Die Depesche des Königs



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Albany.
Vier Monate nach den bisher geschilderten Ereignissen.

Das Stadthaus zeigte sich bis zum letzten Platz gefüllt. Vorn auf einer bühnenartigen Plattform stand Estrella Avilla de Aragon.
„Ich bin froh, dass diese Insel bisher nicht wieder von unseren Feinden entdeckt worden ist“, erklang ihre Stimme laut und deutlich bis in den hintersten Winkel des Saales. „Trotzdem dürft ihr in euerer Sorgfalt nicht nachlassen. Dieser Unterschlupf – meine Freunde – ist der einzig sichere Ort für euch.“
Zustimmendes Gemurmel drang an das Ohr der Corsarin. Sie fuhr fort:
„Jaques Desny hat bisher als Ortsvorsteher, nach den Ereignissen damals, sein Amt hervorragend ausgefüllt. Doch heute hat er mich gebeten, ihn davon zu entbinden. Er fühlt sich zu alt für diese Verantwortung.“
Protestrufe wurden angestimmt. Estrella hob die Arme.
„Wir sollten Jaques Entschluss respektieren. Er wird seinem Nachfolger immer beratend zur Seite stehen.“
Sie winkte den alten Mann zu sich auf die Bühne. Mit leicht gebeugtem Gang stieg er die schmalen Holzstufen hinauf. Die Augen in seinem von den Wintern des Lebens zerfurchten Gesicht blickten wach und intelligent auf die Menge.
„Hört zu Leute“, sprach er mit kräftiger Stimme. „Ich bin jetzt vierundachtzig Jahre alt. Kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Aber Zeit, das Ruder an jüngere Leute zu übergeben. Ich denke, ich habe auch die richtige Person für meine Nachfolge ausgesucht. Jemand mit viel Verstand und großem Verantwortungsgefühl. Jemand, der das Herz auf dem rechten Fleck hat.“
Er machte eine Pause und schaute über die Köpfe der Bewohner von ALBANY hinweg. Dann erstrahlte sein Gesicht in einem Lächeln. „Als Nachfolge, meine Freunde, empfehle ich euch Francoise Vernelle.“
Einige Sekunden der Verblüffung senkten sich über den Saal. Dann schwoll das Gemurmel an. Endlich rief einer der Männer: „Eine Frau soll in ALBANY bestimmen? Unmöglich!“
„Ach ja?“ kam es von Jaques Desny. „Seit langem bestimmt schon eine Frau über die Insel. Ohne sie, gäbe es unsere Heimat überhaupt nicht. Oder haltet ihr Estrella für einen Elefanten?“ Er kicherte und das steckte die Leute an.
Dann kamen die Zustimmungsrufe.
Die Corsarin war in den Saal hinunter gegangen und kehrte nun mit einer zierlichen, schwarzhaarigen Frau zurück. Doch wer ihr in die Augen sah, der erkannte sogleich, dass sie Durchsetzungsvermögen ausstrahlten.
„Hiermit setze ich Kraft meiner Autorität Francoise als meine Stellvertreterin und Ortsvorsteherin dieser Gemeinde ein“, rief die Corsarin.
Damit war die Diskussion abgeschlossen.
Als die Dämmerung einbrach, wurden auf dem Platz vor dem Stadthaus Feuer entzündet. Alles traf sich zu Musik, Tanz und gutem Essen.
Irgendwann in der Nacht nahm die Corsarin Helen bei Seite.
„Lass die SILVER STAR klar machen. Bei Sonnenaufgang laufen wir aus. Es soll aber von den Bewohnern hier keiner merken.“
Auf Helens fragenden Blick bemerkte sie leise: „Ich hasse diese Abschiede.“
„Die Leute lieben dich, Estrella. Du bist für sie so etwas wie eine Göttin.“
Die Corsarin nickte. „Eben deshalb! Auch ich liebe diese Menschen hier. Daher möchte ich ohne Aufsehen verschwinden. Es gibt viel zu tun auf dem Meer.“
Mit diesen Worten verschwand sie in der Menge, wo sie gleich wieder von vielen Frauen und Männern umringt wurde.
Helen sandte ihrer Schwester ein stilles Lächeln hinterher. Dann machte sie sich auf den Weg zum Schiff. Dort traf sie den alten Sam. Der hielt nicht viel von der Feierei.
„Mögen sie Estrella die Füße küssen“, hatte er vorher gesagt. „Ich will von dem Trubel nichts wissen.“
Als er nun Helen sah, stand er von dem alten Fass auf, auf dem er gesessen hatte.
„Ist was passiert?“
Helen verneinte. „Estrella will bei Sonnenaufgang auslaufen. Ohne Brimborium!“
Der Erste grinste. „Sieht dem Mädel wieder mal ähnlich. Sie mag diesen Tumult um ihre Person nicht. Außerdem zieht es sie wieder auf’s Meer. Sie lechzt danach, verfluchte Inglis und Franzmänner auf den Grund zu jagen.“
Er legte Helen den Arm um die Schulter. „Dann werden wir unsere gute Lady hier mal klar machen!“
Als die Sonne aufging, befand sich die SILVER STAR auf dem Meer.
Helen stand am Bug und ließ sich den Wind um die Ohren wehen. Die Corsarin hatte selbst das Ruder übernommen. Es trieb sie zu den Schiffsrouten der Engländer. Dort wollte sie zuschlagen. Wie ein Phantom.
So wie früher!
Der halbe Tag verging. Nur zweimal meldete der Ausguck im Krähennest ein anderes Schiff. Doch die Corsarin winkte jedes Mal ab.
„Es ist zu weit.“
Erst gegen den späten Nachmittag zu tat sich etwas, was die Aufmerksamkeit Estrellas an sich zog.
Sie stand zusammen mit Helen im vorderen Bereich der Steuerbord-Reling, als der Ruf „Schiff voraus!“ ertönte.
Sie zog Helen mit sich. „Komm! Das sehen wir uns an!“
Da sie keine Stiefel trugen, konnten sie ohne Verzug den Mast entern. Durch das Fernrohr erkannten sie ein großes Schiff.
Helen setzte verblüfft das Glas ab. „Das gibt’s doch nicht…“
„Hm“, kam es mehr grunzend von der Corsarin. „Eine französische Strafgaleere. Vermutlich auf dem Weg zu den südamerikanischen Plantagen.“
Sie stellte das Fernrohr schärfer ein. Bald konnte sie die Flagge gut erkennen.
„Sehen wir es uns von der Nähe an?“ wollte Helen wissen.
Estrella wirkte etwas unschlüssig. „Na ja…mal sehen, wen man vielleicht davon gebrauchen kann. Möglicherweise haben wir einen Haufen stinkender, dreckiger Mörder am Hals, die wir nicht wieder loswerden.“
Helen fuhr sich mit den Schneidezähnen über die Unterlippe. „Die Galeere ist nicht besonders bewaffnet. Wir schauen, was wir brauchen können. Kettet die Aufseher mit an die Ruder und lasst sie weiter fahren.“
Estrella schätzte die Entfernung ab. „Etwa zwei Meilen. Wenn sie keinen Ausguck im Mast haben, können wir uns noch anschleichen.“
Sie rutschte zum Deck herunter.
