Lage, Mr. Bush?«
»Der Schoner scheint abgezogen zu sein. Wir haben heute Morgen bereits die Küstenlinien der Insel durchkämmt. Keine Maus zu sehen. Auch keine Spuren einer heimlichen Landung.«
Helen nickte befriedigt. »Weiß die Corsarin Bescheid?«
Bush schüttelte den Kopf. »Wenn ihr sie nicht unterrichtet habt .. ?«
»Nein. Wo kann ich sie finden?«
Der Erste deutete nach vorn, auf ein großes, aus hellem Holz erbautes Gebäude mit einer breiten – von Palmen gesäumten Veranda. »Sie wohnt im Stadthaus.«
»Danke, Mr. Bush. Halten sie Augen und Ohren offen. Die Engländer ziehen nicht so einfach tatenlos ab.«
Tatsächlich traf Helen die Corsarin in einem großzügigen Wohnraum des bezeichneten Hauses an.
Sie hätte Estrella bald nicht wieder erkannt. Sie trug ein einfach wirkendes, aber doch aus kostbaren Stoffen gewebtes zweiteiliges Kleid. Sie stand an einem kleinen französischen Schreibtisch – barfuss – und schaute Helen freudig an.
»Hallo«, sie machte einige Schritte auf die Engländerin zu. »Ich hatte dich gestern gar nicht mehr gesehen. Es war ein fürchterlicher Trubel…«
»Ja – und ein englischer Schoner kreuzte die ganze Nacht vor der Insel.«
Nur mühsam verbarg die Corsarin ihren Schreck.
»Deo mio«, zischte sie. »Wir müssen die Wachen …«
Helen fiel ihr ins Wort. »Alles bereits geschehen. Auch sind die Küsten bereits nach einer illegalen Landung abgesucht worden. Aber wir müssen auf der Hut sein.«
Estrella setzte sich und lächelte. »Donnerwetter«, sagte sie dann anerkennend. »Du hast alles im Griff.«
»Du warst nicht erreichbar und jemand musste es ja tun.«
»Hast du gefrühstückt?« wollte Estrella nun wissen.
Helen verneinte. »Nur ein herrliches Süßwasserbad genommen.«
»Dann komm! Es ist alles gedeckt.«
Die Corsarin führte Helen auf die Terrasse. Ein sanfter Wind ließ ihr Haar in feinen Wellen um ihr Antlitz wehen.
»Du hast rasch gehandelt, Helen – das ist gut.«
Während die Engländerin sich setzte, bemerkte sie: »Jedenfalls scheinen deine Gegner nun den Stützpunkt zu kennen. Wenn sie auch noch keine Möglichkeit gefunden haben, auf ALBANY zu landen, so werden sie doch verhindern, dass die SILVER STAR auslaufen kann.«
Estrella lächelte überheblich. »Denkst du das? Ich bin noch immer ausgelaufen, wenn ich es wollte. Selbst in La Rochelle konnte man mich nicht festhalten.«
Helen zog die Augen etwas zusammen. Sie beugte sich weit vor und stellte fest:
»Du bist mir zu sicher! Irgendwann wird es einem Kommando gelingen, auf die Insel zu gelangen.«
In diesem Moment erschien Bridge Butter auf der Veranda.
Helen bemerkte, wie Estrellas Züge ein leichtes Glühen überzog. Kein Zweifel – dieser Mann hatte in ihr etwas entfacht. Kein Wunder bei diesem Prachtkerl durchzuckte es Helen.
Er trug eine eng anliegende Segeltuchhose und der sonnengebräunte bloße Oberkörper zeugte von Kraft und Muskeln. Es gab kein Gramm Fett zu viel an diesem Topkörper.
Helen bemerkte, dass die Corsarin voll auf diesen Typen abfuhr.
Estrella forderte Bridge auf, sich zu setzen. Er lächelte und zeigte perlweiße Zähne.
‚Oh Gott’, durchfuhr es Helen.
Estrella erzählte Bridge von dem Schoner. Als sie geendet hatte, blickte der Ortsvorsteher Helen anerkennend an. »Gute und schnelle Arbeit.«
»Danke«, quälte sich Helen mit einem müden Lächeln ab.
Er stand auf. »Ich werde mit einem Trupp die gesamte Insel durchkämmen. Sicher ist sicher!«
Mit diesen Worten verschwand er.
‚Oh, wie sie ihn anhimmelt’, zischte Helen gedanklich, als sie Estrellas Blick ausmachte, den sie dem Burschen hinterher sandte.
Sie erhob sich ebenfalls. »Ich muss auf dem Schiff nach dem Rechten sehen.«
Eilig verließ sie das Haus. Beinahe rannte sie Sam Bush um.
»Hey, junge Lady – so stürmisch?«
»Sorry, Mr. Bush.« Dann war sie an ihm vorbei.
Der Alte schob den Hut nach hinten und rieb sich das bärtige Kinn. »Ganz schön aufgewühlt, das Mädel. Hm!«
Dann stiefelte er ins Haus.
Die Sonne zeigte bereits den späten Nachmittag an, als Helen mit dem Fuß heftig auf die Planken der SILVER STAR stampfte.
Sie hatte seit dem Morgen weder etwas von Bush, noch von der Corsarin gehört.
Auf dem hinteren Oberdeck spielte die Wachmannschaft Karten. Der Rest tummelte sich in dem kleinen Ort. Vermutlich in der winzigen Schenke von Emmely Huston. Das war die alte Dame, die Helen in der letzten Nacht aufgenommen hatte.
»Wissen sie, Kindchen…« hatte sie gesagt. »…die Leute hier brauchen ein halbwegs normales Leben. Also betreiben wir Landwirtschaft – wenn auch in winzigem Rahmen – es werden Segel und Kleidung für die SILVER STAR hergestellt und wir sorgen für Abwechslung. Deshalb hat Estrella den Albany-Taler eingeführt. Jeder wird für seine Aufgaben entlohnt und kann dieses Geld in meinem Laden und der Schenke umsetzen. Das Bier braue ich selbst«, hatte sie dann noch augenzwinkernd hinzu gefügt.
Helen fuhr sich mit der Hand durch das lange Haar.
Wieso meldete sich Estrella nicht? Nahm sie die Gefahr zu leicht? Wollte sie dieses Paradies hier aufs Spiel setzen?
Da stimmte doch etwas nicht!
Kurz entschlossen verließ sie das Schiff. Sie stieg den kleinen Hügel empor und hielt dann inne. Einer Eingebung folgend wandte sie sich nach links. Dort befand sich der höchste Punkt der Insel.
Helen benötigte etwa fünfzehn Minuten bis auf das kleine Plateau.
»Verdammt!« entfuhr es ihr.
Vor der Riffbarriere lag ja eine ganze Flotte.
Helen schaute rund um, konnte aber keine der Inselwachen entdecken.
Teufel auch! W a s ging hier vor?
Helen rannte den Hügel hinunter.
Im Ort traf sie auf wenige Menschen, die von der Gefahr scheinbar nichts ahnten.
Helen stürmte das Stadthaus. Dort fand sie die Corsarin.
Aber um des Himmelswillen – was tat sie da?!
Sie befand sich auf der Veranda – summte eine Melodie vor sich hin und wiegte sich im Tanz. Sonst entdeckte Helen keinen Menschen.
Langsam trat sie näher. Was hatte das zu bedeuten?
»Estrella!« rief Helen unterdrückt. Doch die Corsarin zeigte keinerlei Reaktion.
»Captain!« wurde sie nun etwas lauter, doch gleichfalls ohne den gewünschten Erfolg.
Nun wurde es ihr zu bunt. Sie machte zwei Schritte auf die Frau zu und rüttelte sie heftig an der Schulter.
Die Reaktion war, dass die Corsarin sowohl in ihrem Tanz, wie in ihrem Gesumme innehielt. Mit weit geöffneten Augen schaute sie Helen an.
Da wusste sie es!
Die weiten Pupillen ließen keinen Zweifel aufkommen.
Die Corsarin stand unter dem Einfluss einer Droge.
Helen blickte auf den Tisch. Dort stand immer noch der Rest des Frühstücks.
Das Wasser!
Helen stürzte auf die Karaffe zu und roch daran.
In diesem Moment war sie allen Göttern dankbar, dass sie nicht dazu gekommen war, mit Estrella zu frühstücken. Die Droge befand sich im Wasser.
Aber wo war Bush?
Helen hatte ihn zuletzt vor der Haustür gesehen.
Doch zuerst musste sie die Corsarin zu sich bringen. Gehetzt sah sie sich um.
Der Weiher direkt neben dem Haus.
Kurz entschlossen warf sie sich die apathische Estrella über die Schulter, rannte mit ihrer Last zu dem Weiher und … im hohen Bogen warf sie Sie in das Wasser.
Es dauerte auch nicht lange, als eine prustende und völlig irritierte Estrella wieder an der Wasseroberfläche auftauchte.
Benommen versuchte sie auf das trockene Ufer zu klettern. Helen ergriff ihre Hand und zog sie auf den wilden Rasen.
Das schwarze Haar hing ihr in triefenden Strähnen ins Gesicht, das Kleid klebte am Körper … ansonsten wechselte ihre Mimik zwischen Unverständnis und Zorn.
»Na – wieder bei klarem Verstand?« erkundigte sich Helen.
»Was bezweckt diese blöde Frage..?« kam es krächzend.
Helen erklärte es ihr.
Danach zeigte sich das Gesicht der Corsarin noch bleicher.
Es dauerte noch etwa eine Minute, bis die unsicher auf den Beinen stehende Estrella sich der gesamten Tragweite des Gehörten bewusst wurde und sich auch ihr körperlicher Zustand stabilisierte.
»Mierda!« kam es rau aus ihrem Mund.
Helen hatte inzwischen in einer Ecke des Zimmers, in das sie die Corsarin geführt hatte, deren Degen entdeckt. Sie warf ihn ihr zu.
»Hier! Komm!«
Estrella zögerte und sah sich um. »Ich muss mich…«
Helen ergriff ihre Hand. »Zum Umziehen ist keine Zeit! Am Pranger der Engländer wärest du sowieso nackt!«
Damit riss sie die Corsarin mit sich.
Sie rannten aus dem Haus über den menschenleeren Vorplatz.
»Wo sind die…« setzte Estrella an.
»Keine Ahnung!«
»Und Bush?«
Helen blickte sich gehetzt um. »Das weiß ich auch nicht. Komm! Wir müssen auf das Plateau. Von dort haben wir einen Überblick.«
Keuchend kamen sie oben an. Als die Corsarin die Schiffsarmada sah, glaubte Helen, sie würde in den Beinen einknicken. Keine Leiche konnte bleicher im Gesicht sein.
»Ich denke mal, das Kopfgeld lockt«, kam es mehr grunzend aus dem Mund der Engländerin.
Sie legten sich flach auf den Bauch und robbten zum Rand der steil abfallenden Felsen.
Vorsichtig schoben sie den Kopf über den Rand.
Tief unten tobte die See. Nur ein ganz schmaler Streifen – ein Gemisch aus Fels und Sandanschwemmung zeigte sich zwischen Felswand und dem Meer. Gerade so breit, dass zwei Menschen nebeneinander stehen konnten.
Estrella hielt sich erschreckt die Hand vor den Mund, um keinen Schrei auszustoßen. Helen beugte sich ebenfalls nun etwas weiter vor, um zu sehen, was der Corsarin einen solchen Schock versetzte.
»Zounds! Das ist doch Butter?!« entfuhr es ihr.
Sie erfasste die Lage mit einem Blick. Butter und der zweite Bootsmann der SILVER STAR gaben taktische Zeichen zu den Kriegsschiffen hinüber.
Helen wandte den Blick zu Estrellas weit aufgerissenen Augen. »Sieh mal an – da darfst du dich nicht wundern, wenn die Engländer über jeden deiner Schritte informiert sind. Und ich hatte die kleine französische Hure im Verdacht.«
»Bridge Butter…« hauchte die Corsarin.
Helen setzte ein satanisches Grinsen auf. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder zählt für deinen Lover das Geld mehr, als deine Liebe – oder aber er will später als der große Retter auftreten, dem du nicht widerstehen kannst.«
Die Fäuste der Corsarin ballten sich. »Ich werde ihm die Haut in Streifen vom Leibe schneiden.«
Helen zupfte sie am Arm. »Dazu müssen wir erst einmal verhindern, dass die Engländer auf ALBANY landen. Bisher scheint es ihnen ja noch nicht geglückt zu sein. Los! Wir müssen unsere eigenen Leute finden.«
Die fanden sie dann zum Teil auch auf der SILVER STAR. Bewacht von zwei Albany-Siedlern und vier Engländern.
Helen und Estrella drückten sich eng hinter eine Art Ginstergebüsch.
»Verfluchte Höllenseelen!« zischte die Corsarin. »Sie sind bereits an Land!«
Helen bezweifelte das. »Ich denke, Butter hat sie mit einem Beiboot durch den Kanal geleitet. Die Kriegsschiffe an sich besitzen zu viel Tiefgang. Wir müssen unsere Leute befreien und verhindern, dass noch mehr von den Hurenböcken hier landen.«
Sie schaute zur Sonne hinauf. »In einer Stunde ist es dunkel. Dann wagen wir die Befreiungsaktion. Ich gehe davon aus, dass man unsere Leute in den Bugraum gesperrt hat. Inzwischen können wir versuchen, die anderen Menschen deiner Insel ausfindig zu machen.«
Das war in kürzester Zeit getan. In einer Scheune, nicht weit vom Stadthaus entfernt, sahen sie zwei englische Wachen.
Helen und Estrella pirschten vorsichtig in einem weiträumigen Umkreis über die Insel. Die Corsarin kannte jeden Meter im Schlaf. Als die Dunkelheit ihre Schatten ausbreitete, wussten sie, dass bisher wohl nur ein Beiboot mit zehn englischen Soldaten gelandet war. Aber mit Hilfe Butters und des zweiten Bootsmannes musste es gelungen sein, die Siedler und die Mannschaft der SILVER STAR zu überlisten. Vielleicht hatte man sie auch unter Drogen gesetzt – wie Estrella.
Estrella sprang unhörbar an Bord.
Helen folgte ebenfalls lautlos. Über den Buganker der vom Kai abgewandten Seite hatten sie die SILVER STAR geentert.
Die beiden Wächter vor dem Zugang des Bugraumes, unterhielten sich leise.
Die Corsarin wollte gerade aufspringen, um einem der Männer die Kehle durchzuschneiden, als Schritte auf dem Fallreep ertönten.
Bridge Butter betrat das Schiff. Die beiden Wächter standen stramm.
»Habt ihr schon etwas von der Corsarin gesehen?«
»Nein, Captain!« kam die Antwort.
»Haltet die Augen offen. Ihr wisst, was die Admiralität von euch erwartet.«
Damit wandte er sich um und verließ die SILVER STAR.
»Himmel und Hölle«, zischte Estrella in Helens Ohr. »Er verrät ALBANY!«
Sie hockten hinter einem Aufbau mit Süßwasserfässern.
Helen stieß einen verächtlichen Grunzton aus. »Ist doch kein Wunder. Dein Bridge Butter heißt eigentlich Tom Iverness und fuhr Jahre lang auf der CIRVA VERDE als erster Offizier. Bis mein Vater ihm nachwies, dass er für die Engländer arbeitete. Er ist einer der besten Spione der Admiralität.«
»Was?«
Estrella konnte es gerade noch verhindern, dass sie das Wort heraus schrie. Sie schluckte. »Weshalb hat dein Vater ihn nicht gehenkt?«
Helen zuckte die Achseln, was Estrella aber in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Er hätte es sicher getan. An der höchsten Rahe. Aber da erfolgte der englische Angriff. Während des Gefechtes konnte der Bursche entfliehen. Wo hast du ihn her?«
»Ich habe ihn mit sechs anderen Männern unter dem Galgen von Foway weggeholt.«
Helen lachte leise auf. »Scheinbar hat man das erwartet und dir den Kuckuck untergeschoben. Denke, der geheime Stützpunkt lag den Briten schon lange im Magen.«
Die Corsarin holte tief Atem. »Lass uns jetzt unsere Männer befreien!«
Sam Bush rieb sich die Handgelenke.
»Verfluchte Bande. Hat uns was ins Essen gemischt«, fluchte er.
Die Befreiung aus dem Bugraum hatte sich im Handstreich erledigt. Die beiden Wächter hatten keinerlei Hindernis dargestellt.
»Wo sind die anderen? Die Leute aus dem Ort?«
Helen deutete in die Richtung der Scheune, von der man gerade noch das Dach von der SILVER STAR aus erahnen konnte.
»All right!« knurrte der Alte. »Wir machen das.«
Er wandte sich um. »Wo ist die Corsarin?«
Helen blickte sich nun gleichfalls suchend um. Da sah sie einen Schatten am Ufer. Unterhalb des Centralplatzes des Ortes. Sie ahnte, was Estrella bezweckte.
»Sie will das Feuer dort beschleichen«, murmelte sie.
Busch legte ihr die Hand auf die Schulter. »Passt auf sie auf, Commodore. Sie hat es verdient.«
Helen nickte. »Ich weiß.«
Busch verschwand mit seinen Männern in der Dunkelheit. Helen folgte Estrella.
Die Corsarin lag platt hinter einem Ginstergesträuch, als Helen auftauchte.
»Busch befreit die andern?!« kam es wie eine Feststellung aus dem Mund der Corsarin gehaucht.
»Woher weißt du das?«
Estrella lachte fast lautlos in sich hinein. »Sonst wärst du nicht hier.«
Sie deutet zu dem Feuer auf dem Platz. Butter unterhielt sich mit vier Männern.
»Die hat er alle auf seine Seite gezogen. Weiß der Teufel, was er ihnen versprochen hat.«
Helen sog tief die Luft ein, ehe sie sagte: »Wir müssen wissen, was er vor hat.«
»Das wird schwierig.«
Doch da löste sich Butter von der Gruppe und verließ den Platz. Er marschierte strammen Schrittes auf einen schmalen Pfad zu, der zu dem Plateau an der Steilküste führte.
»Los!« zischte die Corsarin.
Sie folgten ihm.
Es wäre einfach gewesen, Bridge Butter jetzt zu überwältigen, doch Estrella wollte wissen, welche Pläne er verfolgte.
Oben auf dem Plateau brannte gleichfalls ein Feuer. Fünf Männer saßen dort. Butter setzte sich zu ihnen. Die Corsarin deutete auf das Buschwerk – etwa zwei Yards neben dem Feuer. Helen nickte. Wenig später lagen sie in Deckung, Butter zum greifen nah.
»Im Morgengrauen werden die Soldaten mit Beibooten an Land kommen«, sagte Butter eben.
»Glaubst ihr, Captain, sie schaffen es durch die Klippen?« fragte einer der Männer zweifelnd.
»Ich habe mir das angesehen. Es wird schwierig, aber es wird gehen. Mit den Fregatten ist das nicht möglich. Aber in wenigen Tagen werden die EXTASY und die ANNE diesen Punkt erreichen. Sie könnten die Durchfahrt zum Hafen schaffen. Dann hat es mit diesem Stützpunkt dieser Freiheitskämpfer ein Ende. Ohne den Nachschub der Corsarin bedeutet dies das Ende in der sogenannten neuen Welt.«
Estrella knirschte mit den Zähnen. Langsam zog sie die Pistole aus dem Gürtel und löste gleichfalls den Schwarzpulversack. Helen tat es ihr gleich.
Die Männer am Feuer schwiegen.
»In einer Stunde ist Wachablösung. Dann könnt ihr bis zum Morgengrauen schlafen«, erklärte Butter soeben. Da knackte der Hahn an Estrellas Pistole.
Sie und Helen standen beinahe gleichzeitig auf.
»Das wird wohl nichts, Bridge«, kam es leise, aber hart aus ihrem Mund.
Die Köpfe der Männer zuckten herum.
Butter zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen.
Estrella machte noch einen Schritt vor. »Ich habe dich geliebt, Bridge Butter. Aber du bist nur ein erbärmlicher Inglis-Spion.«
Ehe Helen es verhindern konnte, zuckte Estrellas linke Hand vor.
Das Messer fuhr Butter genau zwischen die Rippen.
Der Tod ereilte ihn noch im Stehen.
Wie zur Salzsäule erstarrt, verfolgten die Männer das blitzschnelle, für sie noch unbegreifliche Geschehen.
Der letzte Rand des Mondes versank hinter dem Horizont.
In einem verwaschenen goldenen Widerschein zeichnete sich die Meeresfläche ab, dann herrschte völlige Finsternis.
Die Beiboote stellten nur kaum wahrnehmbare Schatten dar. Sie verschmolzen mit der dunklen Wasserfläche.
Tödliche Schatten.
Helen hing weit über den Bug eines der Boote. Ihre Augen saugten sich in die Nacht.
Vier Boote insgesamt waren unterwegs, um einen Plan auszuführen, zu dem Sam Bush vor weniger als einer halben Stunde noch fassungslos gesagt hatte: »Neptun steh uns bei.« Dabei hatte er Helen angesehen, als sei sie nicht bei Verstand.
Auch die Corsarin hatte nach Luft geschnappt.
»Was bist du für ein Weib..?« hatte sie gemurmelt.
Doch dann hatte sie den Plan in die Tat umgesetzt. Lautlos bewegten sich die Ruder auf die britischen Schiffe zu.
»Eines steht wohl fest«, hatte Helen vorher noch gesagt. »Keiner dieser hier anwesenden Engländer darf jemals zur Admiralität zurückkehren.«
Das erste Schiff schälte sich wie eine gewaltige Gebirgsmasse aus der Nacht.
Nirgendwo brannte eine Laterne oder Wachfackel. Die Engländer schienen sich also doch noch nicht völlig sicher zu fühlen.
Ihre eigene Vorsichtsmaßnahme sollte ihr Pech werden.
Ehe die teils schlafende Besatzung merkte, was eigentlich passierte, hatte Helen mit einem Teil der SILVER-STAR-Besatzung die Fregatte geentert.
Nur Sekunden später geschah das gleiche mit einer zweiten Fregatte, nur vierhundert Yards von der ersten entfernt.
Estrella und ihre Männer kamen über die Besatzung, wie ein Hurrikan aus heiterem Himmel.
Die Kämpfe auf den Schiffen dauerten höchsten zehn Minuten. Dann sah Helen, dass Estrellas Fregatte volle Leinwand setzte und ausscherte.
»Mr. Bush! Alle Segel!« rief sie.
»Ay, ay – Commodore.«
Der auffrischende Wind – es hätte kaum günstiger kommen können – ließ die Fregatten rasch in Fahrt kommen.
Niemand auf den restlichen Schiffen hatte bemerkt, was da auf See vor sich ging. Die Breitseitensalven rissen Besatzungen und Kommandanten aus dem Dornröschenschlaf.
Als die ersten beiden britischen Schiffe in einem Flammeninferno dahin trieben, versuchten die anderen Fregatten in panikartigen Manövern einen Gegenangriff zu starten. Doch sie wussten nicht, auf was sie schießen sollten.
Es dauerte zu lange, bis sie begriffen hatten, dass die Überraschungsangriffe von Schiffen des eigenen Convois ausgegangen waren.
Als der Morgen graute, war die britische Flotte verbrannt. Die Corsarin blickte von einem Kutter aus mit steinerner Miene zu der Fregatte, die mit Fackeln gleich brennenden Masten gurgelnd in die Tiefe der See sackte.
Mit verschwitzten und vom Russ gezeichneten Gesichtern kehrten die Kämpfer in den Hafen von Albany zurück.
Butters Mitstreiter lagen gut bewacht in der Scheune, in der man vorher Teile der Mannschaft der SILVER STAR gefangen gehalten hatte.
»Was passiert mit der Bande?« wollte Sam Bush wissen. Er nahm seinen Hut ab und wischte sich damit über Gesicht und Hals.
Estrella sagte es ihm.
Jeden anderen hätte der gleichgültige Ton entsetzt, doch Bush nickte nur.
Helen hörte wenig später die Schreie von der Steilklippe, doch sie fragte erst gar nicht, was da geschah.
Der Wind blies günstig, als die SILVER STAR das freie Meer gewann.
»Hudson Bay, Mr. Bush!« befahl Estrella den Kurs.
»All right, Lady-Captain!« kam es zurück und der Alte Seebär grinste zufrieden.
Sechs Wochen lag der Kampf nun zurück. Kein weiteres Kriegsschiff hatte sich gezeigt.
Um ALBANY zu sichern, hatte die Corsarin in dem Flusslauf zum Hafen ein Wehr unter Wasser bauen lassen. Daneben standen versteckt zwei Wachtürme. An jedem Ufer einer. Außerdem sicherten Doppelposten die Steilküste. Vier Kanonen, die von einer Fregatte gerettet werden konnten, sicherten zusätzlich das Eiland.
Beim Entern der britischen Schiffe, war ein gewaltiges Arsenal an Waffen – Degen und Pistolen, sowie Kugeln und Pulver – erbeutet worden. Damit sollten Aufständische an der Ostküste der NEUEN WELT versorgt werden.
Die SILVER STAR lag gut im Wind und machte rasche Fahrt.
Nach zwei Tagen auf der offenen See, rief der Ausguck: »Schiff Steuerbord!«
Die Corsarin ließ abdrehen.
»Eine Beschädigung der SILVER STAR oder einen Verlust der Waffen kann ich zur Zeit nicht gebrauchen«, sagte sie zu Sam Bush.
Es war bereits tiefe Nacht und wie ein Netz aus blinkenden Perlen wölbte sich der Sternenhimmel von Horizont zu Horizont. Helen stand auf dem Oberdeck, mit dem Rücken an die Reling gelehnt, als Sam Bush sich zu ihr gesellte.
»Ist es gestattet, Commodore?«
Helen lächelte dem Alten zu. »Natürlich Sam. Kommen sie nur.«
Wenn sie allein waren, sprach sie mit ihm im vertrauten Ton.
Der Erste lehnte sich mit den Armen auf das hölzerne, gut polierte Geländer in dessen Oberfläche die Hecklaterne reflektierte. Estrella hatte die Schwedische Handelsflagge setzen lassen und so konnten sie getrost mit ziviler Beleuchtung fahren.
Bush begann langsam und sorgsam seine alte Pfeife zu stopfen.
»Wann wollt ihr es Estrella sagen?« fragte er beiläufig leise.
Die Engländerin wandte sich langsam dem Alten zu.
»Sie wissen es, Sam?!«
Es war eher eine Feststellung, denn eine Frage.
Der Erste richtete den Blick auf den Horizont hinter ihnen. Eine Sternschnuppe ließ für einen Moment den Himmel aufblitzen.
»Zuerst ist es nur so eine Ahnung gewesen«, brummte er. Doch als ich euch beide hoch oben in der Takelage kämpfen sah…« Er schaute plötzlich Helen direkt in die Augen. » Ja…da wurde es für mich zur Gewissheit.«
Helen machte ein paar Schritte an der Reling entlang. Dann blieb sie stehen. Mit dem Rücken zu Bush.
Der Mond schob sich über das Bett des Meeres und ließ den Zierbesatz an Helens Uniform leicht glitzern.
Das Rauschen der Wogen vermischte sich mit dem Knattern des Windes in der Takelage. Die SILVER STAR jagte nur so durch die Nacht.
»Ich werde es ihr bald sagen, Sam. Bald!«
Damit verließ sie energischen Schrittes das Oberdeck.
Der Alte blickte ihr nach.
»Ja«, murmelte er. »Ganz Albany.«
Es braute sich etwas zusammen.
Sam Bush spürte es förmlich, obwohl der stahlblaue Himmel nicht das winzigste Wölkchen aufwies. Der Ozean lag ruhig und die SILVER STAR machte mittlere Fahrt.
Die Corsarin stand mit Helen auf dem Oberdeck – direkt hinter dem Ruderdeck. Sie wandten dem Ersten den Rücken zu, als er die knarrende Treppe hinauf stiefelte.
Helen drehte sich um.
»Commodore…Lady-Captain«. Sam tippte an seinen Dreispitz, dessen Farbe im Verlauf der Zeit ins Undefinierbare abgeglitten war.
Nun drehte sich auch Estrella um. Ihre Augen ruhten ruhig auf ihrem ersten Offizier.
»Guten Morgen Sam. Gibt es etwas Besonderes?«
Der Alte sog tief die würzige Luft ein. »Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass wir schweres Wetter bekommen. Wir sollten eine der Inseln anlaufen, die wir innerhalb von drei Stunden erreichen können.«
Estrella Avilla de Aragon, die sich bisher immer auf die ‚Nase’ des Alten verlassen konnte, runzelte leicht die Stirn.
»Ich sehe keinerlei Anzeichen eines Unwetters. Außerdem möchte ich so rasch wie möglich Hudson Bay erreichen. Das sind noch fünf Tage.«
Sam Bush nickte. »Ich weiß…aber ich halte es für besser…«
Helen blickte zum Himmel und erspähte ein winziges weißes Wölkchen an der Leeseite.
»Sam hat Recht«, murmelte sie. »Es riecht nach Sturm.«
Estrella stieß unruhig die Luft aus. »Sag bloß, du besitzt auch dieses Gespür?! Man bekommt es erst, wenn man unzählige Jahre zur See gefahren ist. Selbst mir fällt es oft noch schwer, bestimmte Vorboten zu erkennen.«
Helen sagte nichts, aber der Corsarin entging der verschmitzte Blick nicht, den der Alte ihrem Commandante zuwarf.
»Mierda!« zischte sie. »Gut! Macht, was ihr für richtig haltet.«
Mit diesen Worten verließ sie das Oberdeck.
Der Erste lächelte Helen zu. »Sie haben das Kommando, Lady.«
»All right, Mr. Bush – Steuer vier Strich Backbord!«
«Ay, Ay!”
Nach etwa zweieinhalb Stunden guter Fahrt kam ein Schatten am Horizont in Sicht, den Bush ROCKLAND nannte.
»Steht auf keiner gängigen Seekarte. Dahinter liegt Palm-Island. An der Westseite ist eine Bucht. Dort sind wir sicher.«
Die See wurde schwerer und der Himmel überzog sich mit einem bleigrauen Band, das sich rasch ausbreitete.
Helen ließ alle Segel setzen.
Bush lachte aus vollem Hals. »Ja, Mädel – du gehörst auf die See!« stieß er mehr zu sich selbst heraus und trieb die Mannschaft an.
Helen stand neben dem Steuermann und schaute auf den Kompass. Gischt hatte das Glas leicht milchig werden lassen.
Ihr nächster Blick galt dem Himmel.
»Hart Backbord«, rief sie und griff selbst mit in das Ruderrad.
Bush, der die harte Wendung der SILVER STAR bemerkte, kam auf das Steuerdeck geeilt.
»Du fährst in die Klippen von ROCKLAND«, schrie er gegen den plötzlich aufkommenden Wind. Es knarrte und jammerte in der Takelage.
»Wir schaffen es vor dem Sturm nicht bis Palm-Island, Sam. Wir werden eine schärfere Linie fahren, ROCKLAND hart tangieren und sind so eine Stunde eher auf Palm-Island.«
Der Erste schüttelte heftig den Kopf. »Wir jagen in die Klippen! Sie reichen…«
»…etwa eine viertel Meile östlich bis in die See«, vollendete Helen den Satz. »Aber es gibt eine schmale Durchfahrt. Die Rockdrive. Die werden wir nehmen.«
Der Alte klappte vor Staunen den Mund auf. Endlich hatte er sich gefasst und krächzte: »Woher weißt du das? Das ist die uralte Blackbird-Durchfahrt…«
Helen grinste nur. »An die Arbeit, Mr. Bush!« rief sie dann. »Kurz vor ROCKLAND nehmen wir die Leinwand bis auf ein Viertel herunter. Ich sage wann!«
»Ay, ay – Commodore!« rief Bush und rannte zu seiner Mannschaft zurück.
Estrella – die in der Kajüte gleichfalls die harte Wende des Schiffes bemerkt hatte, hatte die Worte Helens vernommen. Mit zwei Sätzen stand sie neben dem Steuer.
»Woher kennst du diese Durchfahrt? Sie befindet sich auf keiner Karte! Nicht mal die Insel!«
Helens Augen funkelten. »Da siehst du mal, was das englische Püppchen so alles weiß«, kam es höhnisch aus Helens Mund.
Der Wind nahm zu. Die SILVER STAR neigte sich immer mehr. Wie ein Pfeil schoß sie auf ROCKLAND zu.
Estrella ergriff fest – fast panisch – Helens Oberarm. »Willst du uns kentern lassen? Bezahlen dich die Inglis dafür?«
Helen schüttelte den Arm der Corsarin ab. »Wir werden kentern, wenn wir nicht bald noch schnellere Fahrt machen!«
Bald erkannte man die harte Brandung an den Klippen vor der Insel.
Estrella fuchtelte mit den Armen und zum ersten Mal erkannte Helen blankes Entsetzen in ihren Augen.
Der Wind bauschte sich zum Sturm auf und es würde nur noch wenige Zeit dauern, bis er sich zum vollen Orkan entfaltet haben würde.
Sam Bush starrte – wie eine Granitstatue unbeweglich – zum Steuerdeck.
Immer näher rückten die Felsen und die SILVER STAR begann zu stampfen.
Helens Hände umkrampften das Ruder.
»Sag mir, wenn wir etwa hundert Yards vor dieser Felsnadel dort drüben sind!« schrie sie der Corsarin zu.
Diese stand wie in Trance. Der Sturm wirbelte ihr das Haar ums Gesicht.
»Beweg deinen Arsch!« schrie Helen nun und versetzte ihr einen Tritt. Estrella schlingerte über die Planken. Das Schiff kränkte bald um 20 Grad.
Jetzt kam Leben in die Corsarin. Sie rutschte zur Reling und klammerte sich dort fest.
Der Bug tauchte tief in die Wogen und Unmengen Wasser schwappten jedes Mal über das Deck. Die Mannschaft versuchte sich an jedem erreichbaren Tau oder Geländer fest zu klammern.
»Hundertfünfzig Yard!« schrie Estrella. Die Worte wurden ihr von dem Getöse aus Sturm und Wellenrauschen beinahe vom Mund gerissen.
Eisern stemmte sich Helen in das Steuer. Ihre Arme schienen abbrechen zu wollen.
»Hundert!« kam es kreischend von der Corsarin.
»Segel ein bis auf Fock und Heck!« dröhnte Helen mit einer Kraft-Stimme über den Lärm, die ihr niemand zugetraut hätte.
Die Männer stoben in die Wanten.
Ein Unternehmen, das einem Selbstmord gleichkam.
Ein Segel zerriss.
Mit dem Todesschrei des Seemanns gleichzeitig, sah Helen, wie er wie mit einem gewaltigen Luftvogel aus der Takelage gerissen, und irgend wohin geschleudert wurde.
Haarscharf kratzte die SILVER STAR an zwei Felsen entlang.
Wie bei einer Wildwasserfahrt jagten sie an ROCKLAND vorbei.
Die Mannschaft hatte das schier Unmögliche vollbracht und bis auf drei Segel die Leinwand geborgen.
Das Schiff schoss an der Spitze der Insel vorbei und dann sahen sie Palm-Island.
ROCKLAND schirmte die SILVER STAR gegen den Sturm ab und plötzlich befanden sie sich in völlig ruhigem Wasser.
»Halbe Leinwand!« rief Helen und Bush ließ den Befehl sogleich ausführen.
Ruhig lief die Dünung in der geschützten Bucht.
Der Sturm draußen konnte der SILVER STAR und ihrer Besatzung nichts anhaben. Es schien, als befände man sich hier auf einem ganz anderen Planeten.
Estrella hatte sich an der Treppe zum Oberdeck vor Helen aufgebaut. Ihre Augen funkelten und ihre Finger ballten sich zu Fäusten und spreizten sich wieder.
»Verflucht seien alle Götter und was weiß ich noch«, kam es rau aus ihrem Mund. »Woher kennst du den Weg durch die Todesfelsen von ROCKLAND?«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Den kennt nicht mal Sam. Nur ich und…«
Die Corsarin verstummte abrupt.
Helen lächelte sie nur an.
»Mit mir wären es dann drei«, kam es leise als Antwort. Damit schob sie sich an der Corsarin vorbei, wobei ihr nicht entging, dass diese innerlich bebte.
»Ich lasse dich auspeitschen!« schrie Estrella hinter ihr her. Helen blieb stehen, wandte sich um und kam zurück. Ganz nahe blieb sie vor der Corsarin stehen. »Das würde aber einen schlechten Eindruck vor der Mannschaft machen. Denkst du nicht?«
Damit ging sie zum Bug.
Estrella stand an der Treppe – bleich wie eine Kalkwand.
Sam Bush hatte den Disput stirnrunzelnd beobachtet.
Vier Seeleute waren eben dabei, eine Schaluppe zu Wasser zu lassen. Der Erste wollte den Strand inspizieren, um sicher zu gehen, dass sich niemand in der Nähe aufhielt, den man besser nicht dort haben würde.
Helen machte einige rasche Schritte auf Bush zu und erklärte:
»Ich komme mit an Land.«
Der Alte nickte nur.
Wenig später gingen sie am Strand nebeneinander, die Hände griffbereit an den Pistolen, genau den Rand des Palmenwaldes beobachtend und nach Spuren im Sand ausschauend.
»Es ist unfair, sie immer noch im Ungewissen zu lassen«, brummte Bush. »Estrella hat das nicht verdient.«
Helen blieb stehen. Der Alte ebenfalls. »Ach nein?« kam es von der jungen Frau leicht höhnisch. »Sie hat ihre Lektion noch nicht gelernt.«
»Hm«, machte Bush. »Sie war nicht immer so. Sie ist so geworden.«
Helen starrte in den weißen Sand. »Die Folterung damals muss schrecklich gewesen sein. Vor allem ihre Seele hat durch die Demütigungen gelitten.«
Bush legte Helen die Hand leicht auf die Schulter. »Wäre es bei euch anders gewesen?«
Helen schwieg. Endlich schüttelte sie den Kopf. »Vermutlich nicht. Aber nicht alle Menschen sind sadistisch veranlagt. Natürlich lässt sich der Pöbel leicht lenken, aber…«
»Estrella hat nur die Menge gesehen, die sie verhöhnte, erniedrigte…« Der Alte setzte seinen Schritt fort und Helen tat es ihm gleich.
»Unterstützt sie die Freiheitskämpfer um sich an den Engländern zu rächen?«
Der Erste zuckte mit den Achseln. »Inzwischen wohl auch deshalb, jedoch begann sie schon viel eher damit. Lange vor diesem Vorfall. Ihre Eltern haben das bereits getan.«
»Ich weiß! Deshalb haben die Engländer sie ermordet.«
»Ja«, kam es kurz von Bush. »Ein hinterhältiges Unternehmen bei einem offiziellen Empfang.«
Bush blieb erneut stehen. »Ihre Eltern waren gerade…«
Helen blickte den alten Seebären an. »Sprechen sie es ruhig aus, Sam. Sie hatten sich gerade wiedergefunden. Estrellas Vater hat von Albanys…«
»Nein – er hat es nie erfahren.«
Er scharrte mit der linken Stiefelspitze im Sand. »Wann habt ihr es erfahren?«
»Vor etwa zwei Jahren. Im Kloster Sankt Anne, in dem ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr mein Zuhause hatte.«
Sam Bush zog eine Augenbraue hoch. »Vorher wart ihr mit eurem Vater immer unterwegs?«
»Ja. Als Flottenchef des portugiesischen Königs stellte das für ihn kein Problem dar. Als er dann im Kampf fiel, hielt es mein Onkel für das Beste, mich in das Kloster in Wales zu geben. Die Äbtissin war eine entfernte Verwandte. Mein Onkel meinte, es genüge nicht, das Seefahrerhandwerk zu beherrschen, ich müsse auch andere Dinge lernen.«
»Wäre das in Portugal nicht auch gegangen?«
Helen biss sich auf die Lippen, ehe sie antwortete: »Es sind damals unruhige politische Zeiten gewesen. Mein Onkel musste fliehen. Er konnte sich nicht um mich kümmern.«
Busch nickte. »Ich verstehe. Und nun seid ihr auf dem Weg zu ihm gewesen, als Estrella den Engländer kaperte.«
Helen nickte.
»Hm«, machte der Alte. »Wusstet ihr, welches Handwerk Estrella betreibt?«
Helen lachte leise in sich hinein. »In England fürchtet man sich mehr vor der Corsarin Estrella Avilla de Aragon, als vor dem Teufel.«
Nun lachte der Alte auch. »Ja – das kann ich mir denken. Aber – weshalb habt ihr nach eurer Gefangennahme nicht…«
»Ich winsele niemals um Vorteile oder Gnade. Außerdem, wie hätte sie wohl reagiert? Albany ist eine Heilige für sie.«
Bush biss sich auf die Lippen. »Ja«, murmelte er. »Das stimmt.«
Helen setzte sich in den Sand und Bush tat das selbe.
»Wie kommt es, dass ihr als Engländer von Estrella als Freund betrachtet werdet? Und wieso kennt ihr euch in der Familiengeschichte so gut aus?«
Der Alte begann bedächtig seine Pfeife zu stopfen.
»Ich bin – wenn man es so ausdrücken will – ein alter Freund der Familie. Lange Jahre bin ich unter dem Kommando von Estrellas Vater gefahren und als er Attaché geworden war und in seinem Tun für die Siedler der Neuen Welt sehr vorsichtig sein musste, unter dem Kommando von Albany.«
Helen fuhr sich mit einer Hand durch das blonde Haar. »Haben die Engländer nie gemerkt, wer hinter der Maske des schwarzen Corsaren steckte?«
Bush kicherte. »Lange nicht!« Dann senkte er die Stimme und wurde sehr ernst, beinahe traurig. »Aber eines Tages scheinen sie es geahnt zu haben. Der sogenannte Schwarze Corsar war zu gut und zu rasch über Flottenbewegungen informiert.«
Helen atmete tief durch. »Also hat man Estrellas Vater und …Albany mit der Einladung eine Falle gestellt?!«
Der Alte nickte. »Das denke ich.«
»Was ist mit Estrellas Schwester?«
Der Alte stieß eine mächtige Rauchwolke aus. »Sie hat geheiratet und ist ihrem Mann nach Amerika gefolgt. Doch er starb bald. Sie hat es aber aus eigener Kraft zu etwas gebracht.«
Helen nickte. »Das habe ich gemerkt. Eine faszinierende Frau. Merkwürdiger Weise hat sie mich unterstützt, als ich unbedingt wieder auf die SILVER STAR wollte.«
Bush lachte. »Ja«, grunzte er dann. »Das hat sie!«
Helen musterte den alten Seebären. Das zerfurchte Gesicht mochte wohl noch so manche Geschichte zu erzählen wissen.
»Helen«, sagte er dann sanft. »Lucia ist hoch intelligent. Deshalb ist sie das geworden, was sie nun ist. Hat sich als Frau in einer absoluten Männerwelt durchgesetzt. Sie wäre dir am liebsten um den Hals gefallen.«
Helen machte runde Augen. »Sie wusste es und hat…«
Der Alte kicherte und nickte. Dann stand er auf.
»Wir sollten zum Schiff zurück.«
Das Schiff lag völlig ruhig in der Lagune.
Tausende von Sternen schienen die SILVER STAR wie ein Gewölbe zu umschließen.
Die meisten Männer der Mannschaft schliefen. Lediglich die Wache marschierte über das Deck.
Helen hatte drei Männer eingeteilt. Zwei waren für je eine Seite des Schiffes verantwortlich. Der dritte Mann saß im Mastkorb. Alle drei Stunden fand der Wechsel statt.
Helen selbst fand keinen Schlaf. Ihr Innerstes erwies sich als aufgewühlt. Sam Bushs Bericht beschäftigte sie und ihr wurde mehr und mehr klar, was Estrella immer erneut aufs Meer hinaustrieb.
Sicher – Helen hatte beschlossen sie zu suchen. Doch wollte sie ursprünglich von ihrem Onkel ein Schiff erbitten. Dass sie nach einer Kaperung hier auf der SILVER STAR landete, hatte sie nicht ahnen können. Ihre Pläne entwickelten sich nun völlig anders.
Nun stand sie am Heck und ließ den Blick über das Wasser der Lagune schweifen. Die Sterne schienen den sanften Wellen einen Hauch goldenen Scheins zu verleihen.
Helen seufzte. Es war wunderschön.
Da vernahm ihr geschärftes Ohr leise, tappende Schritte von der Treppe her.
Die junge Frau wandte sich etwas um und wurde innerlich von dem Anblick völlig überrascht.
Da kam Estrella. Aber so völlig anders.
Nicht in der Kleidung der Corsarin. Nein dort erschien eine wunderschöne Frau, auf deren Antlitz der Sternenschein eine Art Zauber zu legen schien.
Sie trug eine Art Kaftan aus wertvoller Seide, das Haar sorgsam frisiert… Helen brauchte einen Moment, bis sie diesen Anblick verdaut hatte.
Leise, barfuss, trat Estrella an die Reling des Hecks und lehnte sich neben Helen. Ihr Blick richtete sich über die Weite des Wassers.
Keine der beiden Frauen sagte ein Wort. Sie standen nur da und schauten auf die Bucht.
So währte es einige Minuten lang.
Von Estrella wurde dann die Stille der Nacht unterbrochen. Leise kam es:
»Wer bist du, Helen de Vere?«
Die Angesprochene zuckte leicht die Schultern. »Eine verhasste Inglis.«
Hörbar zog die Corsarin die Luft ein. Der nun aufkommende leichte Wind spielte in ihrem Haar.
»Du bist als Gefangene auf die SILVER STAR gekommen«, fuhr Estrella fort. »Ich habe dich gedemütigt, beschimpft … es hat dir nichts ausgemacht. Stattdessen rettetest du mir das Leben. Du hast dich auf einen Zweikampf mit mir auf Leben und Tod eingelassen und mich vor dem Absturz aus der Takelage bewahrt, obwohl es dir die Freiheit gebracht hätte. Du hast mehrfach das Schiff durch waghalsige Manöver gerettet und ich gewinne den Eindruck, dass du mehr von der Seefahrt verstehst als ich.«
Helen gab darauf keine Antwort.
Minuten vergingen wieder.
»Meine Schwester Lucia hätte dich an dein ursprüngliches Ziel bringen lassen«, hob Estrella wieder an. »Doch du bestandest darauf, wieder auf die SILVER STAR zu kommen.«
Die Corsarin fuhr sich aufgebracht durch das dunkle Haar. »Herr des Himmels! Weshalb?!«
Sie ergriff Helens Hand. Sie standen nun dicht voreinander. So dicht, das die eine der anderen Atem spürte.
»W a s weißt du von Albany?« Estrella schrie es beinahe.
Helens Finger massierte leicht die der Corsarin. Sie focht einen inneren Kampf aus.
Leise fragte sie endlich: »Würdest du Albany für eine Hure halten?«
Wie von einer Tarantel gebissen, schnellte Estrella mehrere Schritte zurück. Ihre Augenbrauen schienen den Haaransatz zu berühren. Ihre Augen zeigten sich weit aufgerissen. Ihr Mund öffnete und schloss sich ohne einen Laut hervorzubringen.
Es dauerte unendlich, bis sie krächzte: »Du wagst es..? Ich ...lasse dich in Stacheleisen schmieden und den Hauptmast hinaufziehen…«
Helen lächelte nur. Estrella suchte an der Reling Halt.
Nach einigen Sekunden fragte Helen: »Hast du dich wieder eingekriegt? Ich habe nicht gesagt, Albany sei eine Hure, sondern gefragt, ob du sie dafür halten würdest. Ich kenne das große Andenken, das du ihr entgegenbringst. Sie ist für dich zur Heiligen geworden, aber leider muss ich dein Bild von ihr etwas gerade rücken. Obwohl auch ich ihr Andenken hoch halte.«
Die Corsarin ballte die Hände zu Fäusten.
»Übrigens Lucia scheint da weit realistischer als du«, setzte die junge Frau nach.
Der Wind frischte nun auf und wehte Estrella das Haar ums Gesicht. Das gab ihr ein wildes Aussehen.
»Wieso Lucia? Was hast du eigentlich mit ihr zutun? Wieso hat sie dir geholfen?« Estrella kreischte es heraus.
Sie sank auf die Knie und brach in ein Schluchzen aus. »Was weißt du überhaupt von Albany?« Ihr Kopf sank tief auf die Planken des Oberdecks.
Da sah Helen die Silhouette von Sam Bush an der Treppe auftauchen.
Sie atmete tief durch und entschied, dass sie das Spiel nicht weitertreiben durfte.
Sie ging auf Estrella zu und sank in die Hocke. Sanft nahm sie die Hände Estrellas von deren Antlitz, hielt sie fest in den ihren und sagte, beinahe flüsternd:
»Hast du es denn nicht gespürt?«
Der Blick der Corsarin hob sich und für einen Moment kehrte der harte Glanz in ihre Augen zurück.
»Was meinst du, Inglis?«
»Meine Zuneigung zu dir.«
Die Corsarin runzelte die Stirn. »Zuneigung…« kam es zögernd.
»Ja«, entgegnete Helen. »Bei dir war es doch ähnlich, wenn du es dir auch nicht erklären konntest. Du wolltest grausam zu mir sein und schafftest es doch nicht so recht. Sei ehrlich zu dir. Es stimmt doch?!«
Estrella richtete sich etwas weiter auf. »Es stimmt«, kam es leise. »Aber was soll das alles?«
»Albany war auch meine Mutter.«
Estrella hatte sich während des gesamten Tages in ihrer Kabine versteckt.
Die SILVER STAR befand sich schon seit Stunden wieder auf der offenen See. Die Mittagssonne brannte. Helen stand am Bug und starrte in die Wellen. Wie ein Pfeil schnitt das Schiff hindurch, warf Gischt hoch und ließ sie wie tausende von Perlen in alle Richtungen sprühen.
Sam Bush rief Befehle. Er ließ volle Leinwand setzen. Er wollte die durch den Sturm verlorene Zeit aufholen.
»Zwei Schiffe Steuerbord!« rief der Ausguck plötzlich.
Bush zuckte zusammen und hob den Kopf. Er formte aus den Händen einen Trichter und rief zum Mast hinauf: »Welche Entfernung?«
»Acht Meilen! Kommen auf uns zu!«
Der Alte rannte zur Reling und zückte das Fernrohr. Er konnte noch nichts erkennen hinter den Horizontwellen.
»Kann man uns gesehen haben?« rief er erneut zum Mast hinauf.
»Nur wenn der Ausguck scharfe Augen hat!« kam es zurück.
Bush kicherte. Er wusste, dass Alfons oben saß und der besaß die Augen eines Habichts.
Helen eilte zu dem Ersten hinüber. Sie erreichte ihn gleichzeitig mit Estrella.
Sie blickte Helen fest an und sagte dann: »Kommst du mit nach oben?«
Rasch entledigten sich beide ihrer Stiefel und hangelte wie die Affen zur obersten Rahe des Hauptmastes.
Von dort sahen sie mit ihren Fernrohren nun Genaues.
»Franzosen«, knurrte die Corsarin.
Helen setzte das Rohr ab und schaute sie an. »Liegst du mit ihnen im Krieg?«
Estrella lachte rau auf. »Seit dem die englische Admiralität das Kopfgeld auf mich ausgesetzt hat, liege ich mit jedem im Krieg.«
Sie schaute wieder durch das Rohr. »Verflucht! Sie halten wirklich Kurs in diese Richtung. Wenn wir ihnen ausweichen kostet das viel Zeit.«
»Wir fahren unter dänischer Handelsflagge«, warf Helen ein.
Estrella hatte eine zynische Bemerkung auf der Zunge, doch dann legte sie ihre Hand auf die Helens und entgegnete leise: »Wenn sie näher kommen, werden sie die SILVER STAR erkennen. Dann geht die Jagd los.«
Helen lächelte. »Dann packen wir sie uns!«
Die Corsarin blickte die Engländerin fest an. »Wir werden ausweichen. Auch wenn es uns eine Woche kostet und die Freiheitskämpfer auf ihre Waffen warten müssen.«
Helen schaute erneut durch das Fernrohr. »Sie haben nur leichte Bewaffnung. Es sind keine Kriegsschiffe. Du bist doch sonst nicht zimperlich?!«
Estrella steckte ihr Fernrohr in das zuständige Futteral. »Diesmal kein Risiko.« Sie wandte den Kopf nach unten. »Mr. Bush! Wir weichen aus!«
Helen schaute unwirsch. »Sie haben Proviant an Bord. Den können wir brauchen.«
»Den bekommen wir sicher noch ungefährlicher.«
Helen hielt Estrella fest, als diese abwärts steigen wollte.
»Wer weiß, wann wir auf das nächste Schiff treffen. Wir könnten…«
Die Corsarin winkte herrisch ab.
»Wo ist dein Mut?!« stieß Helen aus.
»Das Risiko ist zu groß gegen zwei Schiffe!«
»Es sind nur Schoner!« fauchte Helen nun.
Zu ihrem Erstaunen kam keine zornige Antwort von der Corsarin. Stattdessen kam sie über die Rahe näher an sie heran. Sanft ruhten ihre Augen auf ihrem Commodore.
Endlich kam es leise: »Vielleicht will ich durch Leichtsinn meine Schwester nicht verlieren.«
Damit sprang sie zu einem frei pendelnden Seil und ließ sich aufs Deck hinab.
Helen schluckte. Dann folgte sie ihr.
Estrella marschierte raschen Schrittes auf die Kajüte zu. Die Tür ließ sie offen. Helen folgte ihr langsam. Sie fand die Corsarin über eine große Karte gebeugt.
»Wir fahren einen halben Tag Südwest und drehen dann einen großen Bogen auf West und dann Nord. Damit kommen wir auch aus den Gewässern möglicher französischer Kriegsschiffe heraus,« sagte sie ohne aufzusehen.
Helen kam dicht an sie heran.
»Das kostet uns im Ganzen zwei oder drei Tage«, sprach Estrella weiter.
Helen nahm ihr einfach den Kohlestift aus der Hand.
Estrella schluckte und wollte einen Schritt zur Seite machen, doch Helen hielt ihre Hand fest.
»Hör auf, dich hinter einem Panzer zu verbarrikadieren«, sagte sie leise. Dann schlang sie die Arme um ihre Schwester und drückte sie an sich.
»Vier Strich Steuerbord, Mr. Bush. Wir nehmen unseren alten Kurs wieder auf!«
»Ay, ay – Commodore!« rief der Erste zurück.
Helen stand neben Estrella und lächelte sie an. »Ich hoffe, deine Schützlinge in der Hudson Bay werden den Zeitverlust verkraften.«
Die Corsarin verzog leicht die Mundwinkel. »Sie benötigen dringend Waffen und Munition.«
»Na – wir schaffen das schon.«
Doch es sollte anders kommen.
»Zwei Schiffe voraus!« schrie der Ausguck.
Die Corsarin zuckte zusammen. »Flagge?«
»Engländer!«
»Scheiße!« entfuhr es Helen.
Estrella hechtete zur Reling und riss das Fernglas aus dem Futteral.
»Mierda! Sie sehen uns gleich! Fünf Strich Backbord.«
Die SILVER STAR legte sich so hart in den Wind, dass sich jedermann irgendwo festkrallen musste, um nicht quer über das Deck zu schliddern oder gar über Bord zu gehen.
»Was hast du vor?« schrie Helen.
Die Corsarin lachte. »Warte es ab, Schwesterherz! Ich glaube ich habe das Kämpfen doch noch nicht verlernt.«
Sam Bush grinste von einem Ohr zum anderen.
Endlich! dachte er – Estrella Avilla de Aragon ist zurück!
Der Erste ahnte, was sie vorhatte. Sie wollte in einem waghalsigen Wendemanöver die Engländer von hinten überfallen.
»Lieber Gott! Zwei auf einmal!« zischte er und sein Herz schlug schneller. Doch er war aus der Vergangenheit solche irrsinnigen Unternehmen gewöhnt.
»Ha!« fuhr es plötzlich aus ihm heraus und sein Blick richtete sich auf Helen. Ja – dieses Weib war der gleiche Draufgänger.
Sie schafften es tatsächlich, zwischen den Wellentälern für die Briten unsichtbar zu bleiben.
»Hart Steuerbord!« kam nach zwanzig Zeiteinheiten das Kommando. »Kanonen klar machen. Auf meinen Befehl Kanonen eins und zwei in die Hauptsegel des ersten Schiffes. Mr. Bush, dann sofort zwei Strich Backbord und Kanonen drei und vier in die Hauptsegel des anderen Schiffes. Während die Engländer aufgeschreckt herumturnen, Schiff volle Wendung und Breitseite. Kanonen während des Wendemanövers vier Grad auseinander. Haben sie das verstanden?!«
»Yes! Lady-Captain!« Und ob Bush das verstanden hatte. Er erinnerte sich an die beiden Spanier vor einem Jahr vor Malta. Hey, hatten die geschrieen vor Wut, als ihnen die Takelage auf die Köpfe sauste.
Helen blickte gebannt über die Reling.
Als die beiden Engländer dann blitzartig aus dem Wellental auftauchten – nur hundert Yards neben der SILVER STAR – schrak sie doch zusammen.
Da donnerte auch schon die Stimme der Corsarin: »Feuer!«
Wuumm!!! Das Deck erzitterte. »Backbord!«
Die Wanten knarrten. »Feuer!«
Wieder erbebte die gesamte SILVER STAR.
»Wenden, Mr. Busch!«
Der Erste griff selbst mit ins Steuer. Die Kanoniere der gesamten Backbord-Batterie hatten ihre Lunten bereits entzündet.
Da krachte von drüben ein Schuss. Die Kugel jagte haarscharf über die vordere Mastspitze hinweg.
Die SILVER STAR kränkte bei dem Wendemanöver. Dann hob sich die Backbordseite wieder aus dem Wasser.
»Feuer!« schrie Estrella.
Die Breitseite der SILVER STAR und die eines der anderen Schiffe ging in ein einziges Getöse über.
Helen warf sich platt auf die Planken. Holzsplitter flogen ihr um die Ohren. Mindesten zwei Kugeln hatten einen großen Teil der Steuerbordreling weggerissen.
Doch das Chaos auf den beiden britischen Schiffen stellte sich weit schlimmer dar. Bei einem krachten gerade Fock- und Mittelmast zusammen, bei dem zweiten Schiff sah man ein gewaltiges Loch halb oberhalb, halb unterhalb der Wasserlinie.
»Adios, Amigos«, zischte die Corsarin, als die letzte Mastspitze im Meer versank.
»Alten Kurs aufnehmen, Mr. Bush!«
»Ay, ay.«
Ein Teil der Mannschaft verstaute Proviant und Waffen, die man den Engländern im Handstreich abgenommen hatte.
Helen wandte sich ab, als die SILVER STAR rasch im Abendwind Fahrt aufnahm. Die Hilferufe einiger Überlebender verhallten im Rauschen des Ozeans.
»Dinner für die Haie«, kam es kalt von Estrella. Dann ging sie zur Kapitänskajüte hinüber.
Hudson Bay!
So hieß auch die kleine Ansiedlung. Sie lag allerdings etwa zehn Meilen den Fluss hinauf.
Eine Ansammlung kleiner, aber gepflegter Holzhäuser – umgeben von einer Palisadenumzäunung und einigen Ausguckplattformen. Ein einfacher Anlegesteg am Fluss selbst.
Der Hudson wies hier noch genug Tiefe auf, dass die SILVER STAR mühelos bis zur Siedlung fahren konnte.
Helen schaute vom Bug über die Fluss-Schleife hinweg zu den Häusern. Zahlreiche Menschen versammelten sich am Ufer.
»Es sind Hugenotten«, erklang leise Estrellas Stimme hinter ihr. »In der Heimat verfolgt, fanden sie hier ein neues Zuhause. Aber inzwischen sind sie hier auch nicht ganz sicher.«
Helen zuckte mit den Achseln. »Sie tun doch niemandem etwas.«
Die Corsarin lachte hart auf. »Das interessiert dabei nicht. Die untereinander kriegführenden Parteien wollten sie zusammen mit einigen Indianerstämmen als Partisanenkämpfer gewinnen. Aber sie weigerten sich. Jetzt sind sie einfach im Weg.«
Helen runzelte die Stirn.
»Ich dachte, es sei wegen der Unabhängikeitsforderung…«
Estrella schüttelte heftig ihre Haarmähne. »Darum geht es schon längst nicht mehr. Spanier, Franzosen, Engländer…alle wollen dieses Land allein für sich in Anspruch nehmen und dazu ist ihnen jedes Mittel recht.«
Langsam näherte sich das Schiff dem Steg.
Hier zum Fluss hin hatte man die Palisaden besonders verstärkt. Die Wachen hatten die SILVER STAR längst bemerkt und auch erkannt. Bald sammelten sich zahlreiche Menschen am Ufer vor dem Schutzwall.
»Das ist George Vidoge – der Ortsvorsteher.« Die Corsarin deutete auf einen Mann mit schlohweißem Bart. Er trug einen roten Offiziersrock, einen Dreispitz und stützte sich auf einen kräftigen Stock mit silbernem Griff.
»Ein alter Freund meines Vaters.«
Der Steuermann legte das Schiff sanft an und viele helfende Hände vertäuten es.
»Estrella Avilla de Aragon! Wie freue ich mich, dich wieder zu sehen! Wie lange ist es her? Ein Jahr? Oder schon zwei?«
Vidoge umarmte die Corsarin herzlich.
»Ich glaube es sind schon beinahe zwei Jahre. Aber ich habe euch einiges mitgebracht.«
Der Ortsvorsteher nickte. »Das ist gut. Die Lage ist zwar ruhig, aber man munkelt, Huronen seien zusammen mit französischen Truppen in der Nähe. Zwar haben wir Kundschafter überall – doch man weiß nie, wann etwas passiert.«
Helen teilte mit Sam Bush die Wachen ein, dann folgte man den Ortsoberen zum großen Haus. Rathaus und Versammlungsstätte in einem.
Hudson Bay bestand aus achtzehn Häusern, wovon das »Stadthaus« das größte darstellte. Eigentlich glich die Ansiedlung eher einem Fort.
Die Corsarin ließ die Waffen ausladen. Vidoge begutachtete sie.
»Ausgezeichnet! Vor allem aber die Munition hilft uns. Es wurde schon etwas knapp. Ein Versorgungsschiff ist nicht eingetroffen. Ich nehme an, es wurde von den Franzosen oder den Engländern versenkt.«
Estrella zog die Augen leicht zusammen. »Werdet ihr immer noch auf dem Umweg über die Sympathisantengruppen aus Amsterdam versorgt?«
Vidoge nickte. »Ja – aber es wird immer schwieriger. Es muss auf geheimen Wegen alles nach Rotterdam geschmuggelt werden und dann auf ein Schiff. Zwar halten sich die Niederländer aus der Sache raus, aber wenn sie Waffen aufspüren, werden sie beschlagnahmt. Außerdem haben die Engländer und Franzosen einen engen Ring um die Hudsonmündung gezogen. Sie wissen, dass es hier Freiheitskämpfer gibt.«
Die Corsarin blickte über den Fluss, in dem sich die letzten Sonnenstrahlen spiegelten. »Wieso haben sie eure Siedlung noch nicht niedergebrannt?«
Der Ortsvorsteher lachte rau auf. »Offiziell sind wir Königstreue.«
Estrella grinste. »Das ist gut. So könnt ihr aus dem Hinterhalt losschlagen.«
»Tun wir ja. Wie oft haben wir schon des nachts Schiffrümpfe angebohrt, ehe die Besatzung der Kreuzer überhaupt etwas merkte. Sie trauen sich allerdings nicht sehr weit in die Hudsonmündung hinein.«
Die Corsarin berichtete von dem Treffen mit den Schiffen unterwegs.
»Dann habt ihr aber Glück gehabt. Ihr hättet in eine Zange geraten können.«
Estrella winkte hochmütig ab.
Vidoge legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lady – ich weiß um euren Mut. Aber seid vorsichtig. Wenn ihr in Gefangenschaft geraten solltet, werden Engländer und Franzosen ihre ganze Wut an euch auslassen.«
»Gefällt es Ihnen?«
Vidoge stand neben Helen und reichte ihr ein Champagnerglas. Zu Ehren der Corsarin und ihrer Besatzung gaben die Dorfbewohner ein großes Fest im Stadthaus.
Ein gewaltiges Buffet hatte man aufgebaut und Whisky, wie auch Champagner floss reichlich.
Estrella tanzte ausgelassen mit einem jungen, gut aussehenden Mann.
Der Ortsvorsteher bat Helen um einen Tanz. Lächelnd willigte sie ein.
Es mochte wohl so gegen Mitternacht gewesen sein, als Helen plötzlich die Hand von Sam Bush auf ihrer Schultern spürte.