„Mr. Bush – wir nehmen uns die Galeere vor. Schlagen sie einen Bogen nach Steuerbord. Wir müssen dann im spitzen Winkel auf sie zulaufen. Der Franzose läuft auf die Ausläufer der Möweninsel zu. Wir fahren südlich hinter den Inseln vorbei – bleiben so gedeckt – und packen ihn uns dann.“
Bush lachte. „Der Plan gefällt mir. Ay, ay Lady Captain!“
Hart am Wind glitt die SILVER STAR auf die Inselgruppe zu. Außer Sichtweite der Galeere.
„Mr. Bush!“ rief Estrella. „Lassen sie volle Leinwand setzen. Jede Unterhose – wir brauchen mehr Fahrt!“
„It’s clear!“ rief der Erste zurück und jagte seine Jungs in die Wanten.
Helen blickte auf den Griff ihres Degens. „Ich denke, dass dieser Schiffstyp sechs Mörser an jeder Seite aufzuweisen hat.“
Die Corsarin warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Unser Zusammentreffen scheint ein wahrer Glücksgriff des Schicksals gewesen zu sein.“
Helen lachte und fuhr ihr mit der Hand über den Oberarm. „Vielleicht hat unsere Mutter aus dem Jenseits nachgeholfen.“
Estrella verzog das Gesicht zu einer abweisenden Grimasse. „An solchen Unsinn glaube ich nun wirklich nicht!“
Helen legte den Kopf schief. „An das Jenseits oder das Schicksal?“
Estrella machte eine ausholende Armgestik. „An beides nicht.“
„Hast du nie darüber nachgedacht, dass bestimmte Dinge – die wie zufällig erscheinen – später einen tieferen Sinn ergeben haben?“
„Hm“, Estrella blickte über die weite Meeresfläche. „Schon…“ kam es zögernd. „Aber…“ Sie winkte ab. „Quatsch! Das ist was für alte Kirchenweiber!“
„Weshalb so verbittert?“ wollte ihre Schwester wissen. „Das kann nicht nur an deinem Erlebnis in England liegen.“
„Nein!“ kam es unwirsch zurück. „Die Ermordung meiner Eltern…und noch andere Dinge spielen eine Rolle dabei. Vieles geschah unter dem Deckmantel des Glaubens und der Kirche.“ Sie wandte sich ab. „Ich möchte jetzt nicht darüber reden.“
Damit richtete sie ihren Schritt zum Aufgang des Oberdecks.
Eine dunkle Wolkenwand zog von Westen auf. Bush machte Helen darauf aufmerksam.
„Das kommt uns zu Gute, Sam. So eine Galeere hat dann enorme Probleme, weil nicht gleichmäßig gerudert werden kann. Die Wellen lenken die Ruder aus der Bahn. Also muss der Kapitän die Fahrt verlangsamen.“
Der Alte lächelte. „Du kennst dich wirklich aus, Mädel. Du und Estrella…wenn ihr zusammenhaltet, seit ihr unschlagbar.“
Helen umarmte den Alten und drückte ihm einen Kuss auf seine bartstoppelige Wange.
„Schiff an Backbord voraus!“ rief der Ausguck.
Tatsächlich tauchte da die französische Galeere hinter einem Felsvorsprung auf. Die Corsarin sprang die Treppe des Oberdecks herab und rief ihre Befehle.
Inzwischen frischte der Wind enorm auf und der Himmel verdunkelte sich. Die ersten Blitze zuckten.
Die SILVER STAR näherte sich der Galeere.
„Kanonen klar machen! Pistolen laden!“ schallte Estrellas Stimme über das Deck.
Jetzt hatte man sie gesehen. Hektisches Getriebe zeigte sich an Deck des Franzosen.
Helen kicherte. „Aufgeregte Leute. Sie wissen nicht, wie sie uns einordnen sollen.“
Estrella stieß sarkastisch hervor: „Gleich werden sie es wissen. Rote Flagge!“
Als das blutrote Banner oben knatterte, vernahm man Schreckensrufe von der Galeere. In aller Eile wurden dort die Kanonen für den Einsatz bereit gemacht. Doch da donnerte die Stimme der Corsarin:
„Breitseite kurz über die Wasserlinie!“
Die SILVER STAR schwankte nach Steuerbord. Die Detonation der zwölf Geschütze drohte die Trommelfelle zu sprengen. Eine gewaltige Rauchwolke breitete sich über der Galeere aus.
„Scharf Backbord!“ schrie Estrella.
Der Rauch verzog sich. Die Spitze des Corsarenschiffes rammte den Franzosen.
„E n t e r n !“ Überlaut, für jeden hörbar, schallte es von der SILVER STAR.“


Das ist ja eine hübsche Bagage!“
Die Corsarin hatte sich vor den verängstigt schlotternden Franzosen aufgebaut. „Jetzt pisst mir nicht vor Schreck hier auf’s Deck.“
Helen und Sam Busch hielten die Besatzung mit ihren Pistolen in Schach. Ein Teil der SILVER-STAR - Mannschaft durchsuchte die Galeere. Plötzlich kam Pietro, der zweite Bootsmann, aufgeregt zu seinem Lady-Captain.
„Da unten…da…“ begann er stotternd.
Estrella schaute den kleinen Spanier amüsiert an. „Was ist da unten, Pietro? Hast du den Klabautermann gesehen?“
Der Mann schüttelte mit großen Augen den Kopf.
Helen machte sich bereits auf den Weg zum unteren Decksbereich. Als sie die schmale Treppe hinunter sprang – den Degen abwehrbereit – kamen die Ruderbänke rasch in ihr Blickfeld. Sie hörte das Rasseln von Ketten.
Dann blieb sie wie angewachsen stehen. Vor Erstaunen klappte ihr der Mund auf.
„Heiliger Dyonisos…“ entrann es ihr.
„Was gibt…?“ Estrella, die ihr gefolgt war, verhielt mitten im Reden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das, was sie sah, aber nicht zu glauben vermochte.
Auf den Ruderbänken – verteilt auf zwei Halbdecks – saßen schmutzig, verschwitzt und angekettet etwa dreißig Menschen. Verstörte Blicke unter verfilztem Haar trafen die Corsarin und ihren Commodore.
„Frauen“, kam es wie ein vom Winde verwehter Hauch von Helens Lippen.
Die Corsarin räusperte sich. „Bei Neptun!“ kam es kratzig über ihre Stimmbänder.
Estrella und Helen schritten über einen schmalen Steg, der die einzelnen Gefangenendecks trennte. Ihre Lippen pressten sich zusammen, als sie auf den völlig nackten Körpern die verkrusteten und teils auch frischen Peitschenstriemen sahen.
„Mierda!“ zischte die Corsarin. „Französische Bastarde!“
Helen beugte sich zu einer Frau hinunter, der die pechschwarzen Haare wirr und verknotet bis ins Gesicht fielen. Zwischen den Strähnen blitzten dunkle, feurige Augen.
„Weshalb bist du auf diesem Schiff?“ fragte sie mit leiser, weicher Stimme.
Die Gefangene hob ein wenig den Kopf. Ihre vom Rudern schwieligen und an manchen Stellen wunden Hände zuckten leicht in den Ketten.
„Ich bin anderer Ansicht gewesen als der Bischof von Ruon“, kam es monoton.
Helen stutzte einen Moment ob dieser Antwort, dann machte sie: „Aha.“
Estrella hatte ihre Sprache noch nicht wieder gefunden. Man merkte der sonst hartgesottenen, nicht gerade zimperlichen Corsarin an, dass sie diese Situation überforderte.
Sie ließ die leicht flackernden Augen über die Menge der Gefangenen schweifen. Aus vielen Ecken trafen sie flehende und auch hoffnungsvolle Blicke.