»Irgend etwas tut sich draußen«, raunte er. »Es wäre gut, wenn die Corsarin und ihr an Bord kämet.«
Helen runzelte die Stirn. Der Champagner hatte ihr mehr zugesetzt, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Was tut sich draußen?«
Bush zuckte die Achseln. »Wenn ich das wüsste. Aber es liegt was in der Luft. Ich spüre es. Bisher hat mich meine Ahnung nie getrogen.«
Helen schaute sich um. Estrella schäkerte gerade mit zwei jungen Männern gleichzeitig herum.
Helen überlegte kurz, ob sie ihrer Schwester Bescheid geben sollte, entschloss sich dann aber, erst einmal Bush zu folgen.
Als sie vor dem Stadthaus standen, zog Helen tief die würzige Flussluft durch die Nase ein. Dann ließ sie den Blick über das gegenüberliegende Ufer schweifen. Der Hudson bildete hier eine Art Delta und in einer weiten Bucht lag die Ansiedlung. Geschützt durch Bäume und Buschwerk für zufällige Blicke. Auch die SILVER STAR war jetzt vom Mündungsbereich des Flusses kaum erkennbar.
»Kreuzer und Fregatten kommen nicht bis hier her. Sie würden bei der Sandbank – zwei Meilen abwärts – schon aufsetzen.«
Bush nickte. »Das ist völlig richtig. Trotzdem beschleicht mich das untrügliche Gefühl der Gefahr.«
Er blickte zum gegenüberliegenden Ufer. Es lag wohl in einer Entfernung von knapp einer halben Meile.
Helen schaute den Alten an. »Aber sie können es nicht erklären, Sam.«
»Nein, Commodore. Aber es ist da! Halten sie mich ruhig für einen alten Spinner. Doch bisher hat mich mein Gefühl nie irre geleitet.«
Helen hatte nicht die Absicht, Bushs Warnung zu ignorieren. Dazu besaß der alte Seebär viel zu viel Erfahrung.
»Was schlagen sie vor?« wollte Helen wissen.
Der Erste rieb sich die Nase. »Holen sie Estrella da raus. An Bord der SILVER STAR ist sie sicherer. Dann fahren wir in die Mitte des Flusses. Dort können wir uns nach allen Seiten verteidigen und auch der Ansiedlung helfen, wenn diese überfallen werden sollte.«
Helen runzelte die Stirn. »Sie denken also an einen Überfall von Land?«
Bush stieß scharf die Luft aus. Er wollte gerade etwas erwidern, da krallte er unwillkürlich seine Hand fest in Helens Unterarm.
»Dort!« kam es heißer. Er hatte den Blick fest auf einen Punkt Fluß aufwärts gerichtet. Helen folgte dem Blick und erstarrte.
»Zounds!« entfuhr es ihr.
Es waren nur Schatten, die sich beim konzentrierten Hinsehen als Kanus identifizieren ließen. Aber wie viele?! Zwanzig? Vierzig? Hundert gar? Es schienen immer mehr zu werden, die einer lautlosen Armada gleich aus einem Seitenarm des Hudson der Flussmitte zustrebten.
»Huronen!«, zischte Bush. »Helfershelfer der Franzosen.«
Helen wollte loshetzen, doch Bush hielt sie fest. »An Bord! Los!«
»Estrella...«
»Zu spät! Wir hauen sie später raus. Aber wenn die SILVER STAR vernichtet wird, geht gar nichts mehr!«
Als die ersten Fensterscheiben klirrten, zuckte die Corsarin zusammen. Für alle kam der Überfall völlig unerwartet. Gebräunte Leiber schoben sich durch die Fensteröffnungen. Dann wurde die Tür zum Festsaal aufgetreten und die ersten Speere flogen. Die Corsarin sah zwei Männer in ihrer unmittelbaren Umgebung zusammensacken. Frauen und Kinder schrieen entsetzt auf. Dann sauste ein Brandpfeil haarscharf an ihrem linken Ohr vorbei. Estrella brachte sich mit einem gewaltigen Sprung hinter dem Buffettisch in Sicherheit. Beinahe panisch glitten ihre Augen zu der Stirnwand des Saales. Dort hingen zwei Degen. Das Kriegsgeheul der Huronen erfüllte das Stadthaus.
Ein Hurone stand plötzlich seitlich von Estrella und legte mit seinem Bogen auf Vidoge an. Die Corsarin sprang mit einem Panthersatz vor – ihre Handkante traf den Huronen an der Halsschlagader – er sackte zusammen. Sie riss ihm den Bogen aus den schlaffen Händen, wirbelte um die eigene Achse und sah einem anderen Indianer genau in die Augen. Er hob das Kampfbeil... Sehne spannen, loslassen – alles verlief in einer automatischen fließenden Bewegung ab. Der Pfeil traf den Burschen mit solcher Macht, dass das Geschoss am Rücken wieder austrat und zitternd in der Wand stecken blieb.
Die Corsarin kümmerte sich nicht um die Wirkung des Schusses. Sie warf den Bogen weg, stürzte zur Wand und riss die beiden Degen herunter.
Auf der SILVER STAR vernahm man den Kampflärm.
Sam Bush hatte angeordnet, dass die Personen an Bord sich absolut still zu verhalten hätten.
»Davon kann euer Leben abhängen«, hatte er geflüstert.
Gebannt – mit schussbereiten Musketen – starrten Helen und Bush zu den Kanus hinüber.
»Um Himmelswillen!«, zischte der Alte. »Das müssen ja Hunderte sein.«
Helen umkrampfte ihre Waffe. »Ein anderer Trupp muss die Niederlassung von der Landseite angegriffen haben.«
»Verflucht!« Helen zerquetschte den Fluch zwischen den Zähnen. »Was können wir tun?«
Bush ließ den Blick über das gesamte Szenario schweifen. Dann winkte er den Bootsmann herbei.
»Kanonen laden«, flüsterte er. »Aber geräuschlos! Gleichzeitig Vertäuung lösen und Schiff in die Flussmitte treiben lasen.«
»Ay, ay« kam es gehaucht zurück.
»Was haben sie vor, Sam?« kam es von Helen.
Bush balle die Fäuste. »Den Lady-Captain da raus hauen!«
Es dauerte nicht sehr lange, da löste sich die SILVER STAR zentimeterweise von ihrem Anlegeplatz. Stetig, aber unauffällig bewegte sie sich parallel zum Ufer immer weiter auf die Flussmitte zu.
Die Kanus hatten inzwischen die Palisaden der Ansiedlung erreicht und die ersten Indianer versuchten die Absperrung zu überklettern.
Helen sah das alles mit gemischten Gefühlen. Sie erkannte keine Möglichkeit, etwas Wirkungsvolles zu tun.
»Sam – wollen sie die Ansiedlung zusammenschießen?« In ihren Augen spiegelte sich Entsetzen.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Was denkst du von mir, Mädel..? Ich werde doch Estrella nicht umbringen.«
Die SILVER STAR trieb nun in der Mitte des Hudson. Die Kanoniere standen bereit. Verdeckt brannten die Lunten. Sam selbst stand nun am Steuer und dirigierte das Schiff so, dass die Kanonenbreitseite zum Stadthaus wies.
Dann kam das Kommando. »Feuer!«
Unter dem Rückschlag der sechs Kanonen neigte sich die SILVER STAR nach Backbord.
Die Breitseite jagte haarscharf über das Stadthaus hinweg. Die Detonation führte dazu, dass die Indianer, die gerade die Palisaden überkletterten vor Schreck und Entsetzen zu Boden stürzten.
Bush ließ sogleich die Kanonen nachladen.
Zwei Minuten später jagte die nächste Breitseite zur Siedlung hinüber und riß zwei Hausdächer ab. Unter anderem das des Stadthauses.
Mit einer gekonnten Rolle rückwärts wich Estrella dem Messer des Indianers aus. Da stürzten Teile der Decke herab. Der Angreifer schrie erschrocken auf. Er stürzte. Etwas streifte den Arm der Corsarin. Sie sprang auf und warf sich mit einem gewaltigen Satz aus dem bereits glaslosen Fenster. Ohne sich zu besinnen rappelte sie sich draußen vom Boden wieder hoch und hetzte in die Dunkelheit des angrenzenden Buschwerks. Ein Unternehmen von nur knapp einer Minute.
Schwer atmend sank sie zu Boden. Nur gedämpft drang der Kampflärm zu ihr herüber.
Ihr messerscharfer Verstand signalisierte ihr, dass die SILVER STAR in das Geschehen eingegriffen haben musste.
»Gott sei Dank!« murmelte sie. »Guter alter Sam.«
Sie umklammerte den Griff ihres Messers. Den Degen hatte sie im Haus bei ihrer Flucht weggeworfen. Der Kampflärm wurde noch leiser und verstummte völlig. Estrellas Zähne knirschten vor Wut, weil sie für die Bewohner der Siedlung im Moment nichts tun konnte.
Sie richtete sich auf.
Irgendwie musste sie ihr Schiff erreichen. Sam würde das einzig Richtige tun und die SILVER STAR flußab treiben lassen. Dort, wo sich die Breite der Mündung auftun würde, konnte er den Segler wenden.
Da wurde sie von mehreren Händen von hinten ergriffen.
Irgend etwas explodierte auf ihrem Schädel. Es wurde Nacht um die Corsarin.
Estrella erwachte. Ihr Schädel brummte.
Sie versuchte sich aufzurichten – es funktionierte nicht. Unter Mühen gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Es brauchte noch zehn Minuten, bis sie ihre Situation erkannt hatte. Sie lag mit ausgespreizten Gliedern auf dem Boden. Hände und Füße hatte man an Pflöcke fixiert. Feuer warfen bizarre Schatten. Die Huronen tanzten. Sie erkannte noch andere Gestalten – an Bäume gefesselt.
Sie erinnerte sich an den Kampf im Stadthaus der Siedlung. Dann die Detonation, als das Dach des Hauses weggefetzt worden wahr. Estrella hatte sich einfach aus dem nächst besten Fenster gestürzt.
»Mierda«, flüsterte sie. Sie hatte sich mit einigen kleinen Kratzern aufgerappelt und die Richtung zum Fluss eingeschlagen.
»Guter Bush«, kam es wieder kaum hörbar aus ihrem Mund. »Du hast bestimmt das Schiff gerettet.«
Sie schloss erneut die Augen. Sie hatte die Absicht gehabt, zum Schiff zu schwimmen, doch dann hatte sie der heimtückische Schlag getroffen.
Als die Corsarin erneut die Augen öffnete, beugte sich jemand über sie. Ein breites, pockennarbiges Gesicht befand sich ganz nah vor dem ihren. Sie roch leicht säuerlichen, alkoholhaltigen Atem.
»Voucé«, zischte sie.
Der Angesprochene grinste breit und richtete sich wieder auf.
»Estrella Avilla de Aragon – so sieht man sich wieder.«
»Verdammte Ratte«, würgte sie hervor. »Mörder meiner Eltern!«
Der Mann, den die Corsarin Voucé nannte, lachte hämisch auf und versetzte der Gefesselten einen Tritt in die Seite.
»Dir wird das Drohen und Schimpfen noch vergehen«, gluckste er. »Mal schauen, wer mehr Kopfgeld für dich bezahlt – die Engländer oder die Franzosen.«
»Die Hölle wird dich verschlingen!« stieß Estrella wutschnaubend aus.
Voucé zuckte mit den Achseln. »Mag ja sein. Aber vorher werde ich mich an dem Anblick laben, wenn man dich auf die Folter legt.«
Estrella gab sich keinerlei Illusionen hin. Ganz gleich, an wen man sie ausliefern würde – ein grausamer Martertod würde sie erwarten. In ihren Ohren dröhnte schon das sensationslüsterne Geschrei des Mobs.
Plötzlich herrschte Stille auf dem Lagerplatz der Indianer.
Estrella wandte den Kopf, so weit es möglich war.
Der Häuptling der Truppe stand in der Mitte des Platzes. Der Widerschein des Feuers warf glänzende Reflexe auf seine rötlich gebräunte Haut. Die kurze Feder – in seinen irokesenähnlichen Haarschopf eingeflochten – kräuselte sich im Nachtwind.
Mit erhobenen Armen dankte er Manitou für den Sieg.
»Einige Feinde sind entkommen«, sagte er dann mit lauter Stimme. Estrella konnte die Sprache der Huronen verstehen. »Sie sind mit einem Schiff geflüchtet. Doch der große Manitou wird sie verderben. Sie laufen direkt unseren Verbündeten aus dem fernen Land – jenseits des Ozeans – in die Arme. Ihre mächtigen Segelkanus werden das Schiff vernichten mit Feuer und Schwefel.«
Die Corsarin erschrak. Es konnte sich ja nur um Franzosen in diesem Bereich handeln. Himmel – Bush lief mit der SILVER STAR in die Falle!
Doch dann beruhigte sie sich wieder. Sam und Helen würden nicht so dumm sein, einfach aus der Mündung zu segeln. Sie würden wohl eher einen der Seitenarme nutzen, um sich erst einmal zu verstecken.
Genau das taten die beiden auch.
»Hoffentlich laufen wir nicht auf«, gab die junge Frau ihre Befürchtung kund.
Sam legte ihr väterlich den Arm um die Schulter. »Keine Sorge – ich kenne das Gewässer hier, wie meinen Hut. Das einzige, wovor wir uns hüten müssen, sind Schlangen, wenn wir mit den Masten die Baumwipfel streifen. Sie hängen an den Ästen und fallen dann auf Deck.«
Er deutete auf Helens nackte Füße. »Zieh dir besser Stiefel an. Ich werde es der restliche Mannschaft auch sagen.«
Unendlich langsam glitt die SILVER STAR immer tiefer in die Finsternis des Flussarmes. Man hörte kein Geräusch außer dem Plätschern des Wassers und ab und zu ein Knarren des Schiffskörpers. Der Mond spendete diffuses Licht.
Zweimal fiel eine Schlange auf die Planken. Aber jedes Mal gelang es, sie mit einer Stange wieder von Bord zu stoßen.
Der Flussarm weitete sich, die Bäume traten zurück. Bush ließ ziemlich in der Mitte Anker werfen.
»Vier Mann Wache auf jede Seite. Ein Mann in den Mastkorb. Kein Licht!« gab der Erste den Befehl.
Er und Helen zogen sich in die Kajüte zurück. Sam Bush angelte eine Flasche Rum aus dem kleinen Wandregal und entkorkte sie mit den Zähnen. Er hielt Helen die Flasche hin, diese wehrte dankend ab.
»Dann nicht.« Der Alte kippte einen ordentlichen Schluck hinunter.
»Was ist mit Estrella?« wollte Helen wissen.
Bush setzte die Flasche auf den Tisch und wischte sich über den Mund. »Um etwas zu unternehmen, müssten wir erst einmal wissen, wo sie sich befindet.«
»Ich habe gesehen, wie sie niedergeschlagen worden ist«, kam es leise von Helen.
Bush nickte langsam. »Dann werden die Huronen sie in ihr Lager geschleppt haben. Vermutlich mit noch anderen Überlebenden des Überfalls. Ich hoffe inbrünstig, dass durch unseren Beschuss ein Teil der Bewohner auch fliehen konnte.«
Helen lief nervös auf und ab. »Wir müssen das Lager suchen!«
»Das geht aber erst am Tage. Wenn wir jetzt los marschieren, sind wir eher tot, als dass wir irgend etwas erreicht haben. Entweder durch einen Pfeil aus dem Hinterhalt oder eine Giftschlange.«
Helen wedelte aufgebracht mit den Armen herum. »Was ist, wenn sie Estrella töten?«
»Das tun sie nicht«, wehrte der Alte ab. »Wenn sie noch leben sollte – was ich hoffe – dann werden sie versuchen sie den Franzosen zu übergeben. Für diesen Fang erhalten sie viele Waffen und Feuerwasser.«
Helen spielte unruhig mit ihren Fingern.
»Wir müssen aber doch etwas tun?!«
Sam begann seine alte Pfeife zu stopfen. »Im Morgengrauen werden wir mit einem Beiboot zum Hauptflusslauf rudern. Wenn keine Gefahr droht, versuchen wir in den Ort zu gelangen.« Er machte eine Pause. »Oder dahin, was von ihm übrig geblieben ist.«
So kam es, dass in der ersten Dämmerung fünf Mann und Helen fast lautlos und vorsichtig durch den toten Flussarm glitten. Sam Bush sondierte das mit dichtem, teils überhängendem Buschwerk bestückte Ufer mit Argusaugen. Doch sie gelangten unbehelligt bis an die Einmündung des Stromes.
»All right«, knurrte der alte Seebär. »Dort liegt die Ansiedlung. Wagen wir es. Männer – haltet die Musketen bereit.«
Die ersten schüchternen Sonnenstrahlen blitzten über das Wasser, als das Boot im Schutze des alten Steges im Schilf anlegte.
»Keinen Laut jetzt mehr«, gebot der Alte. »Wir wissen nicht, ob die Indianer Wachen oder Späher zurück gelassen haben.«
Doch nichts dergleichen hielt sie auf.
Im Bereich des ehemaligen Stadthauses stolperten sie über zahlreiche Leichen. Siedler, wie auch Huronen.
»Die Indianer scheinen die Überlebenden des Kampfes mit sich genommen zu haben«, mutmaßte Bush. Helen stand wie versteinert. »Wie sollen wir nur eine Spur von Estrella aufnehmen?«
Der Alte streichelte ihren Arm. »Estrella ist für sie wertvoll – falls sie sie lebend erwischt haben. Ihre Leiche ist hier nicht zu entdecken. Also gehe ich davon aus. Die anderen Gefangenen werden sie traditionsgemäß bei einem großen Dankesfest für Manitou zu Tode martern.«
»Oh Gott!« entfuhr es der jungen Frau.
Bush schaute sich um. »Ich weiß, dass heute Nacht der exakte Vollmond scheint. Also wird dieses Fest heute Abend stattfinden. Vielleicht gibt es eine Chance, die Leute zu retten.«
»Dazu müssen wir erst einmal ihr Lager finden«, rief Helen unwirsch aus. »Das kann überall sein.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Sehr weit werden sie mit den ganzen Gefangenen nicht ziehen. Das Lager wird sich im Umkreis von zehn Meilen befinden. In der Nähe des Flusses, denn die Huronen sind mit Kanus gekommen. Fluss aufwärts müssen wir suchen.«
Sams Ruhe übertrug sich auf die junge Frau.
Sie suchten noch ein mal die Umgebung genauestens ab. Nahe des Steges entdeckte Helen dann ein zerrissenes Armband mit einem Amulett. Sie wusste, dass die Corsarin ein solches besaß.
Die Feuer flackerten..
Die rotbraunen Gestalten hüpften durch den Lichtschein – tauchten auf wie Geister und verschwanden wieder in der Dunkelheit. Die Gesichter zeigten sich mit grell weißer und blauer Farbe bemalt.
Helen und Sam lagen im hüfthohen Gras versteckt und beobachteten die Szene. Etwa dreißig Yards weiter lagen Joe McCoy und Glenn Dyke. Zwei sehr umsichtige und zuverlässige Männer. Fünf weitere lagen in einem gewissen Umkreis um das Lager verteilt. Sam Bushs Plan war es, möglichst gleichzeitig loszuschlagen und die Indsmen in die Zange zu nehmen.
In der Nähe des mittleren Feuers – des größten – hatte man vier Pfähle in den Boden gerammt. Die Marterpfähle!
Aber noch konnten die Beobachter keinen der Gefangenen sehen. Da kam Joe herbei gerobbt.
»Die Gefangenen befinden sich dort hinten. Hinter den Büschen bei den Kanus.«
Sam zog die Augenbrauen hoch. Die Auskunft brachte ihn auf eine Idee.
»Irgend eine Spur von der Corsarin?« wollte Helen wissen.
Joe schüttelte den Kopf. Dann robbte er wieder lautlos davon.
»Verdammt!« kam es von der Engländerin. »Wenn sie Estrella nun doch…«
»Bleib ruhig!« gebot Bush. Dann gab er das Zeichen.
Die Musketen donnerten. Die Männer sprangen auf und stürzten auf den Platz. Die Huronen wurden total überrumpelt.
Die Indianer – die Überlebenden – wurden gefesselt zu den Feuern gebracht.
Sam Bush blieb vor einem älteren Huronen mit besonders vielen Stammesabzeichen stehen.
»Sieh mal an – Häuptling Große Sonne. So sehen wir uns nach vielen Wintern wieder.«
Der am Boden liegende Indianer machte erstaunte Augen. »Sam Bush – den die Huronen auch die Flinke Schlange nennen. Binde mich los, damit wir in Ruhe reden können.«
Der alte Sam lachte rau auf. »Damit du mir sofort an die Gurgel gehst? Nein, nein – alter Fuchs. Wir können so reden.«
»Weshalb überfällst du uns? Sind wir nicht Freunde gewesen? Haben wir uns nicht beigestanden gegen viele Feinde?«
Sam nickte. »Das ist richtig. Deshalb wundert es mich, dass die Große Sonne – die ihren Namen wegen ihrer Weisheit erhalten hat – harmlose Siedler nieder metzelt.«
Der Häuptling versuchte sich etwas aufzurichten. »Es sind die Feinde der Huronen. Sie wollten uns vernichten.«
»Sicher«, machte Sam zynisch. »Frauen und Kinder jagen den großen Huronen Furcht ein!«
»Diese sind nur als Tarnung in dem Ort gewesen!«
Nun lachte der Alte aus vollem Hals. »Ja… so wird es sein. Vielleicht ist aber auch der Geist des Häuptlings vom vielen Feuerwasser verwirrt, das ihm die Franzosen verabreicht haben.«
Das konnte der Häuptling nicht auf sich sitzen lassen. »Der weiße Anführer hat uns viele Waffen versprochen. Die Huronen brauchen sie gegen die Leute, die sich Engländer nennen. Sie wollen die Huronen auslöschen.«
Sam ging in die Hocke. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher, mein Guter. Dieser Franzose – wie heißt er doch noch …«
»Er nennt sich Voucé.«
Sams Brauen zogen sich zusammen. Auch das noch! Der Name sagte ihm jede Menge. Er hatte gehofft, dieser Bastard sei längst tot. Wenn Estrella ihm in die Hände gefallen war…«
Bush musste schnell handeln.
»Pass auf, Große Sonne – du bekommst von uns zwanzig gute Musketen und zwei Fässer Rum. Dafür übergibst du mir die Gefangenen und sagst mir, wo die weiße Frau vom Schiff hingebracht worden ist.«
»Das kann ich nicht tun!« kam es vom Häuptling.
Bush richtete sich auf. » Viermal habe ich dir das Leben gerettet. Ich denke, dass so etwas doch einiges Vertrauen aufbauen dürfte – oder hat der Große Geist dich nicht gelehrt, Freunde nicht zu hintergehen?«
Man sah dem Häuptling an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
»Wann bekommen wir die Waffen?«
»In der Zeit, die wir drei Stunden nennen.«
Endlich wurde man sich einig. Sam band den Häuptling los und sie rauchten das Kalumet. Nun konnte der Alte sicher sein, nicht hinterhältig angegriffen zu werden. Das würde – nach dem Glauben der Huronen – Manitou niemals verzeihen.
Der Häuptling teilte Sam mit, dass Voucé und zwanzig Soldaten die Corsarin mit einem kleinen Segelboot zu zwei französischen Fregatten bringen wollte, die vor der Mündung des Flusses kreuzten.
Die Franzosen besaßen einen Tag Vorsprung.
»Welche Möglichkeiten haben wir?«
Helens Stimme klang belegt
Bush stand am Bug der SILVER STAR und starrte in die vorantreibende Welle. Der Wind frischte auf und das Schiff machte gute Fahrt.
»Unsere Chance muss sich aus der Situation ergeben. Sind noch beide Fregatten da, versuchen wir in der Nacht zu entern. Sehen wir nur noch eine, so befindet sich Estrella auf dem Wege nach Frankreich.«
Helen ballte die Fäuste. »Ja – und verschwindet in irgendeinem Kerker.«
Der Erste sagte nichts dazu.
Gegen die dritte Morgenstunde – der Mond war unterdessen untergegangen – tasteten sie sich vorsichtig an die Hudsonmündung heran.
»Alle Leinwand weg! Treibanker!«
Sofort wurde der Befehl des Alten befolgt.
»Keinen Laut!«
Sie glitten im Schutze der Finsternis näher. Von der oder den Fregatten würde man sie nicht sehen können. Die Franzosen aber würden sich gut gegen den Himmel abzeichnen.
»Da!« Helen hauchte es mehr und streckte den rechten Arm aus. Fahl blinkte im sanften Auf und Ab der Wogen zwei Lampen herüber.
Bush sog scharf die Luft ein. »Es ist nur noch eine.«
Helens Herz verkrampfte sich. »Himmel hilf!«
Der Erste spuckte über die Reling. »Der Himmel wird nichts tun. Höchstens wir.«
Helen fuhr sich durch das helle Haar. »Wo mögen sie Estrella hinbringen?«
»Nach Gaspé! Das ist der nächste Kriegshafen. Am St. Lorenz. Mal sehen, ob wir die ‚Camemberts’ nicht eher packen können.«
Helen lachte leise, aber ironisch. »Dazu müssten wir erst einmal an diesem Schiff vorbei.«
Um Sam Bushs bärtige Lippen spielte ein satanisches Lächeln. Das konnte Helen zwar nicht sehen, aber als sie den Plan des Alten hörte, gefror ihr doch ein wenig das Blut in den Adern.
Die NOTRE DAME rollte in der aufkommenden See.
Der frühe Morgen entfachte eine steife Brise. Die Planken knarrten. Es stank im Bugraum. Zwischen faulendem Wasser und toten Rattenkörpern hatte sich Estrella bereits zweimal übergeben an diesem Morgen.
Halb lag sie, halb hing sie in den rostigen Ketten, die ihre Gelenke wund scheuerten. Ihre Bluse zeigte sich zerrissen. Die linke Brust lag frei. Die Stiefel hatte man ihr abgenommen. Das Haar hing wirr in dem von Schmutz starrenden Gesicht.
Sie stöhnte. Lange würde sie das nicht durchhalten.
»Mierda«, keuchte sie. Ihr Blick wirkte fiebrig.
Es knarrte auf der schmalen Holztreppe, die vom zweiten Zwischendeck hier in die Unterwelt führte. Der Mann, der da auf die Gefangene zuschwankte, war betrunken. Das erkannte man auf den ersten Blick. Mit ausgebreiteten Armen, um die Balance zu halten, stolperte er auf die Frau zu.
»Ha«, grunzte er. »Du bist also die gefürchtete Corsarin?!« Er lachte lallend.
Estrella hatte nicht viel Möglichkeiten, sich seinen möglichen Zudringlichkeiten zu erwehren.
Sie beschloss, ihn zu ignorieren.
»Was?« kam es knurrend. »Bin ich dir nicht fein genug?« Wieder lachte er.
»Schau mal…« Er zog seinen Penis hervor. »Ist das nicht ein Frauentraum?«
Er begann langsam vor ihr zu onanieren.
Estrella schloss die Augen. Das machte den Mann wütend. »Na warte, du Hexe – ich geb’s dir.«
Er kam näher heran und hielt sein Glied dicht vor das Gesicht der Corsarin.
Das hätte er besser sein lassen sollen. Estrellas Kopf ruckte vor. Der Mann kreischte auf und Blut spritzte in das Antlitz der Frau.
Der Mann schrie das ganze Schiff zusammen.
Estrella spuckte die Eichel aus.
Der Franzose wand sich am Boden. Der grausame Schmerz hatte ihn ernüchtert.
Mit einem Mal füllte sich der Bugraum. Unzählige Männer standen um den Verstümmelten herum.
»Holt den Arzt!« rief jemand. »Aber dalli!«
Dann trat ein Mann in der Uniform eines Hauptmanns auf die Gefangene zu. Er schaute in das Gesicht, das sich entstellt vom Schmutz und Blut zeigte.
»Dafür werden wir unseren besonderen Spaß mit dir haben – du spanische Hure.« zischte er.
Der Bordarzt versorgte die Wunde, so gut es ging. »Gebt ihm Rum bis zur Bewusstlosigkeit. Mehr kann ich nicht tun.«
»Vielleicht sollten wir dir erst einmal die Zähne ziehen«, knurrte der Hauptmann.
»Fühlst du dich wohl dabei, eine wehrlose Frau zu quälen?« kam es heiser von Estrella.
Die Antwort bestand aus einem Tritt vor die Brust.
Die Corsarin glaubte, ihr Brustbein müsse gebrochen sein. Sie bekam keine Luft.
Zwei Stunden nach diesem Vorfall hing sie – im kühlen Morgennebel – splitternackt – mit dem Kopf nach unten an der obersten Außenrahe des Hauptmastes.
Da die Fregatte mächtig rollte, wurde die Frau wie ein Pendel mächtig hin und her geschleudert.
Das erste Mal seit undenklichen Zeiten betete sie um ihren Tod.
Nieselregen setzte ein und traf eiskalt ihre Haut. Nun gut – dachte sie – dann krepiere ich eben an einer Lungenentzündung. Während sich ihr Blick langsam verklärte, glaubte sie in einem Wellental am Horizont eine weitere Fregatte zu sehen. Doch das mochte auch eine Halluzination sein.
Es handelte sich um einen Handstreich, der seines Gleichen suchte!
Mit den beiden Rettungsbooten waren sie an der zur See gewandten Seite neben der Fregatte aufgetaucht. Während die Besatzung die angeblich Schiffbrüchigen an Bord nahm, legte die SILVER STAR an der anderen Seite an. Eine Salve aus den Musketen hatte eine Drittel der Mannschaft ins Jenseits geblasen. Die Schrecksekunden der Restmannschaft zeigte sich für diese verhängnisvoll. Sam Bush stand vor dem französischen Admiral, der gefesselt auf dem Vorderdeck lag und sagte sachlich: »Monsieur – ihr Schiff ist konfisziert!«
Ein großer Teil der Mannschaft wurde in die Beiboote verfrachte, der Rest im Unterdeck in Ketten gelegt. Ein kleiner Teil der SILVER-STAR-Mannschaft blieb auf dem Corsarenschiff, der Rest kleidete sich in französische Uniformen.
Helen drückte dem alten Bush die Hand. »Sie sind ein Phänomen, Mr. Bush!«
Der Alte strahlte.
Dann drehte er sich um und schrie über das Deck: »Volle Leinwand. Es geht um unseren Lady-Captain!«
Das musste er nicht wiederholen.
Der Wind entwickelte sich zum Sturm.
Helen stand am Bug. Tief tauchte er immer wieder in das Wellental, um einem Wal ähnlich mit triefendem Maul wieder das Tageslicht zu erlangen. Ihnen folgte die SILVER STAR.
Sam Bush kämpfte sich nach vorn. »Commodore – wir müssen Leinwand wegnehmen. Diese Fregatte ist nicht so flexibel wie unser STAR.«
»Ist mir egal!« schrie Helen durch das Brausen. »Vielleicht haben wir doch eine echte Chance das Schiff vor dem St. Lorenz zu erwischen.«
»Wir haben schlechte Karten, wenn wir überkränken oder uns ein Mast bricht!«
Helen starrte zum Horizont, der nur aus grauer Gischt zu bestehen schien.
»All right, Sam – veranlassen sie das Notwendige.«
Bush drehte ab, da schrie die junge Frau: »Da! Da läuft die NOTRE DAME!«
Der Erste wirbelte herum. Er beschattete die Hand mit den Augen. »Ich sehe nichts.«
»Sie war da«, mit brennenden Augen versuchte Helen den Horizont zu durchdringen.
Bush legte ihr den Arm um die Schulter. »Mädel – das Wetter täuscht und hinzu kommt der Wunsch als Vater des Gedankens.«
Helens Schultern sanken nach unten. »Sicher hast du Recht. Also Leinwand reduzieren.«
Die Fregatte verringerte merklich die Geschwindigkeit.
Die Entscheidung des erfahrenen Seemanns sollte sich als gut erweisen. Die See wurde zunehmend rauer. Die Fregatte und die SILVER STAR mussten mehr Abstand von einander halten.
Der Tag verging. Die Nacht brach herein. Helen ließ nur ein winziges Licht für das Corsarenschiff setzen.
Gegen Morgen des vierten Tages beruhigte sich die See. Schüchtern traten ein paar Sterne auf den Plan. Diese verblassten aber rasch im Morgenrot.
»Welch traumhaftes Bild!« rief Helen aus.