Auf der Treppe vernahm man schwere Schritte. Es war Sam Bush. Stocksteif blieb er plötzlich stehen.
„Deibel!“ stieß er hervor und strich sich verdattert über den Bart.
Estrellas Rücken straffte sich.
„Mr. Bush – lassen sie die Frauen auf die SILVER STAR bringen. Dann lassen sie den Kapitän auspeitschen und versenken den verdammten Kahn.“
In dieser Anweisung spiegelte sich Estrellas gesamter Hass wieder.
Noch völlig verstört blickten die Galeerensträflinge zu, wie zwei Stunden später – nach zwei weiteren Breitseiten aus den Kanonen des Corsarenschiffes - die Galeere gurgelnd in den Fluten versank.
Einige Franzosen, die schwimmend versuchten aus dem Sog des untergehenden Wracks herauszukommen, wurden von Estrella ignoriert.
„Volle Leinwand, Mr. Bush!“ kam es von der Corsarin. „Kurs Süd!“
Die SILVER STAR drehte sich in den Wind und nahm Fahrt auf.
Helen kümmerte sich um die Frauen. Der Bootsmann übernahm die Aufgabe, die Ketten zu entfernen. Wunde Hand- und Fußgelenke zeigten sich als Zeugen vergangenen Martyriums.
Die Frauen wurden in drei Gruppen aufgeteilt und als das Schiff einige Meilen zurückgelegt hatte, ließ Helen die Segel reffen.
In den Wanten und an der Reling verteilte der Erste einige Männer mit Musketen. Sie sollten auf Haie achten. Dann forderte Helen die Frauen auf, jeweils eine Gruppe nach der anderen im Meer zu baden.
„Aber entfernt euch nicht vom Schiff. Wir haben unruhige See. Wenn sich auch das Gewitter wieder verzogen hat, bleibt es gefährlich.“
Am frühen Abend türmten sich neue pechschwarze Wolkenbänke auf und der Horizont leuchtete unter zahlreichen bizarren Blitzen.
Auf Befehl Estrellas war im Bauch des Schiffes ein Bereich notdürftig als Unterkunft eingerichtet worden, sodass die befreiten Frauen ordentlich schlafen konnten. Der Wundarzt kümmerte sich um die geschunden Körper.
Helen sprach mit dem Segelmacher. Der schnitt aus einem alten Foggsegel Streifen, sodass die Frauen sich wenigstens rockähnliche Kleidungsstücke fertigen konnten.
Der Smutje tat sein Bestes, um den Befreiten eine einigermaßen brauchbare Mahlzeit zu bereiten.
Gegen die Mitte der Nacht setzte schweres Wetter ein. Die SILVER STAR rollte.
„Hoffentlich kotzt uns unten keiner die Bude voll“, knurrte Estrella. Helen schaute sie leicht schelmisch an. „Dann kannst du mit denjenigen ja dieselbe Rosskur veranstalten, wie mit mir damals.“
Die Corsarin lachte hart. „Es hat doch gewirkt, Schwesterherz.“
Um Mitternacht kreischte der Sturm förmlich in der Takelage. Die Geister des Meeres schienen Reigen zu tanzen.
Bush ließ bis auf drei Segel, die Leinwand entfernen. Zwei Leute mussten das Steuer halten.
Helen klammerte sich in der Kajüte an einem Balken fest, während Estrella die Seekarte bei flackerndem Talglicht studierte.
„Wir müssen diese kleine Insel hier in zwei Stunden erreichen können“, rief sie durch das Sturmbrausen. „Dort existieren zwei kleine Buchten, die uns Schutz geben können.“
„All right!“ rief Helen und zog ihre Stiefel aus. Estrella, die das sah, fragte: „Was gibt das?“
„Ich will an Deck und barfuss habe ich in der Nässe mehr Halt.“
Die Corsarin pfiff durch die Zähne. „Nicht schlecht überlegt.“
Sie warf ebenfalls ihre Stiefel weg und dann betraten sie das Deck. Sogleich ergriff sie der Sturm.
Es knarrte und wimmerte in der Takelage. Sam Bush hatte sich an der Reling festgebunden. Immer wieder schwappten die Wogen über die Planken. Zwei Rudergänger stemmten sich in das Doppelrad.
Eine Taurolle rutschte in affenartiger Geschwindigkeit über das Deck – Estrella konnte eben noch darüber hinweg springen. Helen stürzte und wurde von einer anrollenden Welle erfasst. Sie schrie auf. Unaufhaltsam trieb es sie nach Steuerbord. Mit entsetzten Augen verfolgte die Corsarin die Rutschpartie. Helen musste unweigerlich von Bord gespült werden.
„H e l e n !“
Estrellas ganze Verzweiflung legte sich in ihren Schrei.
Die genannte ruderte wild mit den Armen.
Da!
Sie fand Halt an einem Haken. Er diente normalerweise dazu, Entertaue zu befestigen. Ihre Finger krallten sich in die Öse. Sie glaubte, die ganze Hand würde ihr abgerissen. Blut quoll zwischen den einzelnen Fingergliedern hervor.
Da legte sich die SILVER STAR nach Backbord über. Helen wurde zurück auf den Mast zu geschleudert. Schmerzhaft schlug sie mit dem Kopf an. Völlig benommen suchte sie neuen Halt auf dem Deck, als das Schiff zurückschwankte.
Da stand die Corsarin bereits neben ihr, ergriff ihren linken Arm und hielt sich selbst an einem Haken fest, der aus dem Mast ragte. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr, sich beide mit einem Tau zu sichern.
„Uff!“ machte Estrella. „Das war knapp!“
Helen warf ihr einen warmen, dankbaren Blick zu.
„Jetzt hast du mir das Leben gerettet“, kam es über Helens Lippen, halb vom Sturm fortgerissen.
Trotz der Situation lächelte die Corsarin. „Ich werde meine Schwester doch nicht zu den Haien schicken.“
„Mr. Busch!“ schrie sie dann. „Wir brauchen mehr Leinwand!“
Der Alte schaute durch den Nässeschleier zu seinem Captain herüber. Hatte er das richtig verstanden? Die Masten ächzten doch jetzt schon.
„Captain?“ kam es denn auch zweifeln zurück.
„Mehr Leinwand, Mr. Bush“, wiederholte die Corsarin. Sie stemmte sich mit beiden Beinen gegen die Schieflage des Schiffes. „Der Sturm wird härter. Wir müssen Shackle Island erreichen, bevor der Hurrikan uns erwischt!“
Tatsächlich zeigte sich die SILVER STAR eingehüllt in pechschwarze, scheinbar pulsierende Wolken. Jeder Seemann konnte diese Zeichen deuten.
„Ay, Captain!“ kam es vom Ersten. Dann versuchte er über das auf- und ab- schwankende Deck zu seinen Männer zu gelangen.
Da trat völlige Stille ein.
Kein Windhauch. Kein Regen. Das Schiff schien zu verharren.
Die Corsarin blickte zum Himmel hoch. Ein weites, dunkelblaues Loch war zu sehen. Sterne blinkten hindurch.
Auch Helen wusste, was das bedeutet.
„Gott steh uns bei“, flüsterte sie.
Estrella wandte hektisch den Kopf. „Mr. Bush! Schicken sie Leute auf die Masten. Viertel Leinwand! Es wird einen mächtigen Stoß geben. Sobald das Schiff sich wieder in die Wagerechte pendelt, will ich alles an Leinwand, was dieses verfluchte Schiff besitzt!“
Bush öffnete stumm wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund.