Sam stand neben ihr. »Ja – wenn wir nicht eine Aufgabe zu lösen hätten.«
Wie ein Schemen tauchte der Hafen unweit der mächtigen Mündung des Sankt Lorenz Stromes auf.
Helen stieg auf das Oberdeck. Sie rief ihre Mannschaft zusammen.
»Leute! Es kommt jetzt drauf an. Plan zwei tritt in Kraft.«
Einer der Männer riss die Arme hoch.
»Für den Lady-Captain!«
Sogleich stimmte die gesamte Mannschaft ein.
Sam Bush ließ zur SILVER STAR mittels Handzeichen übermitteln:
> Zurück bleiben <
»Jetzt kommt es darauf an.«
Sam Bush rieb sich das Kinn. Alle steckten in französischen Uniformen.
Die Fregatte legte im hinteren Teil des Hafens an. So zu sagen im Windschatten der NOTRE DAME.
»Was tun wir, wenn die Admiralität wissen will, wer für uns den Rückfahrtbefehl gegeben hat?« flüsterte Helen.
Der Erste schob sich einen Priem in den Mund. »Darauf müssen wir es ankommen lassen. Ich denke aber, dass man über die Freude des Fangs, wenig darüber nachdenken wird.«
Helen stand an der Reling und hatte die andere Fregatte genau im Auge. Sie mussten wissen, wo man die Corsarin hinbrachte.
»Wenn sie Estrella in die Festung bringen, haben wir eine Chance, sie in der Gasse vor der Brücke zu befreien«, hatte Helen überlegt, doch Sam hatte das abgewehrt. »Wir säßen ruckzuck alle in der Festung. Nein, nein – da werden wir uns schon etwas anderes einfallen lassen müssen.«
»Aber wenn sie einmal im Kerker liegt, kommen wir nicht mehr an sie heran!«
Der alte Bush hatte gegrinst. »Vielleicht müsste ich meine Paraderolle als des Königs Admiral wieder mal spielen.«
Die junge Engländerin lief nervös über das Deck. Sie konnte nicht direkt das Fallreep der NOTRE DAME einsehen. Aber das kurze Stück zur Festungsgasse hatte sie im Auge.
Dann sah sie Estrella.
»Oh nein!« entfuhr es ihr. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.
Dieses halbnackte geschundene Bündel, das dort drüben in Ketten über den Kai geschleift wurde, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der stolzen Corsarin.
Sam kam herbei. Er hatte es auch gesehen. Seine Lippen bildeten nur noch einen schmalen Strich.
Endlich presste er hervor: »So schlimm hatte ich mir ihren Zustand nicht vorgestellt. Das wirft alle Überlegungen über den Haufen. Wir werden sie heute Nacht noch herausholen.«
Estrella selbst nahm ihre Umwelt kaum wahr. Sie spürte nicht, wie ihre bloßen Füße auf dem rauen Straßenpflaster aufrissen, als die Soldaten sie unter Hohngelächter zu Festung schleppten. Bald 24 Stunden hatte sie an der Rahe der Fregatte gehangen. Irgendwann hatte ihr Geist abgeschaltet.
Sie kam erst wieder etwas zu sich, als sich die schwere, eisenbeschlagene Tür krachend schloss.
Apathisch lag sie auf dem fauligen Stroh. Nur geringes Licht drang durch die Gitter des kleinen Fensters zu ihr. Ihre Lebensgeister befanden sich ziemlich am Nullpunkt. Auf Rettung konnte sie kaum hoffen – denn woher sollten Helen und Sam ihren Aufenthalt kennen?
Ihre Nähe konnte sie nicht ahnen.
Sie versuchte sich aufzurappeln. Die Halskette ließ ihr einen Spielraum von vielleicht zwei Yards. Durch die Fußketten, gelang es ihr kleine Schritte zu machen und so das Fenster zu erreichen. Dieses Kellerloch zeigte auf einen Platz. Sie sah Menschen dort laufen. Demnach befand sie sich in einer Zelle an der Außenmauer der Festung.
Plötzlich glaubte sie, ihr Herz bliebe vor Freude stehen.
Dort auf dem Platz – an einen Brunnen gelehnt – stand ihre Schwester. In der Uniform eines französischen Kapitäns.
»Helen« flüsterte sie. Dann schrie sie es krächzend heraus. »Helen!«
Aber konnte sie es überhaupt hören? Und wenn – würde sie die Schwester nicht in Gefahr bringen?
Doch dann schluckte sie, als sie sah, dass Helen sich – wie zufällig – auf die Festungsmauer zu bewegte.
Dann ging sie in die Hocke schaute Estrella direkt ins Gesicht.
»Helen…« hauchte Estrella.
Die Angesprochene grinste. »Ich werde doch die größte Corsarin aller Zeiten nicht ihrem Schicksal überlassen.«
Estrella schloss die Augen. »Eigentlich hatte ich mit dem Leben abgeschlossen.«
»Blödsinn! Sam und ich holen dich hier raus. Die SILVER STAR kreuzt in der Nähe. Was auch passiert – wir lassen dich nicht im Stich.«
Dann erhob sie sich rasch und verschwand.
Ein Trupp Wachsoldaten marschierte vorbei.
Estrella knickte in den Knien ein. Sie drückte den Kopf in das schmutzige Stroh. Ihre Nerven hielten der Anspannung nicht mehr stand und die Folter auf der Fregatte hatte ihr übriges getan. Ein Husten schüttelte ihren unterkühlten Körper.
Doch so einfach, wie Sam Bush sich das gedacht hatte, funktionierte es nicht. Das Einlaufen von zwei weiteren Fregatten stellte eine neue Gefahr dar, zumal der alte Bush einen der Kommandanten kannte.
»Verflixt! Das ist Captain Ciraque.«
Helen schaute zu der bezeichneten Person am Kai herüber. »Er muss dich ja nicht sehen.«
»Nein – aber das macht meinen Plan zunichte. Wenn er auf die Festung abkommandiert wird, kann ich meine Rolle als königlicher Abgesandter nicht spielen. Ciraque geht in Versailles ein und aus. Er kennt dort jeden.«
Was Bush befürchtet hatte, traf ein. Ciraque machte sich mit etwa zwanzig Seesoldaten auf den Weg zur Festung.
»Dann müssen wir eben heraus bekommen, wie lange er bleiben will«, sagte Helen und verschwand.
»Was hast du vor?« rief Sam hinter ihr her.
Zehn Minuten später tauchte sie im einfachen Gewand einer Bäuerin wieder auf.
»Wo hast du denn das her?« Bush staunte.
Helen lächelte nur geheimnisvoll, anstelle einer Antwort. Dann verließ sie das Schiff.
»Hm«, knurrte der Erste in seinen Bart.
»Vermutlich hat dieser Fregattenkommandant ein Verhältnis an Bord versteckt.« Er grinste vor sich hin. Er wusste, dass es – obwohl offiziell verboten – so etwas viel auf französischen Kriegsschiffen gab.
Nach zwei Stunden kehrte Helen zurück. Sam Bush blickte ihr erwartungsvoll entgegen.
Helen machte ein bedenkliches Gesicht. »Es sieht schlecht aus. Man stuft die Corsarin als wichtige Gefangene ein. Deshalb ist Ciraque das Kommando über die Festung übertragen worden. Es soll nächste Woche einen Schauprozess geben.«
»Ich kann es irgendwie verstehen«, brummte der Alte. »Schließlich hat Estrella der englischen und französischen Flotte mehr Verluste zugefügt, als die letzten beiden Kriege.«
Helen rümpfte die Nase. »Dann ist ja jetzt der Moment da, wo sich die beiden Erzfeinde mal gemeinsam freuen können.«
Bush gab ein trockenes Lachen von sich. »Die Engländer hätten diesen Schauprozess sicherlich auch gerne geführt.«
»Ich denke, es ist jetzt wichtig, dass wir von diesem Schiff verschwinden, bevor eine Marineinspektion auftaucht und merkt, dass es eine neue Mannschaft gibt«, bemerkte die junge Frau.
»Ja – außerdem müssen wir uns mit der SILVER STAR in Verbindung setzen.«
Eine Stunde später saßen die Gefährten der Corsarin in Zivil in der Schenke ZUR SCHÖNEN MAID – etwas außerhalb des Zentrums. Bush kannte diese alte Schmugglerspelunke unweit der Küste aus vergangenen Zeiten.
»Hier wird uns keiner verraten. Die haben nämlich alle Dreck am Stecken hier und reagieren auf Soldatentrupps allergisch.«
Helen hatte sich auf der langen Sitzbank zurück gelehnt und blickte durch das Fenster auf’ das ferne Meer.
»Wenn man die Mannschaft der Fregatte im Unterdeck findet, wird es in der Stadt einen Aufruhr geben. Man wird alle Häuser nach Kollaborateuren durchkämmen.«
Bush feixte. »Und schon wird man die Engländer wieder im Verdacht haben. Aber wir sind hier sicher.«
Estrella hatte man inzwischen zum ersten Verhör geführt.
Ciraque blickte stirnrunzelnd auf den desolaten Zustand der Frau.
»Das soll die gefürchtete Corsarin sein?« fragte er. Was er da sah, passte ihm nicht. Man mochte dem Kriegskapitän viel nachsagen, aber er hatte Zeit seines Lebens immer fair gekämpft. Was da schwankend vor ihm stand, war ein Wrack.
Er winkte seinen Adjutanten herbei. »Ich werde das Verhör morgen führen. Bis dahin erwarte ich von euch, dass Estrella Avilla de Aragon sich säubern konnte und mit ordentlicher Kleidung versehen ist. Sie ist zwar unser Feind, aber wir sind keine Barbaren. Außerdem möchte ich, dass ihre Zelle gesäubert wird.«
So kam es, dass zwei Stunden später eine ordentlich gewaschene und gekleidete Frau in eine halbwegs annehmbare Zelle geführt wurde. Man legte ihr das Halseisen zwar wieder an, verzichtete aber auf jegliche andere Fesseln. Estrella hatte somit die Möglichkeit, sich einigermaßen zu bewegen.
Es war schon zur fortgeschrittenen Abendstunde, als Helen wieder an dem kleinen Fenster auftauchte. Wäre die Öffnung größer gewesen, hätte eine Befreiung im Handstreich stattfinden können.
Helen zeigte sich erleichtert, als sie erfuhr, dass man ihre Halbschwester annehmbar behandelte.
»Ciraque scheint mir doch etwas mehr Ehre zu besitzen, als diese Franzosen im allgemeinen«, bemerkte die Corsarin.
Helen lachte rau auf. »Seine Ehre wird ihn nicht daran hindern, dich zu hängen.«
»Vermutlich nicht – aber vielleicht ergibt sich während des Prozesses eine Chance, hier heraus zu kommen.«
Helen nickte. »Ich komme morgen wieder.« Damit huschte sie davon.
»Es ist ein Krieg!«
Estrella hatte hochmütig den Kopf erhoben.
Ciraque spielte mit der Schreibfeder. Unwillen zeigte sich in seinen Augen.
»Nein, das ist ihr Privatkrieg – wir nennen es Piraterie.«
»Wir gehören zur Streitmacht der Unabhängigkeitskämpfer!«
Ciraque sprang auf. »Auch das ist illegitim! Es gibt für diese Menschen keinerlei Recht, den König vor den Kopf zu stoßen!«
»Pah! Der König? Der König kümmert sich nicht um die Sorgen seiner Leute. Er befindet sich weit weg. Hauptsache ist doch, dass seine Schatzkammern gefüllt werden.«
In den Augen Ciraques begann es zu funkeln.
»Madame«, setzte er an und man merkte, dass er sich zur Ruhe zwang. »Bisher bin ich fair zu ihnen gewesen. Deshalb fordere ich sie auf, nicht den König zu beleidigen!«
Er machte ein paar Schritte durch den mit Holz getäfelten Saal, der normalerweise zur Beratung der Stände von La Rochelle diente.
»Der König benötigt Geld. Sehen sie sich um. Wie viel Armut und Missstand muss beseitigt werden.«
Er blieb dicht vor Estrella stehen. Er schaute ihr fest in die dunklen Augen. Er konnte nicht umhin sich einzugestehen, dass diese Frau ihn faszinierte.
»Ich mache ihnen ein Angebot.« Er wandte sich etwas um und schaute an der Corsarin vorbei. »Bedenken sie, dass ich sie ohne viel Federlesens hängen lassen könnte.«
Er blickte sie wieder direkt an. »Sie sagen mir, wo sich ihr Schiff – die SILVER STAR – befindet. Wir werden sie aufbringen und die Mannschaft wird sich ergeben. Im Gegenzuge sichere ich ihnen allen das Leben zu.«
Estrella senkte den Blick. Leise und zynisch kam es: »Das Leben… – was für ein Leben? In Ketten in dunklen Kerkern?«
Ciraque schürzte die Lippen. »Nun ja – ich sehe ein – es ist nicht sehr einladend, aber nach einiger Zeit guter Führung könnte ich mir vorstellen, ihre Mannschaft in die afrikanischen Kolonien zu verschiffen. Dort würde es ihnen menschlicher ergehen. Aber es ist besser als der schimpfliche Tod.«
In Estrellas Augen blitzte es kurz auf. »Capitano – sie sprechen von meinen Leuten. Was ist mit mir?«
Ciraque lächelte. »An meiner Seite wäre Madame sicherlich eine Bereicherung bei Hofe.«
Ein gefährliches Flackern entstand in den Augen der Corsarin.
»Ich soll meine Mannschaft opfern, um mit ihnen das Bett zu teilen?«
Ehe sich der Kapitän versah hatte die Frau ihm eine schallende Ohrfeige versetzt.
Die beiden Adjutanten im Hintergrund es Raumes, schrieen erschrocken auf. Das hatte noch niemand gewagt. Eine Ungeheuerlichkeit!
Sie wollten sich auf Estrella stürzen, doch Ciraque hielt sie zurück.
»Ich glaube, Madame muss den Vorschlag in Ruhe überdenken. Wir wollen ihr dazu 48 Stunden Gelegenheit geben. Im Stock auf dem Festungshof.«
Er rief die Wachen herein und gab ihnen die Instruktion.
»Madame«, rief er noch zum Schluss. »Ich bin sicher – sie werden meinem Vorschlag gewogen sein.«
Als Helen sich am Abend zu dem Zellenfenster schlich, erhielt sie auf ihr Rufen keine Antwort. Das beunruhigte sie sehr.
»Entweder, man hat sie verlegt oder…« Sam Bush rieb sich das Kinn.
»Oder was?« Helen rief es fast hysterisch aus.
Der Alte zuckte die Achseln.
Helen straffte sich. »Morgen werde ich als Händlerin die Festung aufsuchen.«
Sam schüttelte energisch den Kopf. »Mach keinen Unsinn!«
»Ich werde sicherlich nicht hier untätig warten«, zischte sie.
Alle Versuche sie umzustimmen, nützten nichts.
Am nächsten Morgen brach sie auf. Mit einem Handkarren voller Landprodukte, die sie einer Bäuerin abgeschwatzt hatte.
Die Wache am Tordurchgang der Festung warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Sie marschierte vorbei, den Blick geradeaus gerichtet.
Helen zog den Karren durch den Vorhof, dann über eine längere, schmale Zugbrücke.
Von hier aus konnte sie auch einen Teil des Innenhofes der Festung einsehen. Ein Trupp Soldaten marschierte unter der Brücke durch. Dann sah sie Estrella.
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht aufzufallen.
Die Corsarin saß in Stock, den Kopf mit den Händen in die Fiedel eingeschlossen, die schwer auf das Genick drückte. Sie musste vor Kopfschmerzen bald wahnsinnig werden.
Die bloßen Füße schauten aus dem eigentlichen Block heraus. Neben ihr stand ein Wachsoldat.
Helen fasste einen wahnwitzigen Plan. Sam Bush hätte sie für verrückt erklärt, aber es war ihr einfach unmöglich, ihre Schwester in dieser Situation zu lassen.
Wie zufällig schlug sie den Weg in den Innenhof ein. Es gab kein direktes Verbot, aber so gerne sahen es die Soldaten nicht. So warf ihr die Wache auch einen abschätzenden Blick zu. Doch dann erhellten sich seine Züge.
Er war eben ein Mann.
»Hallo, schöne Frau – was bringst du?«
Helen strahlte ihn an. »Was hättest du gerne? Äpfel, Orangen aus den besten Hainen oder Wein aus der Auvernie?«
»Hm«, machte der Soldat und legte den Arm um Helens Taille. »Ich hätte gerne Orangen – aber die speziellen«. Er lachte und griff ihr an den Busen.
Helen entwand sich geschickt und drohte spielerisch mit dem Finger. »Wenn dich dein Hauptmann erwischt, bist du dran.«
Der Soldat winkte ab. »Um dieses Weib hier kümmert sich zur Zeit keiner. Erst morgenfrüh.«
»Trotzdem – lass uns dort hinter die Büsche gehen. Ich mag das nicht, wenn jemand zusieht. Auch wenn es so eine ist.« Sie deutete mit geringschätziger Geste auf den Pranger. »Oder hast du Angst, sie könnte sich verkrümeln?«
Nun lachte der Soldat aus vollem Hals. »Die? Ha! Niemals! Der Schlüssel steckt in meiner Tasche hier.« Er klopfte sich auf die Westentasche. »Außerdem sind inzwischen Füße und Hände längst eingeschlafen oder verkrampft. Die kommt allein keinen Schritt weit.«
»Na, dann ist es doch gut. Komm!«
Sie zog ihn mit sich.
Estrella beobachtete aus schmerzenden Augenwinkeln das Geschehen. Sie wusste nicht, was Helen vor hatte, aber sie begann damit, die Muskeln zu spannen und wieder zu entspannen. Alles fühlte sich an, wie in Watte gepackt.
Plötzlich vernahm Estrella einen dumpfen Schlag.
Sie wartete gespannt.
Dann rannte Helen herbei. »Jetzt mach mir nicht schlapp Schwesterherz«, raunte sie und schloss die Fiedel auf. Estrella glaubte, ihr Kopf müsse explodieren, als das Gewicht plötzlich weg war. Als auch noch der Block hochgeklappt war, fiel die Corsarin beinahe in sich zusammen.
Da hörten sie schwere Schritte. Beide schauten gleichzeitig auf. Vier Soldaten standen direkt vor ihnen.
‚Das war’s dann’, durchzuckte es Helen. Da vernahm sie die nur zu bekannte Stimme.
»Mädels, wenn man euch nicht im Auge behält… Jetzt aber schnell!«
Sam hakte Estrella unter.
Als Helen los hetzten wollte, raunte der Alte: »He! Wohin?«
»Na raus?! Kam es verblüfft.
»Aber nicht da. Ich kennen gewissermaßen einen Hintereingang.«
Der alte Seebär schaffte es wirklich, sie alle heil und ungesehen aus der Festung zu schleusen.
Als man die Flucht der Gefangenen entdeckte, befand diese sich bereits zwischen sicheren Wänden.
Ciraques gesamte Wut traf den Wachsoldaten. Der Captain ließ ihn viermal Spießrutenlaufen, bis er zusammenbrach.
Sam Bush und seine Kameraden – gemeinsam mit Helen und Estrella – erreichten kurz nach Mitternacht eine sanfte Bucht bei der St. Lorenz-Mündung. Dort nahm die SILVER STAR sie auf.
»Wir werden mit den Kanus vorausfahren. Ihr folgt mit den Siedlern. Howgh!«
Häuptling Große Sonne wandte sich um. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, bestieg er sein Boot.
»Na gut«, brummte Sam Bush in seinen grauen Bart. »Ich denke, dass wir uns in Zukunft auf unseren roten Bruder verlassen können.«
»Das denke ich auch«, bekräftigte die Corsarin. »Also los! Je eher wir die neue Siedlung errichtet haben, um so besser.«
Vidoge kam auf Estrella zu. »Madame – ich möchte ihnen im Namen der Siedler unseren Dank aussprechen. Ich weiß nicht…«
Die Corsarin gebot mit einem Lächeln Einhalt. »Wichtig ist, dass die Siedlung neu aufgebaut wird. Sie steht ab jetzt unter dem Schutz der Huronen.«
Die schöne Frau machte eine Pause und bemerkte dann ernst: »Ich hoffe. Monsieur Vidoge – dass sie es trotz ihres Glaubens vereinbaren können, Große Sonne und sein Volk als ebenbürtig zu achten.«
Vidoge nickte. »Es gibt keinerlei Vorurteile, Madame. Sie sollten mich kennen.«
»Dann ist es gut. Sie werden auf den Häuptling angewiesen sein. Aber jetzt soll jeder an Bord gehen. Wir haben viel zu tun und die Zeit drängt. Die Franzosen werden bald hier auftauchen.«
Eine halbe Stunde später legte die SILVER STAR ab.
Sie erreichten nach zwei Tagen den Platz, den Große Sonne ausgesucht hatte. Er war in einer kleinen Bucht gelegen, durch einen Berghang zur Wetterseite geschützt und auch vom Fluss kaum einsehbar. Trotzdem würde man einen Kanal legen können, der – gedeckt durch Buschwerk – zu einem Anlegeplatz führen würde.
Die Corsarin stand mit dem Häuptling der Huronen auf einem Hügel. Sie blickten über den Platz und auf die Fluss-Schleife. Der Wind zog wogend durch die Wipfel der Bäume und der breite Hudson glitzerte in der späten Tagessonne.
»Ein wunderschöner Ort«, flüsterte Estrella.
Große Sonne lächelte. »Es ist Manitous Land.«
Er ergriff die Hand der schönen Frau und drückte sie. »Die Blume des Ozeans würde auch diesem Ort einen besonderen Glanz verleihen.«
Die Corsarin musste lächeln und lehnte sich an die muskulöse Schulter des Häuptlings. »Wer weiß«, flüsterte sie. »Vielleicht werde ich mich einmal hier niederlassen. Später! Viel später…falls die See nicht mein Grab geworden ist.«
Der Hurone schaute die Frau ernst an. Die Weisheit von Jahrhunderten schien sich in seinen dunklen Augen zu vereinigen. Endlich sagte er:
»Der große Geist hat uns zusammengeführt. Wir stehen auf der selben Seite. Die Krieger der Huronen werden deine Siedler beschützen. Howgh!«
Die Indianer verlegten sogar ihr großes Lager in die unmittelbare Nähe des neuen Siedlungsplatzes und zwischen ihnen und den weißen Familien entwickelten sich echte Freundschaften.
Estrella konnte ihre Schützlinge getrost sich selbst überlassen.
Insgesamt zwei Monate blieb die SILVER STAR am Hudson. Estrella und Helen waren sich im Laufe der Zeit immer näher gekommen. Sehr zur Befriedigung des alten Bush.
Trotzdem gab es hin und wieder ein bisschen Konkurrenzkampf zwischen der Corsarin und ihrem Commodore. Der Stolz Estrellas ließ es nicht zu, wenn Helen scheinbar mehr im Seefahrtsbereich zu wissen schien, als sie. Helen dagegen forderte die Schwester manchmal provozierend heraus. Doch wenn es ums Ganze ging, standen sie zusammen wie ein Mann.
Die Sonne erlosch bereits und ihre letzten Strahlen ließen die breite Fläche des Hudson an verschiedenen Stellen wie Elmsfeuer aufblitzen. Die Corsarin stand in der Kapitänskajüte über den Kartentisch gebeugt. Im Schein der Karbidlampe schien sie einen Kurs auszurechnen.
Obwohl Helen barfuss die Kajüte betrat, registrierte das scharfe Gehör Estrellas sie.
»Es wird Zeit, dass wir wieder auf See kommen«, erklang es vom Kartentisch herüber.
Helen kam näher und betrachtete den Kartenausschnitt, den ihre Schwester gerade inspizierte.
»Bahama Riff…« Helen runzelte die Stirn. »Da könntest du auch direkt in den Hafen von Dover oder La Rochelle segeln«, kam es verächtlich. »Willst du das Unglück herausfordern?«
Die Corsarin funkelte Helen zornig an. »Bin ich ein altes Weib geworden, dass ich mich vor den Inglis verstecke? Ich bin ihre Pest bis an mein Lebensende! Jeder versenkte verfluchte Throngeiferer bereitet mir Genugtuung!«
»Ja«, kam es trocken von Helen. »Dein Lebensende könnte dann rascher kommen, als du es erwartest. Letztens ist es gerade noch mal gut gegangen.«
Die Corsarin trat dicht an ihre Schwester heran. Gefährlich leise zischte sie:
»Bist du vielleicht feige geworden? Ist der Mum aus dem Püppchen heraus?«
Estrella ging zwei Schritte zurück und ließ zynisch den Blick über ihren Commodore gleiten.
Helen hielt der Fixierung stand und bemerkte nur kurz: »Vielleicht besitze ich mehr Vernunft, als Rachegelüste.«
»Pah!« Estrella stampfte mit dem schweren Stiefel auf die Dielen. »Sollen diese britischen Hurensöhne denken, die Corsarin habe ihre Zähne verloren? Sollen sie sich in ihren Clubs biegen vor Lachen? Ha! Zittern sollen sie vor mir. Ich werde sie dort treffen, wo sie es am wenigsten vermuten. Hier!«
Estrellas Finger stieß auf einen Punkt auf der Karte herab.
Helens Augenbrauen zuckten leicht nach oben. »Andros … du willst in ihren zur Zeit größten Kriegshafen zur Neuen Welt eindringen?«
Eigentlich hatte Helen nichts anderes von ihrer Schwester erwartet. Aber sie spielte bewusst weiter den Advokato Diablo.
Sie zuckte mit den Achseln. »Na ja – das ist ja genau das richtige Panorama um…«
Estrella kam mit gerunzelter Stirn näher. »Um was?«
Die Schwester grinste. »Um sich die Haut abziehen zu lassen oder mit herrlichem Blick aufs Meer die Brandeisen an die Brüste setzen zu lassen.«
Das Gesicht der Corsarin wurde zur unbeweglichen Maske. Endlich presste sie durch die Zähne: »Vielleicht solltest du bei den Huronen bleiben und dir Kinder machen lassen.«
Wutschnaubend stürmte Estrella aus der Kajüte. Dabei rannte sie beinahe Sam Bush über den Haufen.
»Hey…« entfuhr es ihm. Sein Blick wanderte fragend zu Helen. Diese lachte nur leise vor sich hin.
Der Alte räusperte sich und meldete: »Hecklaternen sind angezündet. Zwei Mann im Ausguck, wie es der Lady-Captain wollte.«
Etwas ratlos wandte er den Kopf zur Tür.
Helen kam auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schulter. »Nichts Ernstes, Sam. Sie ist nur mal wieder auf dem berühmten Baum.«
»Aha«, machte Bush und strich sich durch den Bart. »Darf man fragen, weshalb?«
»Ihr Temperament und ihr Hass auf die Engländer treibt sie auf die See.«
Der Erste nickte. »Sie wollte heute nacht auslaufen.«
Helen hob die rechte Augenbraue. »So? Hat sie gesagt wohin?«
Sam Bush hob ein wenig die Hände. »Oftmals erfahre ich Ziele erst im letzten Moment. Estrella ist ein Unrast.«
Die junge Frau winkte den Alten zum Kartentisch. »Kommt und seht es euch an.«
Bush beugte sich mit leicht zusammengezogenen Augen über die Karte. Die Flamme der Lampe warf einen leicht zitternden Schein. »Mein lieber mein Vater!« brach es aus Bush heraus. »Mitten ins Vergnügen…«
Helen ergriff den rechten Arm Sams. »Da steckt doch mehr hinter, als nur mal kurz die Briten wieder aufzuschrecken?!«
Sam Bush sog tief die Luft ein.
»Sam?« kam es mahnend und energisch. »Was wissen sie?«
Der Erste biss sich nervös auf die Lippen. Der Blick der Frau wurde härter.
»All right«, kam es leise. »Es ist nach dem eingezeichneten Kurs eher eine Vermutung…«
Der Druck von Helens Hand verstärkte sich. »Sollte ich auf Befehl Estrellas etwas nicht wissen?«
Bush schüttelte den Kopf. »Nein, nein – so ist das nicht. Also…es kursiert das Gerücht, dass die Engländer einen gewaltigen Waffentransport planen. Geheime Soldateneinheiten, unterstützt von einer Negersklavenarmee, sollen sich irgendwo in den Sümpfen hier unten versteckt halten.« Bush deutete auf eine kleine Bucht vor Neu Orlean. Diese Partisanen sollen mit Waffen versorgt werden – so vermutet man – und gleichzeitig soll ein Ring aus Kriegsschiffen vor dem Mississippi-Delta aufgebaut werden. Die Partisanen sollen dann wohl vom Land aus die gut befestigte Ansiedlung stürmen. Während die Franzosen sich auf die Abwehr konzentrieren, beschießen die Schiffe von See her im Dauerfeuer den Hafen.«
»Woher kommt diese Information?«
Der Alte drehte die Augen zum Himmel. »Wenn wir hier auch scheinbar in einer Wildnis hocken, so arbeitet der Nachrichtendienst über die befreundeten Indianerstämme schneller als in London oder Paris.«
Helen ließ Sams Arm los. »Estrella will nun die Transportflotte bei Andros abfangen?«
Die junge Frau schaute ungläubig auf den ersten Offizier der SILVER STAR.
»Das nehme ich an – ja.« Er nickte zur Bekräftigung. »Das wäre ein kaum wieder gutzumachender Schlag gegen die britische Krone.«
Helen wehrte mit den Händen ab. »Moment, Sam. Langsam – wieso verschafft die Corsarin damit gleichzeitig den Franzosen einen Vorteil? Beide Nationen möchten sie gerne hängen sehen. Weshalb dieses Himmelfahrtskommando?« Helen schüttelte den Kopf. »Irgendwo auf See – immer wieder einen Engländer versenken…das macht die Admiralität auch rasend.«
Sam stützte sich auf den Kartentisch und betrachtete den eingetragenen Kurs. »Das ist sicherlich richtig, Commodore, aber…«
»Aber?«
Er richtete sich auf. »Wenn die Briten Neu Orlean beherrschen, kontrollieren sie den gesamten Golf. Sie werden große Fregattenverbände hier hin verlegen.«
Helen beugte sich nun selbst wieder über die Karte. Dann dämmerte es ihr.
»Heaven! Wenn britische Verbände hier…« Sie richtete sich auf. »…dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Luca Bay in ihre Hände fällt«, murmelte sie.
»Alles was meine…unsere Schwester Lucia aufgebaut hat, wäre vernichtet«, kam es leise und ruhig von der Tür.
Helen de Vere richtete die Augen auf die Sprecherin. »Von den Franzosen geht diese Gefahr nicht aus?«
Estrella ging bis in die Mitte der Kajüte. »Nein. Die Indianer beschützen sie. Außerdem gibt sie den Franzosen keinen Anlass zur Feindseligkeit, denn niemand weiss, dass sie den Freiheitskampf mit unterstützt.«
»Aber sie tut es über diesen Trapper.«
Nun lächelte die Corsarin. »Korrekt.«
Helen stieß sich vom Kartentisch ab und marschierte – ohne ihre Schwester weiter eines Blickes zu würdigen – zur Tür.
»Mr. Bush!« rief sie über die Schulter. »Sie kennen die Befehle meiner Schwester. Ausführen!«
Das Gesicht des Ersten wechselte von der Überraschtheit zum Jubel.
»Ay, ay – Commodore!«
Die SILVER STAR rollte.
Die Männer hatten sich durch Seile gesichert. Sam Bush tropfte das Regenwasser aus dem deformierten Hutrand. Der Atlantik zeigte sich von seiner besten Seite.
Helen hatte sich mit Beinen und Armen zwischen Hauptmast und mehrere dicke Seilrollen geklemmt. Sie blickte zu den Segeln hinauf. Der Sturm heulte in der Takelage. Die Corsarin hatte sich wieder einmal geweigert, Segel zu reffen.
»Wir müssen in drei Tagen zwischen den Atollen einen Unterschlupf gefunden haben. Das Wetter ist genau richtig für unser Unternehmen.«
Dem hatten Helen und Sam ja auch nicht grundsätzlich widersprochen.
»Ich habe nur keine Lust ohne Hauptmast anzukommen«, hatte der Erste geknurrt. Darauf hatte Estrella nur gelacht. »Keine Angst«, hatte sie dann ausgerufen. »Noch wird die Hölle mich nicht bekommen!«
Jetzt hing die Corsarin hoch oben im Mastkorb und hielt Ausschau nach Engländern.