„Tun sie es einfach!“ herrschte die Corsarin in an.
Da kam wieder Leben in den Ersten.
„Was hast du vor?“ flüsterte Helen.
Estrellas Wangenmuskeln malten. Dann presste sie hervor: „Unseren Arsch retten!“
Dann kam es ohne Vorwarnung.
Die Segel blähten sich – strafften sich.
Das Schiff legte sich nach Backbord. Es neigte sich um 45 Grad…50 Grad…die Spitzen der Rahen berührten das Wasser.
Zwei Männer in den Wanten gerieten in Panik und stürzten ins Meer. Helen und Estrella klammerten sich mit Aufbietung all ihrer Kräfte an die Steuerbordreling. Ihre Füße schwebten über dem Deck. Der Rumpf knarrte und ächzte.
Dann – unendlich, Nerven zerreißend träge, richtete sich die SILVER STAR wieder auf.
„Volle Leinwand!“ Die Corsarin kreischte es bald.
Der Sturm griff voll zu! Zwei Foggsegel zerbarsten mit einem hellen Knall. Es glich einem Pistolenschuss.
„Voller Einschlag Steuerbord!“ schrie Estrella. Sie stieß sich von der Reling ab und raste zum Steuer. Gemeinsam mit den beiden Steuerleuten stemmte sie sich in das mächtige Ruderrad.
Die Todeswelle näherte sich. Es klang wie der ferne Weltuntergang – entfaltete sich zu einem drohenden Donnern – entwickelte sich zum Getöse – wie von einer riesigen Faust gepackt, stemmte sich das Schiff steil in die Höhe. Seile rissen und schleuderten Katapulten gleich über das Deck. Ein unvorsichtiger Seemann wurde getroffen. Wie eine reife Melone platzte sein Schädel auf…


Die sanften Wellen benetzten Helens Füße.
Estrella hatte ihre Kleidung abgelegt. In zweihundert Yards Entfernung lag ganz ruhig die SILVER STAR. Sam Bush und seine Jungs waren mit den Reparaturen der Sturmschäden beschäftigt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie einigermaßen heil die Bucht von Shackle Island erreicht hatten.
Leise rollte die milde Brandung an den Sandstrand. Die Corsarin hob die Arme weit zum Himmel und rief enthusiastisch aus: „Oh Neptun! Oh Astarte! Gibt mir die Kraft, die verfluchten Engländer von diesem Globus zu jagen!“
Helen kicherte. Sie kam auf ihre Schwester zu und meinte: „Nur die Engländer? Dein Hass bezog sich doch auch auf die Franzosen.“
Scharf zog Estrella die würzige Meeresluft durch die Nase ein. „Richtig – aber die Engländer sind meine Grundfeinde!“
„Es gibt so wunderbare Flecken Erde – wie dieses hier…hast du nie darüber nachgedacht, irgendwo vor Anker zu gehen?“
Die Mundwinkel der Corsarin zogen sich verächtlich nach unten. „Bin ich ein altes Weib, das mit einem Strickstrumpf vor ihrer Hütte sitzt? Erst wenn die amerikanischen Siedler frei sind – unabhängig sind – werde ich ruhen.“
Helen wollte etwas erwidern, als Lärm von der SILVER STAR herüber drang.
Estrellas Kopf zuckte in die Richtung.
„Was ist da los?“
Helen ergriff ihre Stiefel und lief los. „Wir werden es erfahren!“
Sie beeilten sich, das Schiff zu erreichen. Es lag etwa fünfzig Yards vom Strand entfernt. Die beiden Frauen bestiegen das Beiboot und ruderten los.
An Bord empfing sie ein groteskes Bild.
Zwei der Frauen, die sie von der Galeere befreit hatten, lieferten sich einen Ringkampf. Den Gesichtsausdrücken nach, hatte wohl keine von ihnen Skrupel, die andere umzubringen. Sie hatten ihre provisorisch geschneiderten Röcke verloren. Ihre Körper glänzten vom Schweiß.
Die umstehenden Männer und Frauen feuerten die beiden Kontrahentinnen an.
Gemütlich an die Reling gelehnt – seine Pfeife schmauchend – stand Sam Bush.
Als er seinen Lady-Captain und den Commodore sah, nahm er Haltung an.
Estrella zupfte ihre Bluse zurecht und baute sich vor dem ersten Offizier auf.
„Was geht hier vor, Mr. Bush?“ kam es messerscharf.
„Sorry, Captain. Eine Meinungsverschiedenheit.“
Estrellas Augen begannen unterschwellig zu glimmen. „Sie sind nicht in der Lage, so eine Keilerei zu unterbinden? Ich bin enttäuscht, Mr. Bush.“
Sie zog ihre Pistole aus dem Gürtel, spannte den verzierten Hahn und…
Die Detonation des Schusses ließ alle an Bord zusammen zucken.
Alle Augen waren nun auf die Corsarin gerichtet. Die beiden Kampfhähne ließen von einander ab.
Estrella ging zu ihnen hinüber und blickte auf die verschwitzten und verkratzten nackten Leiber.
Dann winkte sie ihren Ersten heran.
„Mr. Bush – die beiden Damen brauchen dringend eine Abkühlung. Bindet sie für zwei Stunden am Ruderblatt fest. Hoffen wir, dass kein Hai sich in die Bucht verirrt.“
Damit verschwand sie in ihrer Kajüte.
Helen grinste. „Viel Spaß“, kam es über ihre Lippen, dann enterte sie das Oberdeck.
Dort inspizierte sie die Reparaturarbeiten. Die Seeleute hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sie wusste, dass Estrella danach lechzte, wieder auszulaufen.
Helen prüfte den Wind. Er wehte sanft von Süd. Sie hoffte, dass es bis zum Abend auffrischen würde. Ihr Blick glitt den Hauptmast hinauf. Kurz entschlossen stellte sie ihre Stiefel ab und sprang in die Wanten. Wie ein Eichhörnchen turnte sie hinauf, ergriff ein loses Seil und schwang sich zum Hauptmast hinüber. In kürzester Zeit hatte sie die oberste Rahe des Mittelmastes erreicht. Sie zückte das Fernrohr und suchte den Horizont vor der Bucht ab.
Als sie den Blick nach Osten wandte, hielt sie inne. Sie erkannte zwei Schiffe. Es schienen Corvetten zu sein. Die Nationalität konnte sie nicht ausmachen. Was sie aber beunruhigte, war die Tatsache, dass sie auf Shackle Island zuhielten.
Sie machte es sich auf der Rahe einigermaßen bequem und beobachtete die Schiffe. Als die Schiffsglocke anzeigte, dass etwa eine halbe Stunde vergangen war, hatte Helen keinerlei Zweifel mehr. Die beiden Corvetten hielten genau Kurs auf die Bucht.
Helen ließ sich in Windeseile auf das Deck hinab und rannte zur Kajüte. Dort stieß sie beinahe mit ihrer Schwester zusammen. Diese sah sie mit erstaunten Augen an.
„Ist dir ein Meeresgeist begegnet?“ fragte sie leicht spöttisch.
Helen schüttelte den Kopf. „Das wäre kein Problem. Aber wir bekommen Besuch. Zwei Corvetten. Dem Bugaufbau nach Engländer. Sie laufen genau auf die Bucht, wenn sie nicht innerhalb der nächsten halben Stunde den Kurs ändern.“
Estrellas Zähne malten. Sie richtete ihre Augen unwillkürlich zur Einfahrt der Bucht. „Mierda!“ murmelte sie. „Wenn das stimmt, sitzen wir in einer Falle. Wir können das Schiff kaum drehen, um ihnen Breitseiten zu verpassen.“
„Zum Auslaufen reicht die Zeit nicht“, bemerkte Helen.
Estrella knetete nervös ihre Finger. „Wenn sie uns erkennen, können sie uns ganz genüsslich zusammenschießen, ohne dass wir auch nur die Spur einer Chance besitzen.“
Helen wirbelte herum. „Mr. Bush!“
„Commodore?“
Der Erste eilte heran.
„Holen sie die beiden…“ - sie deutetet nach hinten - „…Damen aus dem Wasser. Dann…“ Sie entwickelte ihm ihren Plan. Nur kurz huschte ungläubiges Staunen über seine Züge, dann lachte er auf und bemerkte: „Das könnte ein Spaß werden.“
Auf der SILVER STAR entwickelte sich emsige Tätigkeit. Estrella hantierte in der Kajüte. Auf dem Hauptmast wurde die dänische Flagge gesetzt.
Zwei Stunden später liefen die beiden Corvetten gemächlich, hintereinander, mit nur zum Viertel stehender Leinwand in die Bucht ein.
Am Bug der Schiffe sammelten sich Männer in roten Röcken. Kein Zweifel, es handelte sich um Engländer.
Sam Bush zupfte seinen grünen, mit blitzenden silbernen Knöpfen versehenen Gehrock zurecht, prüfte den Sitz seines Dreispitzes und lehnte sich dann – gemütlich seine alte Pfeife schmauchend – an die Steuerbord Reling.
Die restliche Besatzung stand oder saß – einigermaßen adrett – an Deck und schien den auf einem Schiff ab und zu notwendigen Beschäftigungen nachzugehen.
Niemand kümmerte sich großartig um die beiden ankommenden Schiffe.
Die Kapitäne der Corvetten ließen die Anker werfen. Dann wurde ein Beiboot zu Wasser gelassen. Der Kommandant des ersten Schiffes und fünf Soldaten ruderten zur SILVER STAR herüber.
Sam Bush schaute ihnen entgegen.
Als das Ruderboot noch etwa vier Yards von dem Corsarenschiff entfernt war, rief der Engländer:
„Sir! Wir sind von seiner Majestät Schiff, des Königs von England. Ich bitte an Bord kommen zu dürfen.“
„Gibt es dazu einen besonderen Grund?“ kam es in leicht gebrochenem Englisch zurück.
„Ich möchte mit ihnen sprechen. Es gibt zur Zeit viele Unsicherheiten in dieser Gegend.“
Sam Bush richtete sich auf. „So? Gibt es das? Sie haben doch Kanonen. Soviel ich weiß, ist mein König in keinen Krieg mit England verwickelt.“
„Richtig! Deshalb würde ich sie gerne kennenlernen. Von Kapitän zu Kapitän.“
Der Alte auf dem Corsarenschiff machte eine einladende Handbewegung.
„Kommt an Bord und lasst uns einen ordentlichen Tropfen Rum genießen.“
Der Engländer lachte.
„Das ist ein Wort, Sir.“
Estrella setzte das Fernrohr ab.
„Sam hätte Komödiant werden sollen.“
Sie und Helen lagen in guter Deckung auf einem Hang. Mit ihnen – gleichfalls gut versteckt – zehn Männer und die Frauen von der Galeere.
„Wenn ihr nicht wieder an die Franzosen ausgeliefert werden wollt“, hatte Helen ihnen eindringlich geraten, „dann haltet euch in Deckung und vor allem den Mund.“
Der englische Kapitän ging an Bord des Corsaren. Die Soldaten in ihrem Ruderboot entfernten sich ein Stück von dem Schiff.
Estrella war es aber nicht entgangen, dass sich vier Leute mit Musketen in die Tagelage der zweiten Corvette begeben hatten.
„Man geht auf Nummer Sicher“, brummte sie.
Plötzlich drückte Helen ihr den Kopf tief in den Dünensand. Sie hatte oben im Krähennest eines der Corvetten einen Soldaten mit einem Fernrohr gesehen. Der richtete das Gerät so eben genau auf den Dünenkegel, auf dem sich die Freibeuter versteckt hielten.
„Volle Deckung!“ zischte Helen vernehmlich. „Keiner bewegt seinen Hintern!“
Etwa zehn Minuten blieben sie in voller Deckung, dann richtete sich Helen vorsichtig auf. Der Ausguck widmete sich der anderen Buchtseite.
„Noch mal gut gegangen“, flüsterte Helen. Estrella kam ebenfalls mit dem Kopf hoch und rieb sich etwas Sand aus der Nase.
Unten auf der SILVER STAR saßen Bush und der Engländer auf einer dicken Taurolle beisammen und prosteten sich zu.
Die Engländer auf den Corvetten schienen nun bemerkt zu haben, dass ihnen von dem ‚Dänen’ keine Gefahr drohte. Sie machten es sich auf den Decks gemütlich.
„Ihr werdet noch eine Überraschung erleben“, feixte Estrella.
Kurz vor der totalen Dämmerung, verließ der englische Kapitän bester Laune seinen Gastgeber.
Nachdem die letzten grauen Strahlen des Tages der Nacht gewichen waren, setzten Helen und Estrella ihren Plan um. Sie winkten sechs von den Französinnen zu sich.
Matt schimmerten Schiffslampen über die Weite der Bucht, als acht Schatten Phantomen gleich ins Wasser glitten.
„Du meinst, dieses Teufelszeug funktioniert?“ hatte die Corsarin kurz vorher noch ihre Schwester gefragt.
„Eine Mischung aus Magnesiumpulver und griechischem Feuer . Mein Vater hat es schon erfolgreich angewendet“, hatte Helen nur geantwortet.
„Es wird nass.“
Helen hatte gegrinst. „Es funktioniert nur nass.“
Obwohl nun der Mond sich ganz sachte über den Ausläufern der gegenüberliegenden Buchtseite erhob, konnten die nackten Schwimmerinnen nur von einem geschulten Auge als wage Schatten erkannt werden.
Sam Bush sah sie wohl. Doch die sorglosen Engländer hielten es nicht einmal für nötig, den Ausguck zu besetzen.
Als die Schwimmerinnen die halbe Strecke zwischen den Corvetten und dem Strand zurückgelegt hatten, teilten sie sich in zwei Gruppen. Eine führte Estrella, die andere Helen.
Unhörbar näherten sie sich den beiden Schiffen vom Heck her. Von den Decks vernahm man grölenden Gesang. Kein Zweifel – die Engländer ergaben sich dem Gott des Trunkes.
Am Steuerruder angekommen, gab Estrella ihren Frauen ein Zeichen, zu den beiden Rumpfseiten des Schiffes zu schwimmen. Genau dasselbe passierte bei der anderen Corvette.
Das ganze Unternehmen nahm vielleicht fünfundvierzig Minuten in Anspruch, dann lagen alle Schwimmerinnen wieder in ihrem Dünen-versteck.
„Bei Neptun“, stieß die Corsarin hervor. „Du glaubst wirklich, dass es funktioniert?“
„Keine Sorge“, kam es von Helen. Jetzt muss nur Sam reagieren.