Helen spuckte mit dem Sturm. Dann zerrte sie sich die Stiefel von den Füßen und jagte die Wanten hinauf. In diesem Augenblick kränkte das Schiff um beinahe zwölf Grad nach Luv. Helen krallte sich in den Seilen fest. Eine gewaltige Welle zog über das Deck. Gleichzeitig rutschte die SILVER STAR in ein Wellental hinab. Helen glaubte, den Halt zu verlieren. Sie richtete den Blick nach oben.
Das Herz blieb ihr fast stehen.
Ganz oben, auf der höchsten Rahe, ganz außen – stand Estrella. Sie blickte starr über die rechte Schulter, gleich einer Statue. Nur an der wehenden schwarzen Haarmähne ließ sich erkennen, dass dort ein Wesen aus Fleisch und Blut stand.
Helen schloss einen Moment die Augen, dann hangelte sie sich entschlossen weiter aufwärts. Endlich erreichte sie die Schwester. Diese wandte den Kopf und lachte Helen an. »Da bist du ja endlich!« kam es leicht höhnisch.
Auf Helens Stirn entstand eine steile Falte. »Wie soll ich diese vorwurfsvolle Frage auffassen?« rief sie gegen den Sturm. Hier oben wimmerte es besonders in den Seilen. Die Macht des Windes riss ihr beinahe die Bluse vom Leib.
Die Corsarin zuckte mit den Achseln. »Es hätte ja sein können, dass dein Mut etwas nachlässt.«
»Mut und Leichtsinn sind unterschiedliche Dinge.«
»So? Dann hältst du mich demnach für leichtsinnig?«
Helen nickte. »Ja! Du wärest im Mastkorb weit sicherer, als hier auf dem glitschigen Holz.«
Eine gewaltige Böe ließ die SILVER STAR zur anderen Seite kränken. Estrella jubelte auf, als befände sie sich auf einer Jahrmarktsschaukel. »Das ist das Seefahrerleben, Schwesterherz.«
Helen schwieg. Gegen ein beschauliches Landleben hätte sie auch keine Einwände.
Da tauchte sie wie aus dem Nichts auf.
Eine englische Fregatte!
Überdimensional, wie von einem Geisterschiff, tauchten Bugsteven und Galionsfigur aus dem Grau des Sturmregens auf.
Estrella schrie auf. Helen klammerte sich an die Spannseile.
Eine Welle schoss heran und drängte sich mit der Gischtwolke zwischen Beobachter und Bild. Dann vernahm man entsetzte Rufe durch das Heulen des Sturmes. Es krachte. Holz splitterte. Ein Ruck ging durch die SILVER STAR. Die Masten schienen sich nach Lee bis herab in die kochende See zu senken.
Helen sah, wie die Corsarin aus einer Kopfwunde blutete, den Halt verlor und über die Rahe rutschte.
Irgendetwas flog haarscharf an Helens Kopf vorbei, da richtete sich das Schiff auch schon wieder auf. Wie von einem Katapult geschossen, richteten sich die Masten wieder auf und schienen den Himmel durchtrennen zu wollen. Helen hatte das Gefühl, sie würde mehrere Yards durch die Luft geschleudert.
Der Regen verwandelte sich in Hagel.
Der Nebel- und Gischtvorhang verschluckte die Fregatte, als sei alles nur ein Spuk gewesen.
Helen schüttelte sich, um den Blick zu klären.
War das Realität gewesen oder ein Trugbild?
Dann sah sie Estrella. Eingeklemmt zwischen einem zerrissenen, verdrehten Segel und einem Quertau.
Das Seil hatte sich um ihren Hals gewickelt, die Augen schienen aus dem Kopf zu quellen und das Gesicht zeigte sich tief blau.
»Verdammt!« entfuhr es Helen und sie hangelte sich so rasch es ging zu ihrer Schwester hinüber.
Durch den Sturm vernahm sie Stimmen von Deck, doch sie hatte keine Zeit sich darum zu kümmern.
Sie packte Estrella – schaffte es mit unmenschlicher Kraft das Seil von ihrem Hals zu lösen und schaffte den leblosen Körper nach unten.
Auf Deck herrschte Ausnahmezustand. Zwei Tote und vier Verletzte erkannte Helen zwischen zerfetzter Leinwand und zersplitterter Reling. Die Fregatte hatte auf einer Länge von mindesten dreißig Yards an der SILVER STAR längs radiert.
Aber noch etwas anderes bereitete Helen Sorgen; immerhin bestand die Möglichkeit, dass noch weitere Engländer auftauchen konnten oder die Fregatte trotz des Unwetters umkehrte.
»Haben wir ein Leck?« schrie Helen durch das Getöse.
»Ich hoffe nicht«, kam es von Sam Bush.
Helen brachte die ohnmächtige Estrella in die Kajüte. Sam warf sie auf den Diwan, zog ihr ein Seil durch die Gürtelschlaufen und sicherte sie so, dass sie nicht auf den Boden rollen konnte. Dann jagte sie aufs Deck zurück und verbarrikadierte die Tür.
»Mr. Bush! Schicken sie einen Mann unter Deck um das Schiff zu inspizieren.«
»Ay, ay!«
Helen selbst arbeite sich zum Rudergänger vor. Der wirkte nach der Kollision arg verstört. Helen sah auf den Kompass. »Vier Strich Süd!« schrie sie. Der Rudergänger stemmte sich in das Doppelrad. Die Steuerseile knarrten. Helen griff mit ein.
»Mr. Bush! Georgio soll mit steuern!«
Wenig später kam der junge, sehnige Hüne herbei und übernahm mit das Ruder.
Helen rannte zurück zur Kajüte. Auch dort war einiges bei der Schiffskollision umhergeflogen oder zerbrochen. Wasser schmatzte auf den Dielen. Helen fischte die Seekarte auf. Sie ging schwankenden Schrittes zum Kartentisch und versuchte die Position der SILVER STAR zu ermitteln. Durch das Heulen des Sturmes hörte sie Sams Befehle bis in die Kajüte hinein.
»Zum Perlenatoll« vernahm sie plötzlich die krächzende Stimme vom Diwan her. Ihr Kopf ruckte herum. Halb aufgerichtet, aschfahl, sah sie Estrella wild gestikulieren. »Vier Grad West von Nassau…«
Dann sackte sie zusammen.
Helen angelte nach dem zerbrochenen Holzkohlestift und dem eisernen Navigationsdreieck. Sie fand das Perlenatoll nur als Kreuz angezeichnet. Wahrscheinlich würde man es auf keiner einzigen offiziellen Karte wieder finden. Das beruhigte sie. Denn es mochte bedeuten, dass englische Fregatten dort nicht auftauchten oder keine Fahrrinne fanden.
»Bei Neptun!« stieß Helen aus. »Versuchen wir es.«
»Ist es nicht herrlich?!«
Helen räkelte sich in der Hängematte, die sie auf dem Oberdeck zwischen Heckmast und Reling gespannt hatte.
Neben ihr – in der zweiten Hängematte – lag Estrella. Grell stach der Verband aus hellem Leinen aus ihrem schwarzen Haar hervor.
Helen hatte gemeinsam mit dem Bootsmann die Corsarin auf das Oberdeck gebracht. Sie befand sich seit der Kollision im Dämmerzustand.
»Scheint eine schwere Gehirnerschütterung zu sein«, hatte Sam Bush vermutet. »Es wäre gar nicht so schlecht, wenn wir einen Doc an Bord hätten.«
Dem konnte Helen nur zustimmen.
»Wieviel Zeit haben wir schon verloren?« kam es leise von Estrella.
Helen schwang die Beine zur Seite und ließ sich aufs Deck gleiten. »Gott sei Dank – du bist wieder unter den Lebenden.«
Estrella verzog das Gesicht. »Spar dir den Pfaffenquatsch. Wenn es eueren Gott gibt, kann er mich so wie so kreuzweise.«
Sie versuchte aus der Hängematte auszusteigen, aber ihre Schwester hielt sie zurück. »Du bist noch zu geschwächt.«
»Scheiße!« kam es unbeherrscht von der Corsarin. »Bin ich ein altes Weib?«
Helen lachte laut auf, beugte sich zu ihrer Schwester herab und gab ihr einen Kuss auf die verbundene Stirn. »Auch die gefürchtete Corsarin ist nicht unverwundbar.«
Dunkle Augen starrten irritiert aus der Hängematte zu der blonden Frau hinauf.
»Bei Neptuns Eiern…keine Sentimentalitäten – das fehlte mir auch noch.«
Helen stemmt die Fäuste in die Seiten und schaute ihre Schwester abschätzend an. »Wo liegt eigentlich dein Problem? Hast du Angst vor Gefühlen? Oder lässt dein verfluchter Stolz sie nicht zu? Du solltest endlich einmal aufhören, die Menschen vor den Kopf zu stoßen, denen du wirklich etwas bedeutest.!«
Estrella knurrte etwas Unverständliches, ehe sie geiferte: »Ich hatte dich etwas gefragt.«
»Seit der Kollision sind zwei Tage vergangen. Während deiner Ohnmacht haben Sam und ich das Schiff in dieses Atoll gebracht. Der Reparaturtrupp ist unterwegs, um neue Planken zurecht zu schneiden.«
»Große Schäden? Ich muss mir das ansehen!« Sie sprang aus der Hängematte und sackte dann mit einem Aufschrei zu Boden.
Sofort kniete Helen neben ihr. »Darling…Heaven!«
Sie legte den Arm um die Schwester, deren Gesicht sich im Schmerz verzerrte. Sie atmete kurz. »Mierda…mir ist schwindelig.«
»Tief atmen! Das vergeht. Die Gehirnerschütterung ist doch ernster, als wir annahmen.«
Estrella richtete ihren Blick jetzt leicht verunsichert auf Helen. »Was…hast du da eben gesagt?«
Helen runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
Die Corsarin schluckte. »Als ich … da hast du …«
Helen winkte ab. »Vergiss es. Komm vorsichtig hoch und dann bleibst du bis auf weiteres in der Hängematte. Falls das Salzwasser dir nicht allen Verstand aus dem Kopf gespült hat.«
Den letzten Satz stieß sie verächtlich hervor.
Da vernahm sie die Stimme von Sam Bush. Er kehrte mit seinem Bautrupp zurück.
Helen schlidderte die Treppe zum Mitteldeck hinunter. »Mr. Bush – wie sieht es aus?«
Der Alte grinste. »Alles bestens, Commodore. Wir haben brauchbares Holz hinter der Bergflanke dort hinten gefunden. Einige Männer schneiden noch Planken zu, dann geht’s ans Teer kochen. Denke, in zwei Tagen sind wir wieder seefest.«
»Das dauert zu lange!« ertönte es da vom Oberdeck. Helen verdrehte die Augen, als sie der Corsarin ansichtig wurde. »Ich erwarte, dass wir beim Morgengrauen auslaufen, Mr. Bush.«
Ehe Sam etwas erwidern konnte, rief Helen: »Kümmern sie sich nicht um die Fieberphantasien des Captain. Ich habe hier zur Zeit das Kommando.«
»Ay, ay – Lady« kam es von Bush. Er drehte sich auf dem Absatz um.
Helen schaute nach oben. Ihr Blick traf sich mit dem Estrellas. Sie wusste, die Corsarin hätte ihr liebend gern ihren Degen durch die Brust gebohrt.
Leise lachend verschwand sie in der Kajüte.
Sie ging zum Kartentisch beugte sich über die Navigation.
Da wurde sie von hinten gepackt und durch die Kajüte geschleudert. Sie konnte gerade noch ihr Gesicht schützen, um nicht mit der Nase voll auf die Holzverkleidung des Diwan zu prallen.
Wie eine Furie kam die Corsarin über sie.
»Verdammte Inglis!« geiferte sie.
Helen lag benommen auf dem Boden. Da traf sie der Tritt gegen das Schlüsselbein. Es krachte und sie hatte die Vision, ihre Schulter mit allem was dazu gehört, müsse in unzähligen Splittern durch die Kajüte fliegen.
Der Schmerz betäubte sie.
Da sah sie durch ihre verschleierten Pupillen, dass die Corsarin den Degen von der Wand gerissen hatte.
Helen wirbelte auf dem Boden herum. Knapp schoss die Klinge an ihrem linken Ohr vorbei. Sie katapultierte sich auf die Beine, hechtete über den Eichentisch – warf dabei die Teekanne herunter und kam mit einer Rolle auf dem Diwan auf. Am Kopfteil hing eine Damaskusklinge. Estrella hatte sie mal einem Kauffahrer abgenommen. Ihre Faust schloss sich um den Griff – ein zweiter Sprung und sie stand der Corsarin gegenüber.
»Holla! Kehrt dein alter Mut zurück? Ich dachte schon deine Zähne seien bereits wacklig.«
Estrellas Mundwinkel zeigten ein dämonisches Grinsen.
Sie holte aus – Helen parierte. Funken stoben von der Damaskusklinge.
»Was soll der Unsinn?« schrie Helen ihre Schwester an.
»Was das soll? Das fragst du? Niemand an Bord untergräbt meine Ehre.«
Helen verdrehte die Augen. »Übertreib’ mal nicht, Prinzessin auf der Erbse.«
Das brachte die Corsarin noch mehr in Wut.
Da wurde die Kajütentür aufgerissen. Sam Bush stand wie angewurzelt und blickte die beiden Kampfhühner an.
»Thunderstorm!« stieß er hervor. »Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun, als euch gegenseitig die Schädel zu spalten? Wo bleibt euere Vorbildfunktion für die Mannschaft? Wer soll an euch glauben, wenn ihr euch gegenseitig bei jeder Gelegenheit umbringen wollt?!« Er spuckte ungeniert aus.
»Albany würde sich für ihre Töchter schämen!«
Damit verließ er die Kajüte und knallte die Tür zu.
Estrella und Helen standen wie aus Erz gegossen.
Die Corsarin ließ als erste den Degen fallen.
Helen angelte die Rumflasche aus dem Regal über der Tür. Erstaunt beobachtete die Corsarin, wie ihre Schwester mit den Zähnen den Korken in einem Ruck aus dem Flaschenhals zog, ihn dann achtlos ausspuckte und den Rum in einem Zuge zu beinahe einem Drittel in ihre Kehle laufen ließ. Dann setzte sie die Flasche ab, blickte die Corsarin an und jagte einen unüberhörbaren Rülpser durch die Kajüte.
Dann reichte sie mit ausgestrecktem Arm Estrella die Flasche. Diese griff zögernd danach. Sie wirkte völlig verunsichert.
»Na? Was ist?« kam es höhnisch von Helen. »Bin ich jetzt so, wie du es gern hättest? Ein unkultiviertes Piratenweib?«
Estrella ließ die Schultern hängen. Hart stellte sie die Rumflasche auf den Tisch. Die goldgelbe Flüssigkeit bewegte sich sanft im Wellenspiel des Schiffes.
»Wir sind verrückt«, kam es leise aus dem Mund der Corsarin.
Helen schwieg.
Estrella atmete tief durch. Dann verließ sie die Kajüte.
Sam Bush blickte ihr mit gerunzelter Stirn nach, als sie in die Wanten stieg und bis zum Mastkorb hinauf kletterte.
Helen stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. Der Rum setzte ihr zu. Sie hasste dieses Zeug.
Mittels Atemübungen erreichte sie es, nach zehn Minuten wieder einen klaren Kopf zu haben. Trotzdem musste sie blinzeln, als sie auf Deck trat.
Sie hörte das Hämmern des Reparaturtrupps.
Der alte Bush kam langsam auf sie zu. Er zeigte zum Hauptmast hoch. »Sie ist dort oben.«
Helen wollte gerade in die Wanten steigen, als der Erste sie festhielt.
»Ihr solltet euch beide Albany etwas würdiger erweisen.«
Mit diesen mahnenden Worten im Ohr stieg sie zu ihrer Schwester empor.
Ein warmer Wind säuselte durch die Takelage. Estrella saß im Mastkorb und blickte in die Ferne. Ihre Zehen spielten mit einigen Bastenden, die sich von der Korbummantelung gelöst hatten.
»Du hasst mich innerlich immer noch«, stellte Helen leise fest.
Estrella wandte den Blick nicht, als sie antwortete: »Wie kommst du darauf?«
Helen nahm neben ihr Platz. »Weil meine Existenz an deinem Heiligenbild von Albany kratzt.«
Plötzlich begann die Corsarin hemmungslos zu weinen. Es schüttelte ihren Körper. Helen nahm sie fest in die Arme. »Wenn du mir nicht verzeihen kannst, dann verzeihe Albany. Lucia hat es längst getan.«
Estrella schluckte. »Vermutlich…wusste Lucia…es viel länger als ich.«
Helen nickte. »Ja. Sie wusste um die Existenz eines Mädchens. Sie hat einige Briefe unserer Mutter gefunden. Als sie von meiner Anwesenheit und deren Umstände hörte, hat sie wohl etwas geahnt. Als sie mich dann sah in Sankt Luca, wurde es für sie zur Gewissheit.«
Eine Zeit lang blieb es still zwischen den beiden. Dann meinte die Corsarin leise: »Ihr habt euch unterhalten? Lucia und Du? Über mich?«
»Ja«, flüstere Helen. »Lucia hat immer Angst um dich und bat mich…«
Estrellas Stimme wurde wieder eine Spur herrischer. »Bat dich um was?«
»Auf dich aufzupassen.«
Estrella versteifte sich. »Ah ja – meine Gouvernante! Weshalb auf mich? Weshalb nicht auf Lucia? Meine…unsere Schwester ist viel sensibler…einfacher…«
Estrella stieß die Luft aus. »Vernünftiger!« setzte sie nach.
Die Corsarin suchte Helens Blick. »Du müsstest mich hassen, denn ich habe dich immer nur gedemütigt. Und trotzdem hast du mich vom Pranger gerettet – mich damals vor dem Absturz aus dem Mast bewahrt…Himmel! Helen! Ich bin es gar nicht wert, dass man sich um mich kümmert!«
Verzweifelt fuhr sie sich mit den Händen durch das Gesicht.
Helen warf mit einer koketten Kopfbewegung das lange Haar aus dem Gesicht.
»So wenig hältst du von dir? Deine Einsätze haben schon hunderten von Siedlern in der Neuen Welt das Leben gerettet. Du bist die mutigste Frau, die mir je begegnet ist. Deshalb bin ich stolz darauf, dich als Schwester zu haben. Ich liebe dich!«
Jetzt war es mit der Fassung Estrellas völlig vorbei.
Estrella begutachtete die Reparatur.
Sie drückte ihrem ersten Offizier die Hand. »Danke, Sam.«
Helen hielt sich im Hintergrund. Sie ließ den Blick über die malerische Atoll-Landschaft schweifen. Man hätte denken können, sie befänden sich in der Idylle des Pacific und nicht im rauen Atlantik.
Bush ließ die SILVER STAR klar machen. Takelage und Segel würden überprüft, ebenso die Steuerseile.
Helen stellte sich neben ihre Schwester. »Wann willst du auslaufen?«
»Bei Sonnenuntergang. In der Nacht pirschen wir uns nach Andros hinüber und versuchen die englischen Bastarde auszuspähen.«
»Hm«, Helen scharrte mit der Stiefelspitze im groben Muschelsand. »Genaue Informationen, wann diese Flotte sich sammeln soll, besitzt du nicht?«
Die Corsarin schüttelte den Kopf.
Helen lief ein paar Schritte auf und ab. Endlich blieb sie stehen und drehte sich rasch zu Estrella um. »Es ist gefährlich. Verdammt gefährlich! Die SILVER STAR kennt inzwischen jeder englische Hofhund.«
Estrella grinste breit. »Sie machen sich in die Hosen – die Hofhunde.«
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. »Nein – das Auftauchen der Fregatte bei dem Sturm scheint mir kaum darauf hinzudeuten. Es würde mich nicht wundern, wenn es hier von zusammengezogenen Verbänden nur so wimmeln würde. Vielleicht hat man nach deiner Flucht aus den Fängen der Franzosen das Kopfgeld ja erhöht.«
Estrella winkte ab. »Ach – wenn schon… – Wer sollte ahnen, dass wir hier bei Andros auftauchen?«
Helen setzte sich auf einen Felsen. »Genau so, wie du erfahren hast, dass die Briten einen Angriff auf Neu Orlean planen – wobei ich nicht weiß, wie die Franzosen darauf reagieren werden – könnten diese auch das Gerücht gehört haben, die Corsarin sei nach Andros unterwegs.«
»Wir dürfen die SILVER STAR nicht in Gefahr bringen!« rief Helen aus.
Dann setzte sie ihrer Schwester einen Plan auseinander. Diese hörte mit gerunzelter Stirn zu. Endlich äußerte sie mit bedenklichem Unterton: »Du bist überzeugt, dass das funktioniert?«
Helen winkte Sam Bush herbei. In kurzen Worten weihte sie auch ihn in ihren Plan ein.
Der Alte rieb sich das Kinn.
»Die Idee ist nicht schlecht. Es tummeln sich ja auch eine Menge Handelsfahrer in der Gegend. Wir könnten mit einem solchen Schiff unbesorgt in jeden Hafen fahren. Unter der Nase der britischen Truppen. Unsere SILVER STAR könnte gut versteckt hier liegen bleiben.«
Die Corsarin schnippte mit den Fingern. »Es sei! Wir laufen dann bei aufkommenden Mondlicht aus und versuchen einen dummen Pfeffersack zu erwischen.«
Der Rest des Tages verlief damit, dass Estrella und Helen durch die bizarre Vulkanlandschaft des Perlenatolls pirschten.
»Du bist sicher, dass die Engländer diesen Platz nicht kennen?« fragte Helen zweifelnd.
Die Corsarin lachte hell auf. »Sie werden das Atoll kennen. Möglicherweise auch die Franzosen und Spanier. Aber schau dich um. Durch den Kegel hier im zweiten Drittel des Ringes und die Bewaldung, bildet sich dort hinten ein nicht einsehbarer Dschungel. Wie ein gewaltiges Dach. Unser Schiff darunter ist nicht erkennbar und für einen unwissenden Beobachter handelt es sich um einen bewaldeten Hang. Wer also vom Meer herein schaut, der sieht nichts. Durch die schmale Einfahrt traut sich keine Fregatte und keine Galeone. Sie würden schon an den Riffen dort ganz hinten…« – Estrella zeigte auf die kleinen Schaumkronen in der grünlichen Wasserwüste – »…hängen bleiben.«
Sie zuckte lachend die Schultern. »Also weshalb sollte ein Kriegsschiff hier herein fahren und sich in Gefahr begeben? Der Captain sieht doch von weitem, dass hier nichts ist. Frischwasser vermutet man hier auch nicht. Die Quelle habe ich erst zufällig vor drei Jahren entdeckt.«
Helen nickte bewundernd. »Ein idealer Anlaufpunkt.«
Die Corsarin breitetet die Arme aus und reckte sich. »Dieses Atoll ist uns schon oft vom Nutzen gewesen, wenn die SILVER STAR repariert werden musste.«
»Weshalb legst du hier kein dauerhaftes Versteck an? So wie ALBANY?«
Estrella schüttelte den Kopf. »Dazu ist es hier vulkanisch zu gefährdet. Es kann täglich passieren, dass dieses Atoll spurlos im Ozean versinkt.«
Kurz vor Mitternacht schob sich die noch nicht ganz runde Scheibe des Mondes über den Horizont.
»Halbe Leinwand, Mr. Bush«, gebot die Corsarin. Sie stand mit Helen selbst am Ruder. Langsam glitt die SILVER STAR aus dem Atollbereich.
»Wir halten uns südwestlich. Da laufen wir weniger Gefahr, vor der Mondscheibe als Zielscheibe zu fahren. Außerdem liegt die Kauffahrerroute dann vor uns.«
Die Corsarin hatte vier Leute in die Masten beordert. Licht wurde nicht gesetzt.
Schemenhaft wurde eine Inselgruppe erkennbar, die wie das Atoll auf keiner Seekarte zu finden waren. Nach etwa zehn Seemeilen drehte Estrella Richtung Bermudas ab und übergab ihrem Steuermann wieder das Ruder.
Die Brigg tauchte eine Stunde später im gleißenden Mondlicht auf.
Wie ein Scherenschnitt stand sie da.
Estrella und Helen hielten unwillkürlich die Luft an.
»Sie können uns nicht sehen«, flüsterte die Corsarin.
Sam Bush hatte es auch gesehen. Er lief zum Steuermann und zischte ihm ein Kommando zu. Dann kam er zu den beiden Frauen herüber.
»Nehmen wir ihn? Das Schiff kann man mit kleiner Besatzung fahren. Ein Vorteil für unser Vorhaben.«
Die Corsarin lächelte im matten Schein des Mondes. »Gefällt mir nicht schlecht. Licht setzen, Mr. Bush. Dänische Flagge und parallel laufen.«
»Ay, ay!«
Helen runzelte die Stirn. »Weshalb mit vollem Christbaum?«
Ihre Schwester legte ihr die Hand auf die Schulter. »In wenigen Minuten sieht er uns. Ordentliche Positionslampen erwecken kein Misstrauen. Er wird sich auch nichts dabei denken, wenn wir uns langsam nähern. Kauffahrer tauschen unterwegs Neuigkeiten aus.«
Tatsächlich kamen von der Brigg bald Fackelsignale. Helen stellte fest, dass es holländisch war.
»Er fragt nach der Situation auf Cuba. Er hat Ladung für Havanna.«
Die Corsarin reckte das Kinn vor. »Havanna?! Dann hat der Bursche nicht nur Tuchzeugs geladen. Havanna ist ein Goldumschlagplatz.«
Helen drehte sich zu Busch um. »Mr. Bush – lassen sie zurück signalisieren. Havanna zur Zeit unruhig. Franzosen versuchen Aufständische für sich zu gewinnen und kapern alles. Empfehle Kurswechsel auf Turk.«
»Hey!« rief die Corsarin verblüfft. »Woher hast du denn das?«
Helen hob lachend die Hände. »Wenn er das schluckt, ändert er zu unseren Gunsten den Kurs. Er nähert sich dann uns und nicht wir uns ihm.«
»Du bist ein ausgekochtes Aas!« kam es von der Corsarin.
Kaum war die Nachricht auf der Brigg angekommen, kam überschwenglicher Dank zurück.
Helen ließ anfragen, ob er in ihrem Kielwasser nach Turk segeln wolle. Schließlich sei die SILVER STAR größer und könne der kleineren Brigg Schutz bieten.
Der Kapitän zeigte sich einverstanden.
Estrella blieb vor Staunen der Mund offen.
Auch Bush konnte seine Hochachtung gegenüber Helen nicht verstecken. Diese verhielt sich völlig gleichgültig. »Es darf uns nur kein verfluchter Engländer oder Franzose dazwischen kommen.«
Sam Bush blickte zum Himmel. Je weiter der Mond seine Bahn fortsetzte, umso mehr Sterne funkelten am Firmament.
»Wir dürfen uns aber nicht mehr all zu viel Zeit lassen, Ladies«, brummte er.
Helen klopfte ihm auf die Schulter. »Nerven behalten, Mr. Bush.«
Eine Stunde lang liefen die beiden Schiffe neben einander. Helen bemerkte, dass auch die Corsarin von innerer Unruhe erfasst wurde. Sie fürchtete in diesen Gewässern – und das sicher zu Recht – auf Engländer zu treffen.
»Vier Strich Steuerbord«, unterbrach Helen plötzlich die unheimliche Stille. Sam und Estrella schreckten auf. Der Erste fasste sich aber rasch und gab den Befehl weiter an den Steuermann.
Die Corsarin erkannte nun, was ihre Schwester im Sinn hatte. Vor ihnen tauchte nämlich eine kleine Inselgruppe auf. Mehr bewachsene Riffe, denn richtige Inseln. In dieses Labyrinth beabsichtigte Helen die Brigg zu lotsen.
Der Commodore der SILVER STAR trickste den Kapitän der Brigg tatsächlich aus. Heimlich hatte sie zehn Männer in die Wanten geschickt. Bisher fuhr das Corsarenschiff immer vor dem Holländer. Doch dann gab Helen den Befehl: »Alle Leinwand runter!«
Der Befehl wurde ohne Zeitverzug ausgeführt. Die SILVER STAR verlangsamte und ehe der holländische Kommandant etwas tun konnte, glitt er mit der Brigg vorbei.
Die Schiffe kamen sich bis auf zwanzig Yards nahe.
»Steuer scharf Backbord!« schrie Helen. Die Distanz verringerte sich auf fünf Yards.
»Entern!« schallte es da über das Deck.
Gleichzeitig jagten die zehn Mann aus den Wanten rüber auf die Brigg.
»Jetzt der Rest!« schrie Helen nun.
Ehe der Holländer wusste, wie ihm geschah, befand sich sein Schiff in der Hand der Corsaren.
Helen baute sich vor dem Kapitän auf, der die Frau völlig irritiert ansah.
»Gestatten, Mjeenheer – Helen de Vere. Es tut mir leid ihnen Ungelegenheiten zu bereiten, aber wir benötigen für einen Erkundungstrupp ihre Brigg. Bitte genießen sie eine Zeit lang unsere Gastfreundschaft. Seien sie versichert, dass sie Schiff und Ladung unversehrt zurück erhalten.«
Nicht nur der holländische Kapitän, auch Estrella schaute Helen völlig verblüfft an.
Eine Stunde später – in der Kajüte der SILVER STAR – fragte die Corsarin dann auch: »Schwesterherz – habe ich dich vorhin richtig verstanden? Du hast dem Pfeffersack zugesichert, dass er Schiff und Ladung heil zurück bekommt?«
»So ist es!« kam es kurz von Helen.
Estrella fehlten die Worte.
Die Sonne schien. Es kündigte sich ein herrlicher Tag an.
Die SILVER STAR, wie auch die Brigg, lagen gut versteckt im Perlenatoll.
Die Mannschaft des Holländers wurde in einem provisorischen Lager gut bewirtet und bewacht.
Der Kapitän – er hatte sich als Jan op Boven vorgestellt – zeigte sich sehr verständnisvoll.
»Verehrte Dame«, sagte er und verbeugte sich vor der Corsarin. »Ihr seid ja schon eine Legende. Gut, dass die Niederlande sich nicht in den Kampf der Neuen Welt einmischen.«
Estrella zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »So? Tun sie das nicht? Was ist mit Neu Amsterdamm an der Ostküste?«
Op Boven hob theatralisch die Arme. »Nun ja – unsere Krone sieht es auch nicht gern, was die Siedler da treiben, aber es sind noch keine Armeen drüben.«
Dem musste die Corsarin beipflichten. Ganz davon abgesehen, waren sich in Bezug auf die Seeherrschaft die Holländer mit den Engländern und Franzosen gar nicht »grün«. Auch zwischen Portugiesen, Spaniern und den Niederländern kriselte es.
Auch Sam Bush vertrat die Ansicht, dass von diesen Kaufleuten keine unmittelbare Gefahr für die Mannschaft der SILVER STAR ausging.
»Trotzdem werden wir in der Vorsicht nicht nachlassen!« gebot Estrella.
Der Tag verlief in beinahe familiärer Atmosphäre.
Da vermeldete der Ausguck am höchsten Punkt des Atolls über Spiegelsignale, dass zwei englische Fregatten Kurs auf Andros nähmen.
Ein satanisches Lächeln umspielte die Mundwinkel der Corsarin.
»Verspätet, aber sie kommen. An jedem Gerücht ist etwas dran.« Sie wandte sich an ihre Schwester. »Helen – im Morgengrauen werden wir mit der Brigg gen Andros laufen.«
So geschah es. Kaum zogen die Frühboten der Dämmerung auf, da schob sich die Brigg vorsichtig aus dem Bereich des Atolls. In unauffälliger Seemannskluft standen Estrella und Helen am Heck. Die Corsarin hatte ihrer Schwester das Kommando übertragen.
Ungehindert passierten sie nach zwei Stunden eine spanische Galeone.
Helen gab per senken der Flagge den freundlichen Gruß zurück, den der Spanier sandte.
Die Corsarin runzelte leicht die Stirn, als sie murmelte: »Ich denke, wir werden die SILVER STAR demnächst ein wenig umbauen.«
Ihre Schwester nickte zustimmend. »Ja – das Schiff ist inzwischen zu bekannt.«
Nach weiteren zwei Stunden erreichten sie Andros. Zwei Engländer glitten recht nah an ihnen vorbei, doch niemand kümmerte sich um die holländische Brigg. Das überzeugte die Corsarin unwiderruflich davon, ihrem Schiff ein etwas anderes Outfit zu verpassen.