Die Scheibe des fast vollen Mondes war höher gestiegen. In ihrer Mitte zeichnete sich jetzt wie ein Scherenschnitt eine gezackte Felskuppe ab.
Da begann sich die SILVER STAR unmerklich, aber doch zu drehen. Ohne dass die Engländer es mitbekommen hatten, war es der Besatzung des Corsarenschiffes gelungen, die beiden Anker zu lichten.
Nun manövrierte Bush mit zwei Foggsegel das Schiff so, dass die Backbordseite auf die Corvetten zeigte.
Von ihrem Versteck aus sahen Estrella und Helen das Glühen der Lunten. Die Kanoniere machten sich bereit.
Immer höher stieg der Mond.
Da flammte es bei der einen Corvette am Heck kurz auf.
Die Beobachter auf der Düne hielten unwillkürlich den Atem an.
Da! Die nächste kleine, unscheinbare Flamme.
Dort am Heck des anderen Schiffes auch.
„Ihr Geister des Meeres“, flüsterte die Corsarin.
Was folgte, vollzog sich blitzschnell. Ein gewaltiger Blitz an den Ruderblättern der Kriegsschiffe – eine Rauchwolke von Steuerbord – die beiden Schiffe schienen zu schwanken – dann loderte es an allen Seiten und am Heck.
Die Engländer wurden aufmerksam. Einige Männer rannten zur Reling.
Geschrei erhob sich.
Mitten in dieses Chaos donnerte die Kanonensalve der SILVER STAR.




Das Meer lag spiegelglatt.
Die Corsarin hielt ihr Gesicht in den auffrischenden Wind. Ihr langes schwarzes Haar wehte einem Pferdeschweif gleich.
Helen stand neben ihrer Schwester auf dem Oberdeck.
„Verrätst du mir dein nächstes Ziel?“ erkundigte sie sich.
Estrella wandte sich ihr zu. „Wer sagt, dass ich bereits ein neues Ziel anvisiere?“
„Mein Instinkt, liebe Schwester.“
Nun musste Estrella lachen. Sie nahm Helen fest in den Arm. „Madre Dio! Du bist mir so ähnlich, dass ich dir nichts verheimlichen kann. Hör zu: Vor zwei Jahren bin ich in Tampico gewesen. Die Franzosen planten damals, einen Flottenstützpunkt dort zu errichten. Von dort aus wollten sie mit starken Verbänden den Golf kontrollieren. Der Nachschub für die Aufständischen sollte abgeschnitten werden. Ich möchte wissen, ob der Plan in die Tat umgesetzt worden ist.“
Helen machte ein bedenkliches Gesicht. „Willst du einfach in den Hafen einlaufen? Außerdem werden uns wohl auf dem Weg dort hin jede Menge Kriegsschiffe begegnen.“
„Mit denen werden wir, so gut es geht, eine Begegnung vermeiden. Obwohl es in meinen Fingern juckt.“ Sie lachte laut auf.
Helen blickte unwirsch. „Gefahren bestehen zu müssen und Gefahren unbedingt suchen, sind zweierlei.“
„Das stimmt“, kam es nun ernst von der Corsarin. „Doch wenn gezielte Kriegsverbände über die Siedlungen am Golf herfallen oder dort Truppen absetzen, können sie die Siedler dort in die Zange nehmen. Also muss das unterbunden werden. Unsere SILVER STAR II ist beim Feind noch nicht bekannt. Unser Freund Sam hat den dänischen Kapitän vor einigen Wochen so blendend gespielt, dass es einer Wiederholung würdig ist. Deshalb sehe ich in Tampico keine Gefahr.“
Sie setzte nach einer kurzen Pause nach: „Außerdem wird der Hafen nicht von den Franzosen allein beherrscht.“
Während der Überfahrt gingen die Frauen aus der Galeere in eine harte Schule. Helen machte sie mit allen Dingen der Seefahrt vertraut, Catherine unterrichtete sie in der Kunst des Kampfes.
Von den Corvetten hatte man noch einige brauchbare Kleidungsstücke retten können. Ein paar Hemden und Hosen, die sich die Frauen für sich passend umgearbeitet hatten.
Am Ende des fünften Tages auf See, meldete der Ausguck ein Schiff.
Estrella hatte bisher jeden Kontakt vermieden. Sie wollte ohne viel Aufsehen nach Tampico gelangen.
Sie entere das Krähennest und fixierte mit dem Fernrohr den Bereich, den ihr der Posten angab.
„Hm“, kam es von der Corsarin. „Ein Pfeffersack. Wir könnten unsere Vorräte auffrischen. Man weiß nie, was die nächsten Tage geschieht.“
Sie rutschte zurück auf das Deck.
Der Kauffahrer wusste kaum wie ihm geschah, da hatte Estrella mit ihren Leuten das Schiff bereits geentert.
Vor Angst schlotternd stand der dicke Mann in der teuren Brokatjacke nun vor der Corsarin. Als sie sah, wie sich der feuchte Fleck auf der blendend weißen Hose des Kaufmanns ausbreitete, brach sie in schallendes Gelächter aus.
Der Dicke wurde noch ängstlicher und puterrot im Gesicht.
Estrella kam einen Schritt näher und tippte ihm mit der Degenspitze auf den mittleren Goldknopf der Jacke.
„Teuere Tapete“, meinte sie dabei. „Wie viele Menschen hast du in letzter Zeit übers Ohr gehauen?“
„Himmel…keinen“, kam es entsetzt und gestottert.
Die Corsarin zog grinsend den Degen zurück. „Was hast du geladen?“
Die fetten Lippen des Kaufmanns bewegten sich einige Sekunden stumm, bevor er sagte: „Tuche, Getreide und Madonnenfiguren.“
„Madonnenfiguren?“ Estrellas Augen schauten ungläubig. Dann erklang wieder ihr lautes Lachen. „Madonnenfiguren…das ist wichtig! Für die gottesfürchtigen Engländer und Franzosen, die dann im Namen der Mutter Gottes andere Menschen foltern“, höhnte sie.
Sie trat nun ganz dicht and den Dicken heran. „Gold? Silber? Waffen?“
Der Dicke schüttelte heftig den Kopf. „Nein!“
Estrella sah ihn scharf an. „Wenn wir bei der Durchsuchung etwas finden, wirst du mit nacktem Arsch vor mir tanzen“, zischte sie.
Der Kaufmann wurde noch eine Spur blasser. Er schluckte schwer. Endlich kam es: „Im Bugraum – unter den ersten Dielen…etwa vierzig Musketen…“
Estrella lächelte milde. „Na also – geht doch.“
In diesem Moment trieben zwei ihrer Leute eine kleine dickliche Frau und ein etwa achtzehnjähriges Mädchen an Deck.
„Wenn haben wir denn da?“ rief die Corsarin leicht zynisch aus. „Das bringt Geld auf dem Sklavenmarkt!“
„Oh bitte nicht!“ rief der Dicke und fiel auf die Knie. „Das ist meine Frau und meine Tochter.“
Estrella würdigte ihn keines Blickes, sondern trat auf die beiden Frauen zu. Sie musterte sie eingehend. Dann winkte sie Sam Bush herbei.
„Auf die SILVER STAR bringen!“
„Erbarmen“, wimmerte der Kaufmann.
Nun erst wandte sich die Corsarin wieder dem Jammerlappen zu. „Welchen Hafen wolltest du anlaufen?“
„Wir wollten nach Nassau.“
„Warst du in Tampico?“
„Nein.“
Die Corsarin drehte sich zu ihrem Schiff um und rief: „Mr. Bush! Die Damen kommen nackt in ihr Quartier!“
„Ich…war in Tampico!“ schrie der Kaufmann.
Estrella beugte sich zu ihm herab. „Lügst du noch einmal, bekommen deine Weiber dreißig Stockschläge auf ihre Fußsohlen.“
„Ich sage die Wahrheit! Bitte…“
Kopfschüttelnd lachte die Corsarin leise vor sich hin. Dann fragte sie erneut:
„Wie viele Schiffe der Briten liegen in Tampico?“
„Ich kenn nicht die genaue Stückzahl, aber es muss eine Flotte sein. Zwanzig bestimmt.“
Inzwischen hatten die Corsaren die Waffen gefunden.
Estrella befahl dem Kaufmann, mit an Bord der SILVER STAR zu kommen. Dort zeigte sie ihm auf der Seekarte einen Punkt. „Merke dir diese Koordinaten. Wir treffen uns dort in sechs Wochen. Deine Frau geht mit dir zurück auf dein Schiff. Deine Tochter behalte ich als Pfand bis zu unserem Treffen bei mir an Bord.“
Man sah dem Kaufmann die Erleichterung an. Hatte er doch das Schlimmste befürchtet. Estrella lächelte ihn schalkhaft an. „Hau ab und piss nicht wieder in die Hosen!“
Vom hinteren Oberdeck sah sie dem Handelsschiff nach, das nun Fahrt aufnahm und Richtung Südwest glitt.
Nun schritt die Corsarin die Stufen zum Hauptdeck herunter und baute sich vor der Tochter des Händlers auf. Im Gegensatz zu ihrem Vater besaß sie mehr Mut. Keck sah sie die Corsarin an und bemerkte: „Wenn man euch hängt, werde ich Beifall klatschen.“
Sam Bush und andere Mitglieder der Mannschaft, die das gehört hatten, hielten den Atem an. Sie erwarteten, dass ihr Lady-Captain der vorlauten Göre rechts und links etwas um die Ohren hauen würde. Doch Estrella wahrte Haltung. Ganz ruhig entgegnete sie: „Wer kann wissen, ob du dann noch lebst. Aber du solltest auf meinem Schiff etwas höflicher sein.“ Sie gab Helen ein Zeichen. „Commodore – die junge Dame möchte zwei Tage im Stock über die Regeln guten Benehmens nachdenken.“
Helen ergriff das Mädchen lächelnd am Arm und meinte leicht hin: „Na – dann komm mal mit, Süße. Wenn die Ratten im Bugraum an deinen Zehen knabbern, wirst du schon etwas höflicher werden.“
Als das Mädchen das Wort ‚Ratten’ hörte, schrie sie entsetzt auf, doch Helen interessierte das nicht.
Die Corsarin ließ die Beute ordentlich verstauen, dann gab sie das Kommando: „Volle Segel!“
Unter dem Kampflied der Corsaren wurde die Leinwand gesetzt – die Segel blähten auf und die SILVER STAR legte sich in den Wind.


T
ampico – zwei Stunden nach Mitternacht.
Die SILVER STAR lag etwas abseits von anderen Schiffen in der Hafenanlage. Niemand hatte sie kontrolliert, als sie mit der aufgesetzten dänischen Flagge einliefen. Ganz demonstrativ hatte Sam Bush – genüsslich seine Pfeife rauchend – an der Reling gestanden und zu den englischen Kriegsschiffen hinüber geschaut. Estrella und Helen hatten sich in die Kleidung von dänischen Damen der gehobeneren Gesellschaft gekleidet.
„Gut, dass ich mir die Tuchkisten genauer angesehen habe“, hatte Helen Stunden vorher bemerkt.
Nun hatten sich die beiden während des abends in der Stadt umgesehen. Zahlreiche bewundernde Blicke hatten ihnen gegolten, aber niemand belästigte sie.
Estrella und Helen hatten erkunden können, dass acht englische Fregatten im Hafen lagen und man noch vier weitere erwartete. Der Zufall wollte es, dass Helen in einen kleinen ‚Unfall’ mit einem jungen Offizier verwickelt wurde. Um Normalität zu erwecken, waren sie in einem der großen Warenhäuser zum Einkauf gewesen. Beladen mit verschiedenen Paketen passierte es dann. Der junge Leutnant passte nicht auf und stieß mit Helen zusammen. Polternd stürzten die Pakete auf das schmutzige, raue Pflaster. Der junge Mann zeigte sich zerknirscht und hilfsbereit und half die Sachen wieder aufzusammeln. Er bestand darauf, die beiden Damen nach Hause zu begleiten. Während Estrella blitzschnell überlegte, wie sie aus diesem Dilemma herauskommen könnten, rettete Helen die Situation. Sie erzählte eine rührende Geschichte von einer streng religiösen Tante, die es nicht gern sehe, wenn ihre Nichten in der Begleitung eines fremden Mannes auftauchen würden. Der Offizier gab nur unter der Bedingung nach, dass beide am kommenden Tag die Einladung zu einem Fest im Offiziersclub annehmen würden.
Sam Bush klopfte seine Pfeife aus und rieb sich das Kinn.
„Du gehst da ein riskantes Unternehmen ein“, knurrte er, ohne die Corsarin anzusehen, die neben ihm stand.
Sie hatte sich wieder mit der halblangen Hose und Rüschenbluse bekleidet. Barfuß lehnte sie nun am Mittelmast und schaute zu den Sternen auf.
„Es ist die Gelegenheit, alles über die Pläne der verfluchten Inglis zu erfahren.“
„Ja“, kam es von Sam. „Aber du sprichst kein Dänisch. Was passiert, wenn dich jemand in dieser – deiner vermeintlichen Muttersprache – anredet? Was ist, wenn dich jemand erkennt?“ Der Erste schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Lust, dich wieder aus irgendeiner Folterkammer zu befreien oder doch vom Galgen abschneiden zu müssen.“
„Ich spreche Dänisch“, kam es da aus dem Halbdunkel des Decks.
Helen – ebenfalls in Bluse, Hemd und barfüßig – kam näher. „Aber meine Schwester hat Recht – wir können uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“
Die Corsarin schaute erstaunt. „Woher kannst du diese Sprache?“
Helen lachte leise auf. „Eine meiner früheren Gouvernanten kam aus Kopenhagen.“
Estrella legte den Arm um die Schwester. „Du verbirgst noch viele Dinge deiner Vergangenheit vor mir.“
Helen lächelte. „Die Zeit wird kommen, liebste Schwester.“ Dann wandte sie sich an Sam Bush. „Wir haben bis Morgenabend Zeit. Da werde ich Estrella noch das Notwendigste beibringen. Eine bessere Möglichkeit, die Pläne der Briten zu durchkreuzen, kann es nicht geben.“
Der Alte kratzte sich den dichten grauen Bart. „Thunderstorm – ja…aber es ist verflucht gefährlich. Ihr wisst nicht, wem ihr in diesem Offiziersclub begegnet. Außerdem frage ich mich, was ihr gegen eine Flotte von insgesamt zwölf Schiffen ausrichten wollt? Ganz zu schweigen von denen, die möglicherweise noch auf See operieren.“
Die Corsarin hob die Arme zum Himmel. „Diese Schiffe hier werden Tampico nicht mehr verlassen. Wir werden sie hier im Hafen versenken.“
Bush fiel bald die Pfeife aus der Hand. „What? Hang and Denations!“
Helen schnippte mit den Fingern. „Unsere Mädels sind inzwischen so geübte Schwimmerinnen und Taucherinnen“ – meinte sie – „wir werden diese Fregatten anbohren. Ehe die Engländer etwas bemerken, sind wir wieder auf See. Folgt man uns oder läuft eines der Schiffe aus, wird es auf dem Grund liegen, ehe der Kapitän ein ‚Vater Unser’ beten kann.“
Mit einemmal vernahmen sie Tumult am Ende des Kais.