Ungehindert fuhren sie in den Hafen ein. Helen hielt unwillkürlich die Luft an. Auch Estrella wurde sichtlich nervös. Direkt vor ihnen lag die DISCOVERY.
»Also hat mich mein Gefühl nicht getrogen,« zischte die Corsarin. Sie wandte den Kopf und sah die angespannten Züge Pedros auf der Steuerbrücke.
Die Brigg glitt weiter, bis zu einem freien Liegeplatz. Vier Fregatten und zwei Schoner der englischen Kriegsmarine lokalisierten die Freibeuter. Am Kai herrschte reger Betrieb. Proviant und Munition wurde verladen.
Estrella raffte ihr Haar zusammen und verbarg es unter einem festen Tuch.
»Ich werde mal einen Trip durch die Hafenspelunken unternehmen«, knurrte sie.
Helen hielt sie fest. »Ich komme mit!«
Doch ihre Schwester schüttelte energisch den Kopf. »Du musst dafür sorgen, dass unsere Jungs keinen Blödsinn machen. Wenn die sich besaufen und dann Piratenlieder grölen, können wir uns direkt an der Rahe aufknüpfen.
Helen sah ein, dass der Lady-Captain Recht hatte.
Kurz bevor Estrella von Bord ging, hielt ihre Schwester sie noch einmal fest.
»Sei verdammt vorsichtig. Deine Gefangennahme kann San Luca nichts nützen.«
Die Corsarin blickte Helen lange in die blauen Augen. Dann nickte sie und drehte sich um.
Helen winkte Pedro herbei. »Halte Estrella im Auge. Sie darf sich nicht in Gefahr begeben.«
Der junge Steuermann lächelte. Er salutierte vor seinem Commodore. »Dem Lady-Captain wird niemand ein Haar krümmen.«
Nun erst konnte sie sich anderen Dingen widmen. Sie wusste, dass auf Pedro Verlass war. Er ging für seine Corsarin durchs Feuer.
Die Corsarin ‚enterte’ unterdessen eine Spelunke namens BLACK SAILOR. Der Schankraum zeigte sich mit dichtem Tabaksqualm geschwängert. Nur schemenhaft konnte man im Licht von Kerzen und Fackeln einzelne Gesichter ausmachen. Das konnte Estrella nur recht sein. Sie drückte sich an der Theke vorbei – griff sich einen Becher Bier und zog sich in eine dunkle Ecke zwischen zwei mächtigen Fässern zurück. Nicht weit von ihr standen drei Personen. Zwei Männer und eine Frau.
Es handelte sich um zwei Offiziere der Kriegsmarine und eine Marketenderin. Sie schäkerten herum und die Männer schienen etwas mehr getrunken zu haben, als ihnen gut tat. Jedenfalls rief einer der beiden durch die Kneipe: »Eine Runde für alle! Darauf, dass wir den Franzosen bald das Fürchten beibringen werden!«
Alles herum lachte. Der Wirt machte sich freudig an die Arbeit, die Becher zu füllen. »Hoffe nur, ihr übernehmt euch nicht!« rief er dabei zurück. Einer der Männer – es schien sich um den ersten Offizier eines Schiffes zu handeln, schlug sich krachend auf die Schenkel. »Ha! Diese Bordellgänger ahnen ja nichts von unserem Plan. Ehe die von ihren Mädels runter sind, gehört Neu Orlean uns!«
Wieder erscholl grölendes Lachen.
Estrella fiel aber auf, dass sich das Gesicht der Marketenderin verspannte. Die Corsarin nahm sich vor, sie ihm Auge zu behalten.
Jemand reichte der Corsarin einen Becher, den sie auch kommentarlos annahm. Die Stimmung schlug hoch in der Spelunke. Unmerklich näherte sich Estrella der Marketenderin, die sich etwas von den Männern entfernt hatte.
»Diese verdammten Franzmänner brauchen mal eine Lektion«, knurrte die Corsarin mit verstellter, rauer Stimme. »Hoffe, es geht bald los.«
»In zwei Tagen«, kam es von dem Mädel. »Sie warten noch auf einen Convoi von vier Fregatten. Sie kommen von den Bahamas herüber.«
Estrella nickte. »Ich weiß. Captain Jensen soll sie befehligen.«
Das war ein glatter Schuss ins Blaue, aber da antwortete ihr eine Stimme: »Nein – der alte Bird persönlich.«
Die Corsarin konnte nichts dagegen tun, dass ihr eine Gänsehaut den Rücken herunterkroch.
Bird! Wir hasste sie diesen Mann! Er hatte sie damals nach London gebracht. Hatte sie auf seinem Schiff schon schikaniert. Nackt hatte sie die Planken der SEAL schrubben müssen. Ihre Fäuste krampften sich um den Becher.
»Von welchem Schiff seid ihr?« kam die Frage von dem Sprecher. Estrella vermied es, ihn anzusehen. Deus! Was sollte sie sagen? Jeden Namen den sie nennen würde, konnte genau der falsche sein.
Da kam ihr das Schicksal zur Hilfe. Pedro drängte sich an sie heran und lallte: »George! Trink einen mit mir!« Dabei legte er taumelnd den Arm um Estrella. Diese machte zwei Schritte rückwärts, stieß dabei die Marketenderin an, die wiederum ihren vollen Becher Bier dem Offizier neben sich über die Jacke goss. Der fluchte laut. Eine kurzer Tumult entstand, den die Corsarin und Pedro nutzten, um zu verschwinden. Der Steuermann manövrierte seinen Captain rasch auf einen Hinterhof hinaus.
»Uff! Das war knapp!« kam es von Estrella. Dann schaute sie Pedro an und fragte: »Wo kommt ihr so plötzlich her?« Dann zog ein zynischen Grinsen über ihre Züge. »Ah – hat der Commodore euch beauftragt, auf mich aufzupassen?«
Pedro zuckte die Achseln. »Sagen wir mal so – sie machte sich Sorgen. Meine Anwesenheit war auch gar nicht so verkehrt.«
Dem musste die Corsarin zustimmen.
»Wir sollten verschwinden«, knurrte der Steuermann. Sie huschten durch einige enge Gassen. Gerade als sie um eine scharfe Ecke biegen wollten, blieb Estrella wie angewurzelt stehen. Sie legte rasch Pedro die Hand auf den Mund.
Nur fünf Yards von ihnen entfernt stand die Marketenderin und redete auf einen jungen Mann in recht abgewrackter Kleidung ein. Estrella schlich näher heran. Sie sprachen französisch.
»Sage Capitain LeFour, dass die Engländer Neu Orlean einnehmen wollen. Sie ziehen die Flotte zusammen, um in den Golf zu segeln. Außerdem werden in der Stadt Aufständische mobil gemacht.«
»Bon, Commodore – ich werde es ihm sagen.« Damit verschwand der Mann.
Die Corsarin schluckte. Diese Marketenderin war also in Wahrheit ein Commodore der Franzosen. Wer hätte das gedacht.
Da hörte sie ein unterdrücktes Stöhnen hinter sich. Sie wirbelte herum, doch eine Sekunde zu spät. Der Schlag traf sie voll in den Nacken.
Als sie wieder zu sich kam, spürte sie zuerst das Ziehen in den Armen.
Mühsam öffnete Estrella die Augen. Es war bereits dunkel und ein fahles Mondlicht fiel auf die Waldlichtung. Die Corsarin hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.
»Na – wieder auf der Welt?« vernahm sie eine höhnische Stimme.
Vor ihr stand die vermeintliche Marketenderin. »Wer bist du? Ein verdammter britischer Spion?«
Die Corsarin verzog verächtlich den Mund. »Du bist doch ein verfluchter französischer Spion!«
Kaum hatte sie der Frau die Worte entgegen geschleudert, da zischte es und ein brennender Schmerz zerstach ihre Brust. Die Bluse zerriss dabei wie Papier.
Der nächste Hieb der Peitsche ritzte ihre Haut. Estrella spürte ihr warmes Blut von den Brüsten laufen.
»Ich hatte dich etwas gefragt!« kam es von der Frau. »Ich peitsche dir das Fell von den Rippen, bis du nur noch ein wimmerndes Bündel bist!«
Die Corsarin glaubte ihr aufs Wort.
»Ich bin keine Engländerin.«
Der nächste Hieb. Estrella glaubte, die Luft bliebe ihr weg. Sie warf den Kopf in den Nacken. »Mierda! Hör auf!«
»Oh – Spanierin…« kam es verblüfft. »Was schleichst du hier herum?«
Estrella schluckte. »Aus dem selben Grund wie du«, keuchte sie. »Ich will Neu Orlean retten.«
Wieder traf sie ein Peitschenhieb. Aber diesmal nicht so scharf.
»Lüge!«
Estrella schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Es geht für mich um mehr, als nur diese Stadt.«
Nun kam die Frau ganz nahe an die Corsarin heran. »So? Um was denn?«
Kalt erklang da die Stimme von Pedro. Er drückte der Französin seine Pistole in den Nacken. »Noch ein Schlag und ihr seid tot.«
Helen staunte nicht schlecht, als Estrella und Pedro mit der verschnürten Frau an Bord kamen.
»Bringt die Dame unter Deck. Wir laufen sofort aus!« gebot die Corsarin.
Im Schutze der Dunkelheit verließ die Brigg den Hafen. Helens Fragen beantwortete Estrella nicht. Kaum hatte das Schiff die offene See erreicht, stieg die Corsarin in den Bugraum. Die Gefangene hatte man mit Ketten zwischen zwei Balken fixiert. Sie blickte im Licht der beiden Talglaternen Estrella entgegen. Wortlos riss diese der vermeintlichen Marketenderin das Mieder auseinander und streifte ihr das Kleid bis zu den Hüften herab. Ihre Hände glitten über den festen Busen mit den großen Warzenhöfen.
»Ich denke, wir haben noch eine Rechnung offen.«
Die Corsarin zog die kurze Gerte aus dem Gürtel und ließ sie in rascher Abfolge viermal über die entblößte Brust ihrer Gefangenen klatschen. Sogleich bildeten sich dunkelrote Striemen. Die Gefangene zuckte, gab aber keinen Laut von sich.
»Hart im Nehmen, was?« knurrte Estrella. »Na gut! Bei mir waren es auch nicht mehr Hiebe. Also – wer bist du?«
Da die Gefangene schwieg, griff ihr die Corsarin unter das Kinn und flüsterte:
»Was hältst du von glühenden Eisen unter deinen nackten Fußsohlen?«
Die Gefangene schluckte. »Ich heiße Catherine«, kam es dann gepresst.
Estrella lächelte süß. »Catherine…fein. Geht doch! Wie weiter?«
»Catherine Grenoble.«
»Ah – besser. Wir stehen auf der selben Seite, Verehrteste. Wie wäre es, wenn sie kooperieren würden?! Sie wollen ihre Leute in Neu Orlean retten – ich die meinen in einer anderen Siedlung.«
Die Französin wand sich in den Ketten. »Für wie dumm halten sie mich, Madame? Sie werden mich bei der nächst besten Gelegenheit den Briten ausliefern.«
Estrella trat ganz dicht an die Gefangene heran. »Den Briten sicherlich nicht«, kam es verächtlich. »Aber ich könnte mir vorstellen, sie über Bord zu werfen, falls sie nicht kooperieren.«
Leise Schritte erklangen auf den Planken hinter der Corsarin.
»Vielleicht solltest du die Lady von ihren Ketten befreien und zu einem Glas Sherry einladen«, kam es von Helen. »Ich könnte mir denken, dass sie dann gesprächiger wird.«
Estrella drehte sich zu ihrer Schwester um und bemerkte hochmütig: »Tu das! Du bist ja immer für die weiche Tour.«
Damit rauschte sie an Deck.
Helen löste Catherine die Fesseln und gebot ihr, ihre Blößen zu bedecken. »Wir wollen die Hormone der Mannschaft nicht übermäßig strapazieren. Komm mit!«
In der Kajüte trafen sie Estrella wieder, die auf der schmalen Koje saß. Die Stiefel hatte sie ausgezogen und massierte sich ihre Füße. Helen forderte die Gefangene auf, sich an den kleinen Tisch zu setzen.
»Sie sind eine französische Agentin«, stellte Helen also klar. »Wer ist ihr Kontaktmann gewesen? Ich habe kein französisches Kriegsschiff bemerkt.« Sie schenkte Sherry ein, den der gut bestückte Kauffahrer an Bord hatte.
Da Catherine immer noch schwieg, sagte Helen: »Hören sie – wenn wir es wollen, lassen wir sie hier irgendwo spurlos verschwinden. Wir können sie auf einer der winzigen Inseln aussetzen oder einfach ersäufen. Wenn sie aber mit uns zusammenarbeiten, werden wir sie bei Neu Orlean an Land setzen.«
Bei Catherine Grenoble siegte die Vernunft.
»Mein Kontaktmann ist offiziell ein ehrbarer Kaufmann, der in dem Hafenort wohnt. Morgenmittag legt ein italienisches Handelsschiff an. Die Italiener verhalten sich in dem Krieg neutral. Aber auf diesem Schiff befindet sich ein Agent. Das Schiff trifft in drei Tagen auf See ein französisches Kriegsschiff und wird per Signal die Information weiterleiten. Mehr weiß ich nicht.«
Helen hob ihr Glas und prostete Catherine zu. »Vielen Dank, Madame.«
Die Französin lehnte sich zurück. »Bringen sie mich jetzt um?«
Helen lachte leise. Sie schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Wir nehmen sie mit wie versprochen. Allerdings werde ich eine kleine Sicherungsmaßnahme vornehmen, bis wir unser Versteck erreicht haben. Ich möchte nicht, dass sie noch auf dumme Gedanken kommen, falls wir zufällig einem anderen Schiff begegnen sollten.«
Sie legte Catherine ein Halseisen an und kettete sie damit in der Kajüte fest. Allerdings so, dass sie bequem liegen oder sitzen konnte.
Estrella betrachtete das mit einem zynischen Lächeln.
»Meine Schwester hätte besser Nonne werden sollen.«
Helen bedachte die Corsarin nur mit einem Schulterzucken, dann begab sie sich an Deck.
Im Morgengrauen liefen sie in das Perlenatoll ein. Gut getarnt unter dem dichten Palmenblätterdach, machte die Brigg fest.
Helen und die Corsarin stellten fest, dass sich die Holländer inzwischen als gute Freunde erwiesen hatten. Der dicke Kapitän trat auf Estrella zu, verbeugte sich und erklärte: » Ich habe mir mit meinen Kameraden erlaubt, ein kleines Anwesen aus vier Hütten zu errichten. Wir haben euch um diese Zeit erwartet und einen kleinen Imbiss vorbereitet.«
Estrella und Helen zogen gleichzeitig angenehm überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie konntet ihr das wissen?«
In der Stimme der Corsarin klang sogleich wieder Misstrauen mit. Da trat Sam Bush vor. »Verzeiht, Lady Captain – ich habe das so errechnet.«
Estrella schüttelte lächelnd den Kopf. »Mr. Bush – sie sind unersetzbar.«
Helen beauftragte Sam, Catherine von Bord zu holen.
»Catherine?« Das Gesicht des Alten war ein Fragezeichen. Helen erklärte es ihm.
»Juii! Jetzt auch noch ein Drei-Mädel-Haus.«
Helen legte den Arm um die Schultern des Alten. »Du wirst es verkraften, alter Freund.«
Bei dieser vertrauten Anrede, schmolz der alte Seebär dahin.
Man blieb noch zwei Tage im Schutze des Atolls. Die Holländer hatten gefragt, ob sie sich den Corsaren anschließen dürften. Estrella hatte Bedenken wegen des relativ kleinen Schiffes. Außerdem interessierte sie der Grund.
»Im Grunde sind wir heimatlos. Wir haben uns mit den Gilden überworfen und ziehen eigentlich wie einst die Phönizier über die Meere. Wir handeln mit allem und jedem inzwischen.«
Es wurde eine Unterredung bis tief in die Nacht. Bald wurde Van Boven sogar Estrella sympathisch. Sie beriet sich mit ihrer Schwester und dem alten Sam.
»Die Brigg könnte uns unauffällig als Versorgungsschiff dienen. Wir hätten es dann nicht nötig, irgendwelche Häfen anzufahren, nur um Proviant aufzunehmen«, meinte der erste Offizier.
»Hm«, machte Helen und der Gedanke gefiel ihr recht gut. »Was ist mit Catherine? Sie hat mir auch signalisiert, dass sie gerne bei uns bleiben wolle.«
Die Corsarin blickte zum Sternenhimmel hinauf. »Denkst du, dass wir ihr trauen können?«
Helen nickte bestätigend. »Ich habe mich heute Nachmittag lange mit ihr unterhalten. Ihre familiären Verhältnisse sind nicht dazu angetan, nach Frankreich zurückzukehren. Sie ist eigentlich mehr aus Protest gegen ihre Familie zur Spionin geworden.«
Man kam überein, dass Van Boven eine Zeit lang das Atoll als Unterschlupf halten sollte. Kokosnüsse, Wasser und wilde Früchte gab es reichlich, sodass niemand Hunger leiden musste. Catherine Grenoble sollte – vorerst – bei den Holländern bleiben.
Als sie die freudigen Gesichter der Brigg-Besatzung sah und die dankbar strahlenden Augen von Catherine, wusste die Corsarin, dass sie richtig entschieden hatte.
Mit Hilfe der Holländer wurden nun einige Umbauten an der SILVER STAR vorgenommen. Man sollte sie alsbald nicht mehr sofort als das Corsarenschiff erkennen.
Helen entschloss sich, Catherine doch mit an Bord zu nehmen.
»Jetzt mit aller Vorsicht«, mahnte Sam Bush an.
Bei mäßigem Wind lief die SILVER STAR durch den Golf von Mexiko. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und bald würden sie im Schutze der Dunkelheit näher an Neu Orlean heranfahren können.
»Wenn wir den Mississippi ein Stück aufwärts fahren könnten« – brummte Bush – »wäre ein Anlegen möglich.«
Estrella wiegte den Kopf. »Was nützt uns das, Sam?«
Bush nuckelte an seiner kalten Pfeife. »Wir könnten zum Beispiel Pete Horguss – unseren Mittelsmann zu den Rebellen aktivieren. Wenn diese Unruhe in der Stadt stiften, dann sind die eingeschmuggelten französischen Soldaten vielleicht etwas desorientiert.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Das bedeutet weiter, dass keine Franzosen unsere Aktionen hier draußen stören.«
Die Corsarin lachte. »Nicht schlecht gedacht, alter Seebär.«
Als sich die Nacht über den Golf gesenkt hatte, näherte sich die umgebaute SILVER STAR der Mündung des großen Stroms.
Plötzlich ertönte ein Pfiff vom Ausguck her. Dieses Zeichen war ausgemacht, falls ein anderes Schiff gesichtet werden sollte. Estrella streifte ihre Stiefel ab und hechtete in die Wanten. Nur eine halbe Minute später flitzte Helen hinterher.
Bush kicherte. »Wie einst Albany! Die Gene stecken drin!«
»Was gibt es?« fragte die Corsarin hastig, als sie oben angekommen war. Der Posten deutete nach Westen. Matt erkannte man dort Lichter. »Mindestens zwei Corvetten«, erklärte der Mann.
Helen angelte ihr Fernrohr aus dem Futteral.
»Er hat Recht. Allerdings kann ich keine Nationalität ausmachen.«
»Verzeihung, Commodore«, sagte der Ausguck. »Das können nur Franzosen. sein.«
Helen nickte. »Trotzdem – wir müssen noch abwarten. Unsere Mannschaft soll sich völlig ruhig verhalten. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass französische Spähkommandos ohne Beleuchtung herumfahren.«
Estrella drehte sich zu dem Mann im Mastkorb herum. »Antoine – ich werde dir noch Marcel schicken. Haltet die Augen offen. Lieber ein Alarm zuviel, als einer zu wenig.«
»Ay, ay, Lady Capitano!«
Estrella und Helen rutschten aufs Deck zurück. Sam Bush kaute auf einem Priem. »Was machen wir, wenn es ein verfluchter Franzmann ist?«
Die Corsarin schaute zu den Sternen. »Notfalls schleichen wir uns mit dem Beiboot an und schicken ihn auf den Grund.«
Aus Bushs Mund kam ein meckerndes Lachen.
Helen zupfte sich am rechten Ohrläppchen. »Ein riskantes Unterfangen.«
»Klar«, stieß die Corsarin aus. »Aber schießen können wir hier nicht und andererseits dürfen wir es nicht zulassen, dass Soldaten Neu Orlean besetzen.«
»Vielleicht dreht er auch ab«, hegte Helen die Hoffnung.
Nach etwa zwei Stunden meldete der Ausguck, dass die Lichter verschwunden seien.
Die Corsarin trommelte nervös mit den Fingern auf der Reling. »Möglicherweise doch nur ein Kauffahrer.«
Sie gab Sam Bush die Anweisung: »Langsam der Küste nähern in einem Vier–Grad–Winkel. Ich nehme noch etwas Schlaf, bevor eventuell der Satan zu tanzen beginnt.«
Sie verschwand in der Kajüte, während Helen sich auf dem Fockmast niederließ. Mit dem Fernrohr tastete sie die Umgebung ab.
Estrella lag auf dem Diwan, als Helen die Kajüte betrat. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete regelmäßig. Die bunte arabische Decke war zur Seite gerutscht und gab den Blick auf die trainierte, schlanke Gestalt frei. Die Corsarin hatte die Rüschenbluse etwas geöffnet, eines der Hosenbeine hatte sich bis unter das Knie hochgezogen. Die Stiefel lagen verstreut auf dem Boden.
Helen lächelte still. Wie friedlich ihre Schwester doch aussehen konnte. Kein Vergleich zu der kämpferischen Corsarin, wenn sie mit dem Degen vorwärts stürmte. Helen sammelte die Stiefel ein und stellte sie ordentlich in eine Ecke. Dann setzte sie sich ans Fußende auf den Diwan. Estrella besaß ausnehmend schöne Füße. Das hatte sie bereits vor einigen Monaten schon bemerkt. Vorsichtig strich sie mit den Händen über die Sohlen. Sie fühlten sich fest an, an den Fersen leicht rau.
Helen beugte sich vor und küsste erst den einen, dann den anderen Fuß.
Estrella räkelte sich, wurde aber nicht wach.
Sanft strich Helen ihr über die Wangen. Dann gab sie ihr einen zärtliche Kuss auf die Stirn.
Dabei ging ihr durch den Kopf, dass sie noch nie in der langen Zeit neben einander geschlafen hatten. Eine von ihnen hatte immer die Wache inne gehabt oder befand sich nicht an Bord.
»He!« kam da Estrellas überraschter Ausruf. Helen öffnete wieder die Augen. Die Corsarin schaute sie völlig verdattert an.
Estrella setze sich auf, zog die Beine an, zog hastig das Hosenbein herunter und schlang die Arme um die Knie.
»Was war das für eine Aktion?« kam es leise. Unruhe schwang in der Stimme mit.
»Verzeih« flüsterte Helen und wollte vom Diwan aufstehen. Da hielt Estrella ihren Arm fest. »Warte!«
Helen wandte den Blick wieder zu der schönen Frau. »Es überkam mich…vergiss es.«
Sie entwand sich der Corsarin und eilte aus der Kabine.
Estrella schloss die Augen. Ihre Atmung vollzog sich rascher als sonst.
‚Bei Neptun’, durchzuckte es sie. Da passierte etwas und – verdammt – es war ihr nicht gleichgültig.
Wie in Trance stand sie auf. Ihr Herz klopfte. Sie strich sich nervös die wilden schwarzen Locken aus dem Gesicht, dann lief sie zur Tür.
Warmer Nachtwind schmeichelte ihr Antlitz, als sie zum Sternenhimmel empor sah. Dann drehte sie sich zum Oberdeck um. Sie sah Helens Silhouette gegen den Nachthimmel. Ihr Haar wehte. Wie eine Statue stand sie da und blickte nach Steuerbord.
Barfuss tappte Estrella die Stufen hinauf. Helen bewegte sich nicht. Die Corsarin blieb dicht hinter ihr stehen.
Mit ihrer dunklen Stimme sagte sie: »Es ist das zweite Mal gewesen, dass du mich so sanft berührt und geküsst hast...«
Helen gab keine Antwort.
Also fuhr Estrella leise fort: »Das war …wunderbar.«
Kaum hörbar kam die Antwort von Helen: »Vergiss es!«
Nun fasste die Corsarin sie an den Schultern. »Und wenn ich es nicht vergessen will?«
Sie spürte, wie Helens Busen sich heftig hob und senkte. Sie atmete innerlich aufgewühlt.
Estrella schmiegte den Kopf an ihren Rücken. »Hör zu – ich bin…« sie stockte. »Ich war…«
Helen drehte sich um und ergriff ihre Hand. »Ist schon in Ordnung. Ich bin es eigentlich auch nicht. Aber du…da geht mir das Herz über. Ich möchte dich umarmen und liebkosen. Vom ersten Moment an. Ich wusste wer du warst. Dass der Zufall uns zusammengeführt hatte. Ich habe deine Demütigungen ertragen, um dir zu zeigen, dass ich dich nicht hasse. Lucia wollte mich an mein eigentliches, ursprüngliches Ziel bringen, aber ich wollte zu dir.«
Während der ganzen Zeit hielten sie Blickkontakt.
Die Corsarin zog nun Helens Hand zu sich heran und küsste sie. »Du musst mich ja für eine ausgemachte Barbarin gehalten haben. Aber…« Sie hob den Blick wieder zu ihrer Schwester.
»Es ist nicht unbedingt meine Natur. Ich bin so geworden. Das harte Leben auf See – der Umgang mit den Männern und die Erfahrungen der Folter.«
»Ich weiß«, flüsterte Helen.
Estrella löste sich und machte ein paar Schritte über das Deck. »Lucia hatte mich damals bereits durchschaut. Sie hat erkannt, was ich mir selbst nicht eingestehen wollte.«
»Was war das?«
Die Corsarin wandte sich um. »Sie sagte zu mir: Du liebst sie. Damit hatte sie Recht. Ich habe dich gedemütigt, weil ich meine Gefühle töten wollte, die ich von Anfang an für dich hegte. Dann wandelte sich alles – ich konnte meine Liebe zu dir nicht unterdrücken. Daher wollte ich dich genau so hart machen, wie man es von einer Corsarin erwartet. Du solltest mir ebenbürtig werden, um dich lieben zu können.«
Helen lächelte nun. Das aufkommende Mondlicht verzauberte ihr Antlitz. »Bin ich dir ebenbürtig?«
Estrella blickte sie lange an, ehe sie entgegnete: »Nein! Du bist weit mehr. Du besitzt einen besseren Charakter als ich. Das habe ich im Umgang mit Mirelle und Catherine gesehen.«
Eine kleine Falte entstand auf Helens Stirn. »Nur, weil ich die beiden nicht erbarmungslos gefoltert habe?« Sie lachte leise vor sich hin. »Mirelle hat die Peitsche gespürt.«
Nun grinste die Corsarin. »Ja – da sah ich mein zweites Ich. Doch es hat mir nicht mehr so recht gefallen.«
Sie senkte den Blick. »Vielleicht hast du mich auch wieder gelehrt, was Differenzierung bedeutet.«
Helen ergriff nun von sich aus Estrellas Hand. »Du bist nicht grausam. Denke das nicht von dir. Du warst nur verbittert. Bis in die Tiefe deiner Seele verletzt. Wenn mir das passiert wäre, was der Pöbel in London dir antat…ich wäre möglicherweise ähnlich geworden.«
Die Corsarin schluckte. »Du hasst mich nicht?«
»Ich liebe dich.«
Estrella schluckte. Dann zog sie die Schwester an sich.
»Du darfst mich nie mehr verlassen.«
Helen hatte die Augen geschlossen und flüsterte: »Das habe ich nicht vor.«
»Licht an Backbord«, erreichte sie der gedämpfte Ruf von Sam Bush.
Sogleich rannten die beiden Schwestern zur anderen Reling.
Richtig! Weit entfernt, aber deutlich flackerte dort etwas. Allerdings konnte man noch keine festen Umrisse des Schiffes dort draußen ausmachen.
»Franzose?« fragte Helen knapp.
»Vermutlich«, kam es von der Corsarin. »Gut, dass wir noch nicht in die Mississippimündung gefahren sind.«
Helen versteifte sich plötzlich. »Verdammte Meeresgötter!« stieß sie aus.
Estrella schaute sie an. »Was hast du?«
»Sieh dir die Hecklampen genau an«, forderte sie die Schwester auf .
Die Corsarin zückte ihr Fernrohr. »Mierda! Die DISCOVERY !«
Der Name hatte den Ersten aufgeschreckt. Er kam herbei gerannt.
»Zounds! Das ist übel! Die DISCOVERY fährt selten allein. Wenn wir auf einen Konvoi von Inglis und Franzmännern treffen, sieht es beschi…aus.«
»Bueno, Mr. Bush – wir setzen die dänische Handelsflagge. Aber noch kein Licht. Man wird die SILVER STAR nicht sofort erkennen.«
Helen hatte die linke Hand auf den Griff ihres Degens gelegt. »Wäre es nicht die Gelegenheit, sich von diesem Schiff zu befreien?«
»Wie meinst du das?« fragte Sam Bush leicht verunsichert.
Helen schaute ihn über die Schulter an. »Wir reißen uns die DISCOVERY unter den Nagel.«
Dem Ersten blieb die Luft weg. »Du bist verrückt…« kam es völlig durcheinander. Die Augen schienen ihm aus den Augenhöhlen quellen zu wollen. So etwas Ungeheuerliches – dann noch so leicht daher gesagt – war ihm noch nie zu Ohren gekommen.
»Meinst du?« kam es kichernd zurück.
Der Alte holte tief Atem und trat näher an die junge Frau heran. »Mädel – du bist mein Commodore. Deine Befehle habe ich zu befolgen. Aber diese Idee ist einfach…Hang and Denations! Ich weiß nicht, was es ist!«
»Ich kann mir vorstellen, Mr. Bush, das unser Commodore das nicht nur so daher sagt, ohne einen Plan im Hinterkopf zu haben«, erklang leise die Stimme der Corsarin.
Helen beugte sich weit über die Bordwand. »Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, stoßen wir in Kürze auf verschiedene Riffbarrieren. Die SILVER STAR kommt, dank ihres geringen Tiefganges und des schlanken Rumpfes darüber hinweg. Aber wie sieht es mit der DISCOVERY aus?«
Estrella machte ein fragendes Gesicht, was deutlich im Sternenlicht erkennbar wurde.
»Nun«, kam es von Helen mehr geflüstert. »Voraussetzung ist, dass die DISCOVERY allein fährt.«
Bush schüttelte den Kopf. »Das kommt ganz selten vor. Diese Fregatte ist den Engländern so wertvoll, dass sie immer Begleitschiffe mit senden. In der Regel zwei Corvetten.«
Helen setzte ihr Fernrohr ans Auge und fixierte den Horizont. »Ich kann weit und breit kein anderes Schiff entdecken. Die DISCOVERY hält etwa drei Meilen Abstand. Da wir keine Lichter gesetzt haben, kann man uns noch nicht ausmachen.«
Bush bließ die Luft zischend aus. »Das wäre ungewöhnlich.« Er fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen. »Lady Captain – Commodore…die Sache gefällt mir nicht. Diese verdammten Briten machen nichts unüberlegt.«
Estrella legte Helen die Hand auf die Schulter. »Lassen wir das mal bei Seite. Vorerst! Wie lautete dein Plan?«
»Es scheint doch so, als würde die Fregatte ihren Kurs erst einmal beibehalten. Wir fahren parallel. Das Riff kommt in etwa zwei Glasen. Läuft die DISCOVERY dann immer noch auf der Parallele, zeigen wir uns. Dänischer Händler in Not. Wir rutschen bequem über das Riff. Es bleibt immer noch zwanzig Inches Wasser unter dem Kiel. Der Steuermann muss die Barriere auf der Seekarte haben. Also wird er vorher Ankern. Man wird mit einem Beiboot zu uns kommen. Prisenkommando. Unser Beiboot wird schon vorher zu Wasser gelassen. Es wird aussehen, als seien Frauen darin. Dann…«
Die Corsarin und Sam Bush sperrten den Mund auf, als Helen ihnen den Plan auseinander setzte.
Nach einer Verblüffungspause nahm der Erste seinen Hut ab und wedelte damit herum. »Bei allen Meeresgeistern«, knurrte er. »Du hast schon einiges Wahnwitzige ausgekocht. Aber das ist der Gipfel! Wenn das klappt…ich wage nicht an eine Katastrophe zu denken…dann hätten wir den Briten ihre stärkste Waffe weggenommen.«
»Ja«, murmelte die Corsarin. »Außerdem könnten wir mit der DISCOVERY offen in Neu Orlean einfahren und für etwas Unruhe sorgen.«
Bush schlug sich auf die Schenkel. »Himmel und Hölle! Das könnte ein Spass werden.«
Estrella kletterte zur höchsten Rahe des Mittelmastes hinauf. Sie richtete ihr Fernrohr auf die englische Fregatte.
Kein Zweifel, die DISCOVERY schien ohne Begleitschiffe unterwegs zu sein. Doch irgendwie hatten sich Bushs Worte in ihrem Hinterkopf festgesetzt. Könnte es sein, dass die Briten doch irgend einen Trick anwandten?
Die Corsarin rutschte aufs Deck herunter. Sie blickte auf das Glas der großen Sanduhr. Die halbe Zeit war vergangen. Noch ein Durchlauf des Sandes und sie würden in der Nähe der Riffbarriere sein.
Estrella schlenderte zum Bug des Schiffes. Der Wind summte gleichmäßig in der Takelage. Je mehr sie zum Bug kam, um so lauter wurde das Rauschen der Wellen. Die SILVER STAR machte flotte Fahrt. Bald würde man die Leinwand reduzieren müssen.
Die Corsarin klemmte sich breitbeinig zwischen Ankerwinde und Galionsfigur. Sie zog das Fernrohr aus dem Lederbeutel an ihrem Gürtel und setzte es ans rechte Auge.
Da glaubte sie, jemand würde eine eiserne Schlinge um ihren Leib ziehen und ihr die Lungen abdrücken. Ihr Mund fühlte sich mit einemmal pelzig an.
Sie wollte einen Befehl schreien, doch es entglitt ihr nur ein Krächzen.
‚Himmel und Hölle!’
Sie schluckte und konnte sich endlich von dem Kloß in ihrem Hals befreien.
»Voller Einschlag Steuerbord«, schallte es über das Deck.
Der Steuermann schreckte auf. Doch dann überlegte er nicht lange. Er griff mit aller Kraft in das Ruder und wirbelte es herum.
Sam Bush stand wie eine Salzsäule. Was sollte das?
Helen rannte nach vorn.
»Ruder schneller drehen!« schrie Estrella.
»Was ist los?« keuchte Helen.
Die Corsarin zeigte nach vorn. »Sam hatte Recht.«
Da sah auch Helen in ihrem Fernrohr den schwarzen Schatten. Die Corvette lag quer zur SILVER STAR, genau im alten Kurs. Ohne Licht. So, als warte sie nur.
Da donnerte es von Ferne. Im Bereich der DISCOVERY blitzte Mündungsfeuer auf.
»Mierda! Breitseite!« kam es entsetzt über Estrellas trockene Lippen.
Heulend jagten die Eisenkugeln heran. Eine streifte den Fockmast und Teile der Takelage fielen aufs Deck und ins Wasser.
»Eine Falle«, flüsterte die Corsarin. »Eine Gott verfluchte Falle!«
Bush kam herbei gerannt. »Die Schweine haben auf uns gewartet.« Seine Stimme klang hohl.
»Wer kann uns verraten haben?« kam es von Helen.
Die Corsarin stampfte mit dem Stiefel auf. »Der dreimal verdammte Dutchman!«
»Das glaube ich nicht!« Helen fuchtelte hilflos mit dem Armen herum.
Estrella kam ganz nah an sie heran. »Er kannte den Kurs. Catherine hatte keine Gelegenheit dazu, etwas weiter zu geben.«
Bush wirbelte herum. »Volle Wende und dann West acht Strich!«
Die SILVER STAR legte sich über.
Die Corsarin starrte zur DISCOVERY. »Der Holländer hat ihnen gesagt, wie unser Schiff jetzt aussieht.«
»Ja – und hat eine fette Belohnung kassiert, nehme ich an.« Helen ballte die Fäuste.
»Wenn ich ihn kriege, werde ich ihn an seiner Haut an der Rahe hochziehen! Alle Mann auf Gefechtsstation. Breitseite zur Corvette während des Wendens!«
»Das ist Wahnsinn!« schrie Helen.
»Aber die einzige Chance!« Die Augen der Corsarin schienen in der Finsternis zu glimmen.
Da donnerte es wieder bei der Fregatte auf. Jaulend zogen die Kugeln über das Schiff. Das abrupte Wendemanöver hatten die Kanoniere nicht berechnen können. Trotzdem zerfetzte eine Kugel die Reling des Oberdecks.
Die SILVER STAR bebte, als die Breitseite zur Corvette abgefeuert wurde. Die Corsarin wartete nicht ab, welche Reaktion der Beschuss auslöste.
Hart erfasste der Wind nun wieder die Segel. Ein Ruck schien durch das Schiff zu gehen.
»Corvette 3 Grad voraus!« schrie der Ausguck.
Estrella raste zur Reling. Da sah sie den mächtigen Schatten.
»Ihr Götter des Meeres!«
Eine zweite Corvette fuhr genau auf sie zu und eröffnete das Feuer. Estrella sah den Mittelmast brechen. Eine Breitseite der DISCOVERY schlug mit ohrenbetäubendem Krachen in die Heckwand der SILVER STAR. Helen wurde gegen das Ruder geschleudert. Irgend etwas traf sie in den Rücken. Aus dem Augenwinkeln sah sie, wie Sam Bush über Bord stürzte.
Dann wurde es Nacht um sie.
Estrella stolperte über eine Seilrolle. Da bohrte sich der Bug der Corvette in die Seite ihres Schiffes. Die SILVER STAR neigte sich um fast dreißig Grad.
»Neiiiiiiin!!!« schrie die Corsarin.
Neu Orlean
Die zu einer Art Festung ausgebaute Kommandantur glich einem Hexenkessel. Captain Bridge von der DISCOVERY und der Gouverneur von Neu Orlean, Claude Ciraque saßen sich an dem langen Eichentisch gegenüber.
»Sie sind ein großes Wagnis eingegangen, Capitain.« Ciraque lächelte. »Ich könnte die DISCOVERY beschlagnahmen und sie mit ihrer Mannschaft festsetzen.«
Bridge lachte. »Sie und ich – wir wissen beide, dass sie das nicht tun werden. Dazu ist meine Gefangene für beide Nationen zu wertvoll. Wir führen zwar einen Kampf hier in der neuen Welt – aber nicht im guten Europa. Das hier ist eine andere Sache. Die englische Krone kämpft nicht gegen ihr Mutterland, Gouverneur.«
Ciraque hob sein Weinglas. »Gut – sehen wir den Moment als eine Art…wie sagt ihr Briten doch…Gentlemen Agreement an.«
Der Captain der DISCOVERY nickte. »Diese Corsarin hat uns allen – England, wie auch Frankreich, großen Schaden zugefügt. Also ist es von beider Interesse, diese Piratin aus dem Verkehr zu ziehen. Alles andere mögen unsere Politiker aushecken. Wir sind Soldaten!«
»Sie haben Recht, mon Capitan. Wichtig ist es zu erfahren, wo die Aufständischen ihre Waffenarsenale haben. Wenn wir diese Nester ausheben, dann könnte es hier zu einem raschen Frieden kommen.«
Bridge nickte. »Die Aufteilung des Landes ist nicht unserer beide Angelegenheit.« Er beugte sich vor. »Gouverneur – so weit ich weiß, ist die werte Dame den Franzosen vor kurzem erst wieder entschlüpft.«
Ciraque lachte laut auf. »Stimmt! Ein Husarenstück. Aber keine Sorge. Aus dem Kerker Neu Orlean verschwindet man nur tot.«
»Wir dürfen kein Risiko eingehen. Am besten wir sitzen gemeinsam hier zu Gericht. Und dann…« Der Engländer machte die unmissverständliche Geste des Hängens.
»Erst werden wir noch Wichtiges über die Aufständischen erfahren.« Ciraque nahm einen Schluck Wein. »Es ist also ein richtiger Glücksfall gewesen, dass dieser holländische Handelskapitän wieder nach Andros zurück gesegelt ist?!«
Bridge grinste. »Er hat auf die Belohnung gehofft.«
Der Franzose zog die Augenbrauen hoch. »Gehofft?«
Der Captain der DISCOVERY schnippte mit den Fingern. »Nach fünfzig Peitschenhieben war er froh, dass er wieder auslaufen durfte.«
»Dabei dachte ich, ihr Briten haltet es mit dem Fair Play?«
Bridge winkte ärgerlich ab. »Der König kann sein Geld nicht an Denunzianten verschwenden. Aber wir sollten diese Estrella Avilla de Aragon jetzt dem Verhör unterziehen.«
Der Franzose stand auf und stimmte dem zu. »Ach – wer war denn die andere Frau auf dem Schiff?«
Bridge zuckte die Achseln. »Da waren drei. Eine hat nicht überlebt. Sie ist wohl mit der SILVER STAR abgesoffen. Die andere sitzt mit im Kerker.«
Wenig später zerrte man Estrella aus ihrer Zelle. Man führte sie in einen Raum, in dem an einem langen Tisch acht Männer in Marine Uniform saßen. Zwei machte die Corsarin als Engländer aus. Sechs waren als Franzosen erkenntlich.
»Estrella Avilla de Aragon – ihr seid angeklagt, gegen die Gesetze des Meeres, gegen die französische Krone und gegen die britische Krone gehandelt zu haben. Ihr habt euch der Piraterie schuldig gemacht, Majestätsbeleidigung und mehrfachen Mordes. Außerdem unterstützt ihr die Feinde Frankreichs und Englands.«
Der Gouverneur von Neu Orlean blickte die in Ketten vor ihm stehende Frau an. »Ihr könnt eure Strafe mildern, indem ihr uns offen Auskunft über Waffen, Pläne und Waffenverstecke der Aufständischen Auskunft gebt.«
Die Corsarin warf mit einer heftigen Kopfbewegung die wirre Haarmähne nach hinten. »Was versteht ihr unter Strafmilderung?«
Der Franzose zuckte leicht die Achseln. »Ein rascher Tod am Galgen.«
Estrella lachte laut auf. »Also die Wahl zwischen Tod und Tod, Monsieur!«
»Die Wahl zwischen Hängen oder Todesfolter, Madame«, kam es leise von Ciraque.
Estrellas Atem ging schneller. Ihre Augen blitzten. Dann spuckte sie aus.
»Fahr zur Hölle!«
Der Gouverneur machte ein bedauerndes Gesicht. »Vielleicht ändert ihr ja eure Meinung.«
Er gab den Wachen einen Wink.
Man zerrte die Corsarin zahlreiche Treppen hinunter, bis in einen kühlfeuchten Raum. Dort wurden ihr die Kleider vom Leibe gerissen und sie an eine Wand gekettet.
»Gleich wirst du uns ein Liedchen singen«, stieß zynisch einer der Wächter hervor.
Als die Peitschte über Estrellas nackten Körper klatschte, zuckte sie zusammen.
Catherine öffnete unter unsagbaren Schmerzen ihre Augen.
Ihre Finger tasteten ohne Ziel umher. Sie spürte Sand. Sie schmeckte Salz und Sand auf den spröden Lippen. Alles um sie herum wirkte verschwommen. Erst allmählich klärten sich ihre Pupillen. Sie sah etwas Dunkles vor sich. Es nahm Konturen an.
Dann öffnete sich ihr Mund zu einem Schrei. Sie blickte direkt in die schrägen Echsenaugen eines Krokodils.
Der Atem des Reptils blies ihr direkt ins Gesicht.
Da!
Der Schuss krachte aus dem Vorderlader.
Das Reptil machte einen Satz.
Hände ergriffen die Frau und zerrten sie weg. Sie besaß keinerlei Kraft zur Gegenwehr und ließ alles einfach geschehen.
Sie spürte, wie sie jemand auf den Arm nahm, sie davon trug und irgendwann auf ein weiches Lager bettete.
Ein gutmütiges rundes Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf.
»’allo – geht’s besser?«
Ein Hustenreiz schüttelte sie. Der Fremde gab ihr Wasser zu trinken. Allmählich normalisierte sich Catherines Kreislauf. Sie richtete sich etwas auf und sah sich um. Sie befand sich in einer einfachen, aber gemütlich eingerichteten Hütte.
»Mein Name ist Joan Labeth«, stellte sich der Fremde vor.
Er war nicht sehr groß, aber breitschultrig. Ein pechschwarzer Bart umrahmte sein Gesicht. Einige widerspenstige Locken – ebenfalls pechschwarz – verirrten sich in seine Stirn. Seine Gesichtszüge muteten leicht afrikanisch an.
»Da bin ich ja rechtzeitig gekommen, um diesem kleinen Alligator das Mittagessen zu verderben«, sagte er auf Französisch.
»Franzose…« stieß Catherine in der selben Sprache hervor.
Der Trapper blickte spöttisch. »Franzose, Spanier…immer was gebraucht wird. Es ist gut in dieser Gegend, wenn man sich wie ein Chamäleon anpasst.«
»Ich heiße Catherine«, sagte die Frau leise.
»Aha«, machte Labeth. »Wollten sie Krokodile dressieren?«
Catherine musste nun doch leise lachen. Sie verneinte.
»Hm – darf ich denn fragen, wie sie dort hingekommen sind? Der Bereich der Mississippisümpfe wimmelt von diesen Reptilien und auch Schlangen aller Art. Sie wären wahrscheinlich in einer Stunde sowieso tot gewesen. Ob durch das Reptil oder eine Giftschlange.«
Catherine erschauerte.
Joan Labeth tätschelte ihr freundschaftlich die Wange. »Hier passiert ihnen nichts. Kaffee? Ich habe frischen.«
»Oh ja, danke!«
Langsam kehrte das Leben in die junge Frau zurück.
Der Trapper setzte sich auf einen Schemel vor das Bett.
»Also – wo kommen sie her?«
Catherine sammelte ihre Gedanken und berichtete.
Labeth machte große Augen. »Die SILVER STAR? Himmel! Lebt Estrella noch?«
Catherine zuckte mit den Schultern. »Ich wurde gegen irgendetwas geschleudert und verlor das Bewusstsein.«
Labeth schlug sich mit der Faust in die andere flache Hand. »Verdammt! Wenn sie überlebt hat, sitzt sie in Neu Orlean im Kerker.«
»Sie kennen die Corsarin?«
Der Trapper nickte. »Und ob ich sie kenne! Sie hat mir zweimal das Leben gerettet. Außerdem ist mein bester Freund der Freund ihrer Schwester.«
»Von Helen?«
Labeth runzelte die Stirn. »Helen…nein. Lucia. Die Gouverneurin von San Luca.«
Er beugte sich etwas vor. »Sie bekommen gleich erst einmal etwas ordentliches zum essen. Vorher aber noch eine Frage: Wie weit war die SILVER STAR von der Küste entfernt, als sie den Engländern in die Falle fuhr?«
Catherine überlegte angestrengt. »Ich hab nicht alles so genau mitbekommen, aber ich hörte etwas von einer Riffbarriere, auf die man die DISCOVERY locken wollte.«
»Ha!« machte der Trapper. »Das ist typisch Estrella. Aber sie musste sich doch denken, das die DISCOVERY nicht allein unterwegs war.«
»Sam Bush gab das auch zu bedenken, aber es gab keinerlei Anzeichen für andere Schiffe.«
»Ja – der jetzige Captain der Fregatte ist ein Fuchs. Wenn er die SILVER STAR verfolgte, ahnte er auch, was die Corsarin vor hatte. Er hat den Trick mit einer Schaluppe mal selbst angewandt.«
»Woher wissen sie das?«
Labeth lachte laut und dröhnend. »Ich bin Joan Labeth. Bin unter Bridge gefahren. Und habe dabei auch den verfluchten Bush kennen gelernt. Sam Bush, den man früher auch den Listenreichen nannte.«
Der Blick des Trappers verdüsterte sich. »Ist er tot?«
Die junge Frau wusste es nicht.
»Gut – wir werden sehen. Essen sie und schlafen sie. Diese Nacht werde ich die Umgebung abgrasen. Morgen suchen wir New Vernango auf.«
Catherine blickte den Trapper fragend an.
»Ein kleiner Ort – versteckt in den Schleifen des großen Stromes. Dort leben Freunde der Corsarin.«
Nach der Auspeitschung, hatte man die Corsarin achtlos in eine Zelle geworfen. Nun lag sie, mit brennenden tiefen blutigen Striemen am gesamten Körper auf dem fauligen Stroh. Mehr tot als lebendig.
Sie fiel in einen Dämmerzustand.
Gegen Morgen rief Captain Bridge die Wachen zu sich.
»Seid ihr weiter gekommen?«
Die Wachen mussten gestehen, dass sie aus der Corsarin nichts herausbekommen hatten.
Mürrisch befahl der Engländer den Männern: »Wegtreten!«
Dann begab er sich selbst in den Kerker. Er fand die Corsarin in einem absolut desolaten Zustand vor. Verkrustetes Blut überall. Dazu blutunterlaufene Striemen.
»Madam«, rief er leise. »Sehen sie mich an.«
Mühsam öffnete Estrella die verquollenen Augen. »Sun of a bitch!« zischte sie.
Der Captain lächelte. »Ich kann ihren Zorn verstehen, Señorita Avilla de Aragon. Doch ich bin kein Sadist. Ich bin Soldat der englischen Krone. Wir befinden uns in einem Krieg.«
»Ihr mordet Menschen! Sinnlos! Nur weil sie die Freiheit wünschen.« Verächtlich kam es von der Corsarin.
Bridge schaute voller Mitleid auf die an sich sehr schöne Frau. Er besaß Achtung vor ihrem Mut.
»Ich schicke ihnen zwei Damen. Die werden sie baden und standesgemäß kleiden. Ich bitte sie, mit mir zu essen und zu reden. Glauben sie mir – jegliche Brutalität gegen sie liegt mir fern. Wir sind beide Kämpfer. Leider auf verschiedenen Seiten.«
Damit verließ er die Zelle.
Eine Stunde später hätte er die Corsarin kaum wiedererkannt.
Er empfing sie im Garten der Gouverneursresidenz. Galant erhob er sich von dem herrlich gedeckten Tisch, schob der Corsarin einen Stuhl zurecht und bat sie, Platz zu nehmen.
»Kaffee oder Tee?«
»Kaffee bitte«, antwortete die Frau leise. Bridge merkte ihr an, dass sie große Schmerzen durch die Spuren der Peitsche litt.
Der Captain deutete auf die Speisen. »Greifen sie zu. Sie müssen Hunger haben.«
»Das stimmt, Sir – aber gibt es nichts Wichtigeres zu besprechen, als den Hunger zu stillen?«
Bridge nahm einen Schluck Kaffee. »Sicher«, meinte er dann. »Nennen sie mir die Versteckte der Aufständischen und…«
Estrella zog ein wenig die Augen zusammen. »Und sie können mich endlich hängen.«
Bridge wiegte den Kopf. »Madam – wenn es eine andere Lösung gäbe…ich würde sie nutzen.«
Die Corsarin musste nun lachen. »Ich bitte sie, Sir – das ist nicht ihr Ernst!«
»Sie misstrauen mir? Gut! Ich denke, ihr Erlebnis in London ist es. Aber nicht jeder Engländer ist ein Folterknecht. Ich wollte sie nicht auspeitschen. Aber sie müssen verstehen, dass ich den Interessen der Krone den Vorrang geben muss. Sie kapern unsere Schiffe und behindern unseren Kampf.«
»Kampf…« kam es verächtlich aus dem Munde Estrellas. »Was für einen Kampf?! Gegen Frauen und Kinder. Sie morden sinnlos, indem sie Siedlungen niederbrennen lassen – Indianer gegeneinander hetzten. Sir – es ist widerwärtig!«
Der Captain der DISCOVERY seufzte. »Ich weiß. Jeder Krieg ist widerwärtig. Aber ich bin Soldat und habe meinem König zu folgen.« Er beugte sich über den Tisch vor. »Madam – sie sind eine intelligente Frau. Machen sie dem Morden ein Ende.«
Estrella blickte verblüfft auf. »Ich? Wie sollte das von statten gehen?«
»Geben sie mir die Auskünfte, die ich benötige. Sicher werden noch einige Menschen sterben, aber nicht so viele, als wenn der unselige Kampf weiter ginge. Ein Kampf, den ihre Siedler nur verlieren können!«
Die Corsarin stand auf. »Sir! Sie verlangen Unmögliches! Bringen sie mich zurück in den Kerker.«
Bridge hob hilflos die Arme. »Madam! Nehmen sie Vernunft an.«
Nach einer kurzen Pause setze er leise hinzu: »Die andere Frau ist ihre Halbschwester Helen de Vere.« Er winkte ab. »Ich weiß es!«
Estrella schwieg. Also fuhr der Captain fort: »Wollen sie zusehen, wie sie gefoltert wird?«
Die Corsarin wurde bleich. Sie schluckte. »Sie sind ein Unhold, Sir!«
Bridge schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das bin ich nicht! Die Situation zwingt mich. Denken sie bis heuteabend darüber nach.«
Er winkte die Wachen herbei. »Bringen sie Madame in ein sauberes Verlies. Ohne Ketten!«
Der Tag verging. Nervös wie eine Tigerin lief die Corsarin in ihrem Gefängnis auf und ab.
Helen lebte also! Sie fühlte sich erleichtert. Aber der Gedanke, dass man ihre Schwester an ihrer statt foltern könnte, zerriss ihr das Herz.
Es dunkelte, als sie Stimmen auf dem Gang vor ihrer Zelle vernahm. Kettenrasseln und dann Helens Stimme.
Estrella drückte sich eng an das Gitter ihrer Zellentür. Aus der Ferne erkannte sie, wie man Helen aus einer anderen Zelle zerrte.
»Oh Neptun…« flüsterte die Corsarin und Tränen traten in ihre Augen.
Es dauerte nicht lange, da tauchte Captain Bridge auf.
»Señorita Avilla de Aragon«, begann er. »Haben sie es sich überlegt?«
Estrella funkelte ihn zornig an. »Wenn es einen Satan gibt, Sir, dann soll er sie holen!«
Bedauern lag in dem Blick des Engländers. »Wie sie wollen. Es tut mir sehr leid, was nun geschehen muss.«
Er wandte sich an die Wachen. »Bringen sie Madam in den Verhörraum.«
Die Zellentür wurde geöffnet. Als die Wachen Estrella brutal herauszerren wollten, ging Bridge dazwischen. »Behandeln sie Madame wie es sich gehört. Wie eine Lady!«
Die Blicke des Captains und der Corsarin trafen sich.
»Ich bedauere zutiefst, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen mussten«, sagte er leise.
Im sogenannten Verhörraum – der eigentlich eine Folterkammer darstellte – hielten sich zehn Personen auf. Engländer und Franzosen, wie Estrella an den Uniformen erkannte. Die rechte Seite beherrschte ein Block.
Darin hatte man Helen eingeschlossen.
Die Corsarin fühlte sich elend. Doch was sollte sie tun?
Helen schaute ihr entgegen. Ein Lächeln glitt plötzlich über ihr Antlitz.
Estrella schloss die Augen.
Bridge berührte sie am Arm. »Madam – noch ist Gelegenheit, ihnen und ihrer Schwester einiges zu ersparen.«
Estrellas Atem ging rasselnd. »Lassen sie Helen frei. Foltern sie mich!«
Der Engländer blickte sie lange an. Dann antwortete er: »Sie sind eine Frau von Ehre. Daher tut es mir besonders leid.« Er winkte einer der Wachen zu.
»Ketten sie Madame dort drüben an, sodass sie alles gut sieht.«
Dann ging er rasch fort.
Die Wächter rissen Estrella die Arme auf den Rücken, zwangen sie auf die Knie – mit direktem Blick auf den Pranger – und ketteten sie fest.
Mit brennenden Augen sah sie die Vorbereitungen zu Helens Folter.
Ein Soldat legte flache Eisen in ein Feuer.
Der Mann, der sich in der Dämmerung durch die Wildnis schleppte, mochte wohl die Mitte der Sechzig schon überschritten haben. Sein Bart und seine Haare waren struppig anzusehen, seine Kleidung zerrissen. Doch er wirkte zäh.
Dieser Mann hieß Samuel Bush.
Er wankte auf die Ansiedlung zu.
»He! Wer ist das?« vernahm er eine Stimme. Sogleich stürzten mehrere Männer auf ihn zu. Sie hielten Gewehre auf ihn gerichtet.
Bush blieb stehen und hob den fiebrigen Blick. Er sah den Männern – einem nach dem anderen ins Gesicht.
»Sind sie die Siedler von New Vernango?« fragte er mit heiserer, rostiger Stimme.
»Sam!« rief da mit einemmal eine Frauenstimme.
Der Alte richtete sich etwas weiter auf. Da glitt Freude über sein Gesicht.
»Catherine…« murmelte er. »Das Mädel hat es auch geschafft.«
Bald saß der ehemalige Erste der SILVER STAR bei gutem Essen und wieder einigermaßen sauber gekleidet an einem Tisch und stillte seinen Hunger.
Der Dorfälteste hörte seinem Bericht zu.
»Tja«, brummte Sam und wischte sich das Fett der Hammelkeule aus dem Bart. »Dann haben die verfluchten Briten die stolze SILVER STAR zusammengeschossen. Ich fiel über Bord. Irgendwie kam ich wieder an die Wasseroberfläche und sah, wie unser Schiff gurgelnd in der Tiefe verschwand.«
Er hielt inne und starrte auf die Tischplatte. Dann schien er in die Gegenwart zurück zu finden. »Was mit dem Lady-Captain und dem Commodore passiert ist, weiß ich nicht. Ich hoffe, dass sie noch leben.«
Der Trapper Labeth legte ihm seine schwielige Hand auf den Arm. »Wenn sie überlebt haben, finden wir sie in Neu Orlean. Ich fahre morgenfrüh mit dem Kanu den Strom abwärts und werde mich umhören.«
Zu dem Dorfältesten meinte er: »Roger – benachrichtigt die Leute in Little Auxere. Estrella hat so viel für uns getan. Wenn sie noch lebt, müssen wir sie befreien.«
Tiefe Nacht lag über Neu Orlean.
In der Festung war es ruhig geworden.
Mit Grauen dachte Estrella an die Szenen in der Folterkammer zurück.
Helen stöhnte leise unter ihr. Auch Estrella schnitten die fesseln tief und schmerzhaft ins Fleisch. Sie spürte den zitternden Körper der Schwester.
Nach dem die üblichen Methoden des Verhörs nichts bewirkt hatten, entschied man sich für eine besondere Tortur für die Nacht. Man hatte die beiden Frauen vollständig ausgezogen. Nackt waren sie dann in straffen Seilen aufeinander gebunden worden.
Ciraque hatte höhnisch gelacht. Bridge hatte aus Protest gegen diese Folter den Raum verlassen.
Der Franzose – von wenig edlen Gefühlen beseelt, hatte sich zu der Corsarin herunter gebeugt und geflüstert: »Ich wünsche eine angenehme Nacht. Vor allem eine liebevolle. Ihr treibt es doch immer so auf euren Piratenschiffen, habe ich gehört. Dann wird es doch eine Erfüllung sein, solche Nähe zu spüren.«
Rasselnd schloss sich die Kerkertür.
Nur eine einsame Fackel brannte und ihre unruhige Flamme sorgte für bizarre Schatten auf der rohen Wand.
Estrella drehte den Kopf ein wenig. Zwei Ratten saßen in einer Ecke und blickten scheinbar neugierig zu den beiden aufeinander gefesselten Frauen.
Estrella spürte das Gewicht von Helens Körper. Dadurch schnitten die Seile besonders fest in das Fleisch ihrer Gelenke.
Helen, die nach der Folter mit dem glühenden Brandeisen ohnmächtig geworden war, kam zu sich. Sie stöhnte laut auf und bewegte sich. Das hatte zur Folge, dass ein unkontrolliertes Zucken durch Estrellas Körper lief.
Sie biss sich auf die Lippen. Auch Helen begann leicht zu zittern. Die Corsarin presste die Lippen zusammen.
Die Schwester – jetzt wieder bei vollem Bewusstsein – blickte Estrella mit leicht verklärtem Blick an.
»Oh Gott«, flüsterte sie. »Was ist das?«
»Ruhig Baby«, flüsterte Estrella. »Sie wollen uns mürbe machen.«
Helen bewegte sich in den Fesseln, was natürlich dazu führte, dass ihre Körper aneinander rieben. Dies löste unkontrolliert eine bestimmte Stimulans aus.
Helen schloss die Augen. Durch Estrellas Körper jagte ein Kribbeln.
Helen stöhnte plötzlich auf.
»Es hilft nichts«, hauchte die Corsarin ihr ins Ohr. »Lass dich gehen. Wir schaffen das schon.«
Ungewollt passierte das, was die Folterknechte eingeplant hatten.
Als der nächste Morgen anbrach hingen beide völlig erschöpft in den Fesseln. Hände und Füße zeigten sich blau angelaufen.
Als sich die Kerkertür knarrend öffnete, versuchte Estrella etwas zu erkennen. Sie musste sich dabei fast den Nacken verrenken.
Es war Bridge.
Unsicher blickte er auf die beiden Frauen. Man merkte dem Engländer an, dass ihn die Verfassung seiner Gefangenen peinlich berührte.
Estrella hob ein wenig den Kopf. »Mierda, Capitano – sie haben gewonnen. Helfen sie meiner Schwester hier heraus und ich sagen ihnen, was sie wissen wollen.«
Bridge rief nach den Wachen. Seine Stimme klang fremdartig rau.
»Lösen sie diese unmenschlichen Fesseln! Lassen sie die Frauen baden und bringen sie sie in mein Quartier.«
Einer der Wachleute trat nervös von einem Bein auf das andere.
»Was ist?« herrschte Bridge ihn an.
»Der Gouverneur…«
»Das ist mir egal! Ich gab ihnen einen Befehl!«.
»Jawohl, Sir!« Der Mann salutierte.
Als man Estrella und Helen zu Bridges Quartier brachte, trugen sie Kleider und waren einigermaßen frisiert. Er hieß sie beide sich zu setzen.
Der Captain lief mehrmals unruhig in dem relativ kleinen, einfachen Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor der Corsarin stehen.
»Madam«, begann er. »Diese Behandlung betrachte ich als absolut unmenschlich. Trotz aller Vergehen, die sie gegen die britische, wie auch gegen die französische Krone begangen haben, interpretiere ich das als abrutschen in die Barbarei.«
Er wendete abrupt auf dem Absatz und trat an das kleine Fenster. Von dort aus konnte man in den Garnisonshof sehen. Ein Trupp Soldaten marschierte dort zum Appell auf.
Ohne sich umzudrehen fuhr der Engländer fort: »Ich werde sie beide mit nach London nehmen. Die DISCOVERY läuft in zwei Stunden aus.«
Er wirbelte herum und blickte die Corsarin aus harten Augen an. »Ich mache ihnen folgendes Angebot – sie nennen mir die Aufständischen-Nester. Dafür garantiere ich ihnen ihr Leben. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sie nicht gehängt werden, sondern zur Festungshaft verurteilt werden. Das lässt ihnen die Chance offen, in zwanzig Jahren die Freiheit zurück zu erhalten.«
Estrella lachte auf. »Festungshaft? Womöglich noch Kettenhaft! Nein!« Sie fuhr wild mit der rechten Hand abwehrend durch die Luft. »Dann hängen sie mich lieber.«
Bridge atmete hastig. »Madam! Sie verkennen absolut die Situation!« rief er aufgebracht. »Wissen sie, was ihnen hier in Neu Orlean blüht? Eine schimpfliche Ausstellung am Pranger. Auspeitschung oder Schlimmeres. Danach der Tod auf dem Rad. Wollen sie das? Wollen sie vielleicht zusehen, wie ihre Schwester zuerst zu Tode gemartert wird? Unter dem Johlen des Pöbels? Wollen sie das?«
Helen war bleich geworden. Doch sonst ließ sie sich nichts anmerken. Estrella sprang auf. »Sir – meine Schwester weiß von nichts! Lassen sie sie frei und sie erhalten die Informationen.«
»Nein!« rief Helen aus. »Lieber die Folter, als den Verrat!«
»Gut gesprochen!« kam es da eisig von der Tür. Sowohl der Captain, wie auch Estrella und Helen blickten auf.
In der Tür stand Ciraque. Hinter ihm erkannte man vier Soldaten.
Der Franzose trat ein und blieb vor dem Engländer stehen.
»Mon Capitain – diese Piratinnen stehen unter französischem Recht und werden wieder inhaftiert. Ich gebe ihnen genau bis zum Mittag Zeit, den Hafen mit ihrem Schiff zu verlassen. Sonst lasse ich die DISCOVERY versenken!«
Bridge kochte vor Wut.
Die Soldaten ergriffen die Corsarin und Helen und führten sie aus dem Zimmer.
»Ich protestiere im Namen meines Königs!« brach es aus Bridge heraus.
Der Franzose lachte nur. »Ihr König, mon Capitain – hat hier keinen Einfluss. Also verlassen sie Neu Orlean.« Dann grüßte er militärisch und verließ die Unterkunft. Auf dem Hof rief er den Soldaten zu:
»Madame Estrella darf Bekanntschaft mit dem Rad machen!«
Es lief der Corsarin kalt den Rücken herunter. Sie wusste, was das bedeutete. Als Helen versuchte sich los zu reißen, schlug man sie brutal nieder.
»Schleift dieses Weib eine Stunde durch die Bucht!«
Helen wurde zum Strand geführt. Soldaten brachten zwei starke Pferde, die man normaler Weise benutzte, um Frachtkähne Strom auf zu ziehen.
Nackt legte man sie auf den Rücken und band sie mit ausgestreckten Armen an die kurze Deichsel. Ein kurzes Kommando – die Gäule trabten los und schleiften die Gefesselte über den Sand bis zu einer Stelle, an der die Brandung hart an den Strand lief. Hier im etwa zwei Fuß hohen Wasser ließ man die Pferde traben.
Helen glaubte, die Arme würden ihr aus den Gelenken gerissen. Sie versuchte krampfhaft den Kopf hoch zu halten, doch immer wieder schlugen die Wellen über ihr zusammen. Dadurch, dass man ihre Beine mit einer Stange gespreizt hatte, konnte sie sich nicht umdrehen, was eine Erleichterung gewesen wäre. So drang das Wasser in Mund und Nase…ein Ersticken auf Raten.
Zur selben Zeit kettete man Estrella im Hof der Garnison nackt auf das Rad.
Als die Sonne ihren Höchststand erreichte, lief die DISCOVERY aus. Durch das Fernrohr sah Bridge Helens Martyrium. Angewidert drehte er der Szene den Rücken zu.
Als man später sowohl Estrella, wie auch Helen in den Kerker schleppte, wussten die Wachen nicht zu unterscheiden, ob sie lebten oder bereits die Schwelle des Todes überschritten hatten.
Es waren zwei Schiffe, die gemächlich auf die Mississippimündung zu segelten. Sie hatten sich geschickt während der Nacht an den Patrouillen der Franzosen und Engländer vorbei geschlichen.
Eine Nationalität konnte man nicht ausmachen. Es handelte sich um eine Brigg und einen Klipper. Diese relativ kleinen Schiffe hatten den Vorteil, dass sie in der mondlosen Finsternis kaum auszumachen waren, zumal sie keinerlei Licht gesetzt hatten. Doch nun kam der Morgen auf und es wurde Zeit, aus dem Golf zu verschwinden.
Auf dem ersten Schiff – der Brigg – ließ der Kapitän die holländische Flagge setzen. Wenig später hisste man auf dem Klipper das schwedische Handelskennzeichen.
Im aufkommenden Frühnebel passierten die beiden Schiffe unbehindert Neu Orlean und segelten weiter den Strom aufwärts.
»Captain op Boven – wie weit ist es noch bis New Vernango?«
Die Stimme mit dem angenehmen, aber bestimmenden Timbre gehörte einer dunkelhaarigen Frau. Sie stand neben dem Rudergänger. Auf dem Haupt trug sie einen weichen, breitrandigen Hut, den eine gelbe Feder zierte. Das Wams bestand aus dunklem Leder mit Seidenbiesen. Die Stiefel zeichneten sich durch wertvolles Hirschleder aus. Von der rechten Schulter zur linken Hüftseite spannte sich ein breiter Gürtel mit indianischen Stickereien. Daran hing ein kunstvoll geschmiedeter Degen. In einem schmaleren Hüftgürtel steckte eine Pistole und ein Beil.
Die Frau ließ ihre linke Hand auf dem Griff des Degens ruhen.
Der kleine, etwas dickliche Mann – dem der Zuruf galt – drehte sich zu der Sprecherin um und erklärte: »Kurz vor Mittag sind wir da.«
Die Frau nickte befriedigt. »Gut. Denken sie daran, Op Boven, sie haben eine Menge gut zu machen.«
Der Holländer nickte nur und winkte seinen Bootsmann zu sich. Sie besprechen sich. Dann kam der Kapitän auf die Frau zu.
»Nach einer Meile stoßen wir auf eine Bucht, die mit dichten, überhängenden Bäumen gesäumt ist. Der Tiefgang ist ausreichend für den Klipper. Wir signalisieren, dass er dort in Position geht. Von dort aus kann ein Erkundungstrupp operieren.«
Die Frau überlegte kurz, dann entschied sie: »Ich gehe mit an Land. Sie fahren nach New Vernango und leiten alles weitere in die Wege.«
»Wie sie wollen, verehrte Dame.«
Er gab entsprechende Anweisungen.
Die Frau ergriff den Arm des Holländers und sagte ihm dann ernst – mit gefährlichem Unterton – ins Ohr: »Mein Freund – wenn sie mich hintergehen, werden die fünfzig Peitschenhiebe – die sie auf Andros erhalten haben – eine Liebesmassage sein gegen das, was ich dann mit ihnen anstelle.«
Der Dicke zuckte zusammen. Krächzend antwortete er: »Madame, eher küsse ich ihnen die Füße, als dass ich sie hintergehe.«
Die Mundwinkel der Frau überzogen sich mit einer Spur von Abfälligkeit, als sie entgegnete: »Das dürfen sie bei meiner Schwester tun, wenn sie Abbitte leisten. Vielleicht ist sie gnädig und schneidet ihnen nur die Ohren ab.«
Damit ließ sie den verdatterten Kapitän stehen.
Der blickte der stolzen, großen Frau hinterher. Es handelte sich um niemand anderen als – Lucia Avilla de Aragon.
Wie lange Estrella sich im Dämmerzustand zwischen Realität und jenseitiger Welt aufgehalten hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Ihr war kalt. Ihr Körper mit blauen Flecken, verkrustetem Blut, aufgequollenen Peitschenstriemen und Schmutz bedeckt. Mehrfach hatten sich unkontrolliert Blase und Darm entleert. Ihre Zunge fühlte sich an, als habe man ihr einen mit Petroleum getränkten Lappen hinein gesteckt. Sie versuchte sich aus der Bauchlage auf die Hände zu stützen. Wie ein Blitz durchzog sie der stechende Schmerz aus dem Bereich ihres Unterleibes. Sie schloss die Augen wieder und drehte sich vorsichtig auf die Seite. Sie betastete behutsam ihren Vaginalbereich. Er fühlte sich ekelhaft klebrig an. Als sie die Hände zurück zog und die Augen wieder öffnete, sah sie das Blut an den Fingerkuppen.
Die Erinnerung kehrte zurück.
Das Rad!
Fünfmal hatte man sie im Verlauf ihrer Haft auf dieses grausige Instrument gekettet. Jeweils für zwölf Stunden. Die Folterknechte wussten, dass niemand das länger überleben konnte.
‚Helen!’
Entsetzen durchfuhr sie.
Wo war Helen? Hatte man sie bereits umgebracht?
Unter großen Schmerzen – ihre Arm- und Beingelenke mussten wohl von der Folter ausgerenkt sein – konnte sich die Corsarin aufrichten.
Da sah sie die Schwester. Verkrümmt lag sie auf dem fauligen, mit Urin bedeckten Stroh. Daumen und große Zehen hatte man ihr stramm hinter dem Rücken mit kurzen Knebelketten verbunden. Dünner Kot tropfte zwischen ihren angewinkelten Schenkeln durch. Die Flächen ihrer Fußsohlen zeigten Brandblasen auf, zum Teil aufgeplatzt. Auf dem rohen Fleisch bildete sich an einigen Stellen Eiter.
‚Oh Neptun!‘ Estrella traten Tränen der Wut in die Augen. Ihre Folter konnte sie noch verkraften, aber Helen so zu sehen, das gab ihr einen Stich ins Herz.
Estrella versuchte sich weiter aufzurichten. Sie wollte zu ihrer Schwester hinüber kriechen. Aber eine Kette an ihrem rechten Fußgelenk verhinderte es.
Niedergeschlagen streckte sie sich wieder auf dem kalten Boden aus.
Innerlich schloss sie mit ihrem Leben ab. Die nächste Folterung würde sie nicht überstehen.
Da öffnete sich rasselnd und knarrend die Zellentür. Die Corsarin hielt die Augen geschlossen. Roh wurde sie hochgerissen, die Kette von ihrem Bein gelöst und dafür die Hände auf den Rücken gefesselt.
Sie hörte ein furchtbares Stöhnen.
Es kam von Helen.
»Bitte…« kam es kraftlos von Estrella. »…bitte…lasst sie in Ruhe.«
»Halt’s Maul, du Piratenhure!« schrie sie jemand an. »Der Gouverneur will euch sehen.«
Man schleifte die Frauen – gehen konnten sie nicht – durch den Kerker, über eine lange Treppe und dann zum Hof.
Dort ließ man sei einfach im Schmutz liegen.
Wie lange Estrella so lag, wusste sie nicht. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es war ihr auch egal. Apathisch lag sie da, ohne sich zu rühren. Sie spürte auch die Kälte des Morgens nicht mehr. Ihr Nervensystem schaltete ab.
Irgendwann erhielt sie einen derben Tritt in die Seite.
»Hört ihr mir zu, oder soll ich euch erst das Fell vom Körper lösen?«
Die Corsarin wusste, wem diese Stimme gehörte. Es war Ciraque.
Sie nahm alle Kraft zusammen und hob etwas den Kopf. Nur verschwommen konnte sie den Franzosen erkennen. Der schaute hochmütig auf die Liegende herab.
»Madame – da sie bisher allen unseren gut gemeinten Überredungskünsten Trotzigkeit entgegengesetzt haben, werde ich mich von ihrer Anwesenheit trennen müssen. Sie wollen uns nichts sagen – sie müssen uns nichts mehr sagen. Da sich die Lage zwischen meiner Nation und England verschärft hat, kann ich mich mit störrischen Piraten nicht länger aufhalten. Sie erhalten eine allerletzte Chance. Dazu gebe ich ihnen Zeit bis zum Sonnenuntergang. Wenn sie dann nicht zur Kooperation mit der ‚Grand Nation’ bereit sind, werden wir sie in der Alligatorenbucht mit der Zunge an einen Baum nageln. Den Rest werden die Reptilien erledigen. Das spart uns Zeit.«
Wie aus weiter Ferne nahm die Corsarin die Stimme des Franzosen wahr. In ihren Ohren rauschte es und ihre Pupillen überzogen sich mit nebelhaftem Schleier.
Ciraque beugte sich herunter und riss Estrellas Kopf hart an den verfilzten Haaren hoch.
»Ihr seid ja jetzt bereits tot«, zischte er.
Dann richtete er sich wieder auf und verließ den Platz.
Estrella versank wieder in das Reich zwischen Realität und Trance.
Alligatoren rissen gierig ihre Mäuler auf – Menschen schrieen – irgendwo glaubte sie auch Kanonendonner zu hören…dann versank sie wieder in grauen Wolken. Sie hatte den Eindruck durch bunte Spiralen gewirbelt zu werden. Ihr Körper schlug schmerzhaft gegen irgendwelche blitzende Wände. Rote Ringe wechselten sich mit schwarzen vor ihren Augen ab. Schweiß bedeckte ihren Körper und sie rang nach Atem.
Sie öffnete den Mund weit. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sie wollte aufspringen, doch eiserne Bänder hielten sie.
Sie riss die Augen auf.
»Um Himmelswillen!« hörte sie eine panische Stimme, dann versank sie wieder zwischen Sein und Nichtsein.
Irgendwann hatte sie den Eindruck, als schmeichele warmer Wind ihren Körper. Sie vernahm leise Stimmen. Ihre Glieder registrierten ein leichtes Schaukeln. Etwas Weiches und warmes massierte angenehm ihren Bauch.
Ihr Atem wurde ruhiger und durch die sich beinahe von selbst öffnenden Lider erkannte sie etwas Blaues.
‚Konnte dies das Paradies sein‘ materialisierte sich ein Gedanke in ihrem Kopf.
»Sie kommt zu sich!« drang eine freudig erregte Stimme an ihr Ohr. »Oh Jesus! Lucia komm rasch!«
‚Lucia?’
Estrella öffnet nun die Augen vollständig. Sie blinzelte in den stahlblauen Himmel. Sie vernahm das leichte Knistern, das der Wind in den Segeln verursachte. Das typische Knarren in den Wanten.
Dann tauchte ein Gesicht in ihrem Blickfeld auf.
Lucia Avilla de Aragon beugte sich mit tränenglänzenden Augen über ihre Schwester.
»Estrella, Liebes…du hast es geschafft!«
Die Corsarin spürte, wie jemand ihre Hände küsste. Sie wandte den Kopf etwas.
»Helen…« hauchte sie.
Unendlich langsam – eher bruchstückartig – kehrte die Erinnerung zurück. Die Kommandantur der Franzosen. Ciraque…Captain Bridge…die Folter…«
Estrellas Herzschlag beschleunigte sich. Sie wollte sich aufrichten, doch Lucia und Helen drückten sie sanft in die Kissen der Hängematte zurück.
Jetzt erst begriff sie ihre Umgebung.
Sie befand sich auf dem sonnendurchfluteten Oberdeck eines Großseglers.
Die SILVER STAR?
Ach nein – ihr Schiff war ja dem Beschuss der DISCOVERY zum Opfer gefallen. Bei Neptun – ihr Gehirn zeigte sich stark durcheinander.
Unruhig glitten ihre Augen umher. Sie sah das erleichterte Antlitz Helens. Dann das Lächeln Lucias.
»Darling«, flüsterte Lucia. »Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben.«
Estrella fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Bitte Wasser…«
Helen hielt ihr einen Becher an den Mund. Lucia richtete sie etwas auf.
Nach ein paar Schlucken wollte die Corsarin wissen: »Wo sind wir? Was ist passiert? Ich hatte einen furchtbaren Traum.«
Lucia strich ihr ein paar Locken aus der Stirn. »Als wir Neu Orlean stürmten, liefen die Franzosen umher wie aufgescheuchte Hühner«, berichtete sie. »Wir fanden dich und Helen dann im Hof der Garnison. Helen hat sich schneller erholt, aber durch die Radfolter hattest du viel Blut verloren. Wir haben nicht daran geglaubt, dich am Leben erhalten zu können.«
Helen drückte Estrellas Hand. »Du warst zwei Wochen fast ohne Pause in einem totenähnlichen Schlaf.«
»Zwei Wochen…« Die Corsarin konnte es nicht fassen. »Was…ist das für ein Schiff?« wollte sie wissen.
Lucia lachte leise. »Ein Dreimaster, den wir einem Norweger abgenommen haben. Wir besitzen jetzt einen Klipper, eine Brigg und dieses Schiff. Ich habe es SILVER STAR II genannt.«
Estrella schluckte mehrmals trocken. »San Luca?«
»Steht noch, Schwesterchen«, beruhigte sie Lucia. »Aber hier möchte dich noch jemand unter den Lebenden begrüßen, dem die Sorge um dich einige Falten mehr ins Gesicht gezeichnet hat.«
Die Corsarin drehte den Kopf in die Richtung, in die ihre Schwester blickte.
»Sam!« hauchte sie.
Dem alten Bush stand das Wasser in den Augen.
San Luca Bay.
Sanft blies der Wind vom Meer herüber. Estrella lag auf einer Liege im Garten des Rathauses. Lucia hielt ihre Hand.
Die Corsarin schaute sie schelmisch an. »Ich wusste gar nicht, dass auch du zur Corsarin geboren bist.«
Ein dunkles, angenehmes Lachen erklang seitens Lucias. »Albanys Gene stecken in uns allen, meine Liebe. Allerdings gestehe ich ein – das Meer ist nicht unbedingt meine Sache. Da ist Helen schon anders.«
»Helen«, murmelte Estrella. »Du hättest mir damals sagen sollen, was es mit ihr auf sich hat.«
Lucia wiegte den Kopf. »Albany ist für dich immer eine Heilige gewesen. Sie stand noch über der Mutter Gottes. Du hättest Helen gehasst.«
»Helen wusste gleich, wer ich war. Sie hat alle Demütigungen ertragen. Unbewusst hat sie mir damit eine Lektion erteilt.«
Lucia lächelte still. »Aber du hast schon ein unsichtbares Band gespürt.«
»Ja«, seufzte die Corsarin. »Von Anfang an war da etwas. Ich wusste sogleich, dass ich ihr nichts richtig Böses antun konnte. Jeder Tritt, jeder Stoß wirkte auf mich, als sei er gegen mich selbst gerichtet.«
Lucia beugte sich vor und streichelte die Wange ihrer Schwester. »Du liebst sie. Es ist eine reine Liebe, der du dich nicht zu schämen brauchst.«
Estrella hielt Lucia fest. »Du hältst mich nicht für…«
Lucia zog die Augenbrauen hoch. »Abartig? Verrückt?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich auch nicht von Gott so abgewandt habe, wie du, bin ich kein verbohrter Pfaffe. Ich zündele nicht an Scheiterhaufen.«
Estrella nahm das Glas mit dem Orangensaft von dem kleinen, geschnitzten Beistelltisch. »Jetzt sag mir doch, wie ihr überhaupt auf Neu Orlean gekommen seid und…«
Lucia legte ihr den Finger auf die Lippen. » Tsscht!« machte sie. »Bedanke dich bei Catherine, Op Boven und Joan Labeth. Die Schwester berichtete kurz die Zusammenhänge, wie Labeth mit Op Boven dann auf den raschesten Weg nach San Luca gesegelt war.
»Erst hat dieser Pfeffersack mich verraten und dann gerettet. Na – die Peitsche hat ihm recht getan.«
Lucia lachte auf. »Stimmt! Ich bedauere auch keinen Hieb, den er einstecken musste. Aber jetzt ist er bekehrt und ein treuer Freund. Er würde dir gerne die Fußsohlen küssen und Abbitte leisten.«
»Na gut – wir werden sehen. Wo habt ihr den Dreimaster her?«
Die Gouverneurin von San Luca zuckte die Achseln. »Gekapert! Rein zufällig. Ich dachte mir, dass du eine neue SILVER STAR benötigst.«
»In dir steckt mehr Piratenblut, als ich dachte.« Estrella grinste.
Lucia schaute auf.
»Da kommt Helen.«
Estrella blickte über die Schulter. Dann streckte sie die Hand aus. »Schön, dass du da bist.« Dann nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. »Wie hast du die Folter nur ausgehalten?!«
»Halb so schlimm. Dir erging es dreckiger. Ciraque ist ein Sadist!«
»Ja«, kam es knurrend von der Corsarin. »Ich werde ihn an seinem Schwanz aufhängen, wenn ich ihn kriege.«
Lucia machte eine bedauernde Geste. »Leider ist er uns entwischt.«
Helen gab Estrella einen liebevollen Kuss. Lucia erhob sich aus ihrem Rattansessel. »Dann gehe ich mal wieder an meine Arbeit.«
Estrella hielt sie zurück. »Ich möchte das Schiff besichtigen.«
Ihre Schwester schaute auf sie herab. »Später, Liebes. Wenn du dich genügend erholt hast. Deine Verwundung…« sie deutete nach unten – »Ist nicht spaßig. Der Dorn des Rades hätte um ein Haar die Gebärmutter zerrissen.«
Estrella erschauerte.
Helen streichelte sie. »Es ist vorbei. Werde wieder ruhig.«
Die Tage vergingen und Estrella erholte sich zusehends. Der alte Bush besuchte sie jeden Tag und besprach die Zukunft. Nach zehn Tagen genehmigte Lucia eine Besichtigung der neuen SILVER STAR.
Die Corsarin zeigte sich begeistert. Helen führte sie herum.
»Schau dir die Kajüte an! Sie ist weit größer als die auf dem alten Schiff.« Begeistert, mit glänzenden Augen hatte Helen die Tür geöffnet. Estrella kam nicht umhin ihr zu sagen, dass das Schiff einfach toll war.
»Geringer Tiefgang, das ist gut. So können wir weiter den Fregatten und Galeonen ein Schnippchen schlagen!«
Sam Bush hatte die Hände auf das gewaltige Doppelruderrad gelegt.
»Zwei bis drei Leute können bei Sturm hier manövrieren. Jetzt benötigen wir noch eine neue Mannschaft.«
Nach weiteren vier Tagen hatte er diese Mannschaft zusammen. Junge Leute aus San Luca und New Vernango, die gerne einmal das Abenteuer zur See suchen wollten. Doch die Corsarin blickte bei einigen skeptisch.
»Wie sieht es mit der Kampfausbildung aus?«
Bush machte eine vage Bemerkung.
»Es nützt uns nichts, mittelmäßige Seeleute auf dem Schiff zu haben, die beim Entern besiegt werden.« Estrella schürzte die Lippen. »Mr. Bush – bilden sie die Leute aus. Wir nehmen uns noch eine Woche Zeit. Dann werde ich sie testen. Wer gut ist, bleibt. Dann unternehmen wir eine Probefahrt.«
Der Alte nickte. Er wusste, dass sein Lady-Captain Recht hatte.
Der erste Offizier nahm seine Aufgabe sehr genau. Mehrmals hörte man ihn weit bis in den Ort fluchen, wenn etwas nicht so funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte. Helen unterstützte ihn bei der Ausbildung.
Endlich war der Zeitpunkt gekommen, an dem Estrella prüfen wollte, was die neue Mannschaft zu leisten bereit war.
Mit Lucia gemeinsam begab sie sich zum Schiff. Sam Bush und Helen hatten die Mannschaft in einer Reihe antreten lassen.
»Zwanzig Leute«, bemerkte Lucia leise zu ihrer Schwester. »Das ist im Ernstfall knapp.«
Die Corsarin winkte ab. »Wenn sie gut sind, reichen sogar weniger.«
Estrella betrat in Begleitung von Lucia das Deck. Helen kam ihr entgegen.
»Alles angetreten, Capitano«, rief sie.
»Danke, Commodore«, erwiderte sie.
Die Corsarin schritt die Reihe der Männer ab. Vor einem sehnigen, schlanken Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren blieb sie stehen.
»Henry«, sagte sie. »Zieh dein Hemd aus und nimm den Degen. Ich treffe dich in drei Minuten oben auf der obersten Rahe. Steuerbord!«
»Ay, ay«, kam es zurück und er sprintete los. Lächelnd blickte die Corsarin ihm nach. Dann lief sie zum Mittelmast, streifte die Halbstiefel ab und wollte in die Wanten klettern. Helen hielt sie zurück.
»Estrella! Nicht! Das schaffst du noch nicht!«
Die Corsarin funkelte sie zornig an. »Bin ich ein altes Weib, das zu nichts mehr taugt?«
Helen atmete tief durch. »Unsinn! Aber deine Verletzungen sind noch nicht ausgeheilt.«
»Ich habe keine Zeit fürs Altenheim! Geh mir aus dem Weg!«
Ehe Helen etwas unternehmen konnte, wieselte die Corsarin aufwärts. Lucia hielt Helen am Arm fest. »Lass sie! Sie ist ein Dickkopf. Wie Albany – unsere gemeinsame Mutter.«
Trotz der Sorge um Estrella huschte ein warmes Lächeln über Helens Antlitz.
»Da hast du Recht…« Sie stockte. Lucia blickte sie fragend an.
Helen schlug die Augen nieder und fragte leise: »Darf ich dich auch Schwester nennen?«
Die Gouverneurin umarmte sie. »Ich bin deine Schwester! Wenn wir auch nicht den selben Vater hatten.«
Oben auf der Rahe standen sich Henry und Estrella mit gezogenen Degen gegenüber. Alle Augen richteten sich in die Höhe.
»Wir haben unseren Lady-Captain zurück«, brummte Bush zufrieden.
Estrella ging Henry mit der Waffe an. Der parierte.
»Ausgezeichnet!« rief die Corsarin. »Jetzt das!« Sie stieß vor. Henry schwankte leicht, konnte aber den Stoß abwehren. Estrella zog alle Register, doch der junge Mann hielt sich tapfer.
Endlich hielt die Corsarin inne. Sie runzelte die Stirn. »Bei wem hast du das gelernt?«
»Beim Commodore.«
Estrella lächelte. »Das ist gut.«
»Darf ich etwas anmerken, Capitano?«
Die Corsarin legte den Kopf etwas schief. »Nur zu.«
»Sie ist eine tolle Frau. Ich habe große Achtung vor ihr.«
Als er sah, dass Estrella die Augenbrauen ein wenig anhob, setzte er rasch, leicht stotternd nach: »Vor euch natürlich auch, Capitano.«
»Das möchte ich dir auch geraten haben!« Sie lachte auf und schoss mit dem Degen nach vorn. Henry parierte auch diesen Stoß.
»All right – das reicht. Schick mir den nächsten nach oben.«
»Jawohl, mein Captain!«
Sie sah dem Jungen nach, wie er sich nach unten gleiten ließ. Sie wusste, dass er ein guter Freibeuter werden würde. Daher würde sie sich ihm besonders annehmen.
Der gesamte Test nahm noch etwa eine Stunde in Anspruch, dann ließ sich die Corsarin auf das Deck hinab. Ihre Stiefel ließ sie unbeachtet stehen, als sie Helen und Sam Bush zu sich winkte.
»Morgen bei Sonnenaufgang laufen wir zur Testfahrt aus!«
Blutrot ging die Sonne über San Luca auf.
Die Segel der SIVER STAR II blähten sich. Estrella stand neben dem Rudergänger.
»Zwei Strich Backbord«, sagte sie knapp.
Vorsichtig fuhr der Segler auf das offenen Meer zu. Im Ausguck saßen zwei Mann.
»Meldet mir jedes Schiff! Egal, welche Flagge ihr erkennt oder ob noch keine Nationalität erkennbar ist«, hatte sie befohlen.
Helen stand mit Sam am Bug. Der Wind frischte auf und das Schiff legte an Fahrt zu. Die Corsarin ließ vier Meilen fahren, dann rief sie: »Wendemanöver!«
»Ay, ay!« kam es vom Ersten zurück.
Die SILVER STAR II legte sich über und wendete fast auf der Stelle.
»Ein gutes Schiff«, erklärte die Corsarin eine Stunde später gegenüber Helen.
Diese nickte. »Ja – Lucia hat ein gutes Auge bewiesen.«
Estrella grinste spitzbübisch. »Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Na ja – ein bisschen von unserer Mutter muss sie auch geerbt haben. Der SCHWARZE CORSAR war ja eine Legende, die man in allen Hafenkneipen erzählte.«
Helen lehnte sich an die Reling. »Wie denkst du über Catherine?«
»Unser französisches Täubchen?« Die Corsarin kicherte. »Ihr fehlt noch der letzte Schliff, meine Liebe. Eigentlich könnten wir ihn ihr jetzt geben.«
Helen setzte ein fragendes Gesicht auf. »Wie meinst du das?«
Estrella schaute nach hinten, wo Catherine ins Wasser starrte.
»Sie will doch eine von uns werden.«
Helen konnte das nur bestätigen.
Ihre Schwester schlug ihr auf die Schulter. »Schick sie in die Wanten. Barfuss natürlich.«
»Was soll sie da?«
Die Corsarin deutete nach oben. »Siehst du dort am äußersten Rand der Rahe die beiden Tauenden?«
Helen sah sie.
»Sie soll sie neu verknoten«, bestimmte Estrella.
Helen rief Catherine zu sich und gab ihr den Auftrag. Etwas verunsichert schaute sie nach oben. »Dort am Ende…?«
Helen stemmte die Arme in die Seiten. »Nun mach schon! Runter mit den Schuhen und rauf! Oder haben französische Commodore das nicht nötig?«
Catherine wirkte noch verunsicherter. »Das weißt du? Nun gut – aber weshalb ohne Schuhe?«
»Himmel Kind – damit du dort oben sicherer stehst. Über die Sohlen nimmst du die Bewegung des Schiffes besser wahr. Lange her, dass du selbst oben warst, wie?!«
Zögernd zog die Französin die Schuhe aus und tappte auf nackten Füßen nach Backbord.
Estrella verdrehte die Augen. »Mierda!« knurrte sie und riss sich die Stiefel herunter. Dann stand sie schon neben dem Mädchen. »Los! Komm mit!«
Dann jagte sie aufwärts. Catherine hielt einen Moment inne, dann zeigte sie, was in ihr steckte.
In kurzer Zeit hatte sie Estrella überholt, lief freihändig balancierend zum äußersten Ende der Rahe und verknotete geschickt die Tauenden.
»Ausgezeichnet«, kam es ruhig von der Corsarin, die nun ebenfalls über die Rahe lief.
Catherine sah ihr abwartend entgegen.
Estrellas Augen zogen sich zusammen. Mit einem gefährlichen Unterton fragte sie: »Denkst du nicht, dass du mir noch eine Erklärung schuldig bist?«
»Eine Erklärung?« Die Französin legte den Kopf schief und glich geschickt durch eine Hüftbewegung das Schwanken des Schiffes aus.
»Der Mann, den du getroffen hast, nannte dich Commodore.«
»Korrekt«, kam es kurz zurück.
»Commodore von was?«
»Von der Widerstandsbewegung SCHWARZE MÖVE .«
Es schien, als verliere die Corsarin für einen kurzen Moment den Halt.
»Du gehörst…«
Catherine lachte. »Ich habe dich auch in deiner Verkleidung nicht erkannt.«
»Sarah Corell!« hauchte Estrella. Unwillkürlich musste sie eines der Seile ergreifen.
Catherine alias Sarah Corell lachte nun vergnügt auf. »Mich wundert, dass du mich später auf deinem Schiff nicht erkannt hast. Aber du zeigtest keinerlei Interesse an mir.«
Der Mund der Corsarin öffnet sich und schloss sich wieder. Endlich quetschte sie hervor: »Sarah Corell – die geheimnisvolle Anführerin des Sabotagetrupps, der den Franzosen schon oft das Leben zur Hölle gemacht hat.«
Die Frau kicherte nickend. »Tja – so manches Schiff lag plötzlich auf dem Grund, weil meine Leute es angebohrt hatten.«
Helen und Sam verfolgten von unten mit Unverständnis das, was da oben vor sich ging. Große Augen machten sie, als die Corsarin und die Französin sich umarmten.
Alsbald ließen sie sich an Deck herab. Hand in Hand kamen sie auf Helen und Sam zu.
»Darf ich vorstellen«, begann Estrella. »Das ist die Chefin der legendären Widerstandsgruppe SCHWARZE MÖVE. Jetzt sei unseren Feinden Neptun gnädig.«
Die Corsarin wendete ihr Antlitz dem Wind zu und rief dann aus:
»Ihr Götter der Winde und der Wasser! Hört mich an! Die Corsarin kehrt zur See zurück! Freiheit für die NEUE WELT!«
E N D E
Das Abenteuer geht weiter
Band 2
Die Depesche des Königs
Nachdem Washington vor dem Verrat gewarnt werden konnte und man auf ALBANY die Vorräte aufgefrischt hat – will Estrella ihre Schwester Lucia zurück nach SAN LUCA BAY bringen. Eine Reise um das Kap Horn (den Panama-Kanal gab es noch nicht) in den Pazifik. Von dort die Küste Südamerikas und Mittelamerikas entlang in den Kalifornischen Golf. Eine gefährliche Route. Die SILVER STAR gerät in eine Falle von Sklavenjägern. Zwar kann der Angriff abgewehrt werden, aber Lucia wird während des Kampfes verschleppt. Estrella und Helen nehmen die Verfolgung auf, verlieren in einem Sturm aber die Fährte. Der Zufall weist eine Spur nach Frankreich – nach Paris an den Hof des Königs.
Steckt Marie-Jeanne Dubarry – die Mätresse Louis XV dahinter? Eine vom König gegengezeichnete Depesche der Dubarry führt die Corsarin auf Lucias Spur und in ein haarsträubendes Abenteuer.