„Was ist da los?“ rief Bush.
Alles lief zum vorderen Teil der Steuerbordreling.
„Sind von unserer Besatzung Leute draußen?“ wollte die Corsarin wissen.
„Sicher – aber ich habe ihnen eingeschärft, keinen Blödsinn zu machen.
Estrella stieß dies zischend aus. „Vermutlich haben doch einige Mist gemacht. Wir müssen das feststellen! Los!“
Der Erste schnappte nach Luft. „Willst du so…dann können wir direkt die rote Flagge hochziehen!“
„Man muss uns ja nicht sehen!“ rief Estrella und spurtete, gefolgt von Helen los. Barfuß wie sie waren, sprangen sie ins Beiboot und ruderten vorsichtig die Kaimauer entlang. Dorthin, wo der Lärm her kam.
Dann konnten sie erkennen, was dort vor einem Lagerhaus geschah.
„Zwei unserer Mädchen werden von jungen betrunkenen Burschen belästigt“, rief Sam Bush aus.
Estrella zog ihre Pistole und ließ die beiden Hähne knacken.
„Fahr an die Kaimauer! Dort, wo die steinernen Stufen herausgeschlagen sind!“
„Willst du…man wird dich als Corsarin erkennen!“
Doch Estrella stand schon mit einem Fuß auf dem Rand des Bootes. Mit einem dumpfen Geräusch stieß es an die Kaimauer. Estrella sprang auf die erste Stufe, während der Erste das Boot festband.
Eines der Mädchen lag mit zerrissenem Kleid auf dem Boden. Sie blutete an der Lippe. Durch die beiden Feuerkörbe an der Fassade des Lagerschuppens konnte die Corsarin das deutlich erkennen.
Einer der vier Burschen trug eine Offiziersuniform. Alle zeigten sich ziemlich angetrunken.
„Das würde ich sein lassen, Boys“ kam es gedämpft, aber um so gefährlicher über ihre Lippen.
Einer der Burschen richtete sich auf und ließ von dem liegenden Opfer ab.
„Ha! Eine Zigeunerlady? Oder was bist du?“ kam es kehlig von ihm.
„Das wirst du gleich merken, Inglis.“
„Oh – sie droht“, rief der junge Bursche in der Uniform. Er machte wankend ein paar Schritte auf die Corsarin zu.
„Bleib stehen!“ zischte sie. „Oder du wirst es bereuen.“
Doch der Engländer schien unbelehrbar. Wahrscheinlich unterschätzte er die Frau in seinem angetrunkenen Zustand.
Er versuchte sie an der Bluse zu fassen. Ein gewaltiger Tritt schleuderte ihn zwei volle Yards über das raue Pflaster des Kais.
Inzwischen stand Sam Bush ebenfalls oben. Er hielt die Pistole seinerseits auf die Gruppe gerichtet.
„Jungs – machte keinen Blödsinn, den ihr hinterher bereuen müsst! Lasst die Mädels in Ruhe.“
Der junge Offizier rappelte sich wieder auf. „Hey Grandpa – halt die Klappe.“
Er taumelte erneut auf die Corsarin zu. In diesem Moment blitzte in der Hand eines der anderen Burschen ein Wurfmesser. Estrella sah es aus den Augenwinkeln.
Der Knall des Schusses hallte explosionsartig über den Kai. Der Angreifer fasste sich an die Brust und sackte zusammen. Die anderen zwei stoben in Angst davon. Nur der Offizier stand wie eine Salzsäule. Bush ergriff das liegende Mädchen am Arm und zog es hoch.
„Macht, dass ihr zum Boot dort hinten kommt“, knurrte er und deutete über die Schulter.
„Verdammte Hure!“ schrie der Offizier plötzlich und zog seine Pistole aus dem Gürtel.
Die beiden Läufe von Estrellas Waffe spuckten kurz Feuer. Schreiend ließ der junge Mann seine Pistole fallen. Es schepperte, als sie auf den Pflaster aufschlug. Blut tropfte von seiner Hand. Die beiden Kugeln hatten ihm mindestens drei seiner Finger zerschmettert. Jammernd sank er in die Knie.
„Geh zum Feldscher“, rief die Corsarin. „Sonst verlierst du noch deine ganze Hand.“
Sie drehte sich hastig um und eilte zum Boot.
Als einige Leute angerannt kamen, die die Schüsse gehört hatten, legte Sam Bush bereits an der zur Wasser gewandten Seite der SILVER STAR an. Vom Kai her konnte man sie nicht mehr sehen.
An Bord kümmerte sich Estrella um das Mädchen.
Helen kam hinzu. „Ich hörte Schüsse. Was ist passiert?“
Ihre Schwester sagte es ihr kurz.
„Verdammt! Hoffentlich haben wir nicht gleich Soldaten auf dem Hals!“
Die Corsarin schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum. Der Trunkenbold müsste dann einiges erklären und die Marine hat da sehr strenge Disziplinansichten. Außerdem hat niemand erkennen können, wohin wir gerudert sind.“
Trotzdem schickte Estrella zwei Mann in den Mast, um die Umgebung des Schiffes zu überwachen. Auch ließ sie zwei Kanonen laden und auf den Kai richten.
Kurz nach Mitternacht erschienen alle Besatzungsmitglieder wieder an Bord. Sie hatten sich an die Anweisung des ersten Offiziers gehalten, sich keinesfalls zu betrinken.
Estrella zwinkerte Sam Bush zu. „Wie hast du das geschafft, alter Seeräuber?“
Der Alte zuckte ein wenig mit den Mundwinkeln. „Es gibt bestimmte, leise Drohungen, die mehr wiegen, als Befehle.“
Damit ließ er seinen Captain stehen.
Helen legte den Arm um die Schwester. „Ich würde nicht weiter fragen. Wichtig ist doch, dass es gewirkt hat.“
Estrella lachte leise vor sich hin. Dann murmelte sie: „Sam ist das Beste, was mir für mein Schiff passieren konnte.“
Am nächsten Morgen beobachtete die Besatzung der SILVER STAR das Einlaufen von zwei englischen Corvetten.
Der Tag verging damit, dass Estrella das Schiff in Gefechtsbereitschaft versetzen ließ. Die Mannschaft hatte Landverbot.
Der alte Bush lehnte sich neben Estrella an den Heckmast.
„Wollt ihr beide tatsächlich Heuteabend an dieser Feier teilnehmen?“ Aus seiner Pfeife quollen dabei dicke Rauchwolken.
Die Corsarin nickte. „Die beste Gelegenheit, etwas zu erfahren. Es kann überlebenswichtig sein.“
„Yea“, kam es von dem Alten trocken. „Aber auch tödlich!“
Doch Estrella ließ sich nicht umstimmen.
Pünktlich erschienen Estrella und Helen vor dem Offiziersclub. Der Leutnant erwartete sie bereits mit einem Freund.
„Darf ich vorstellen“, begann er. „Leutnant Harold Powers. Ach ja – wir kamen noch nicht dazu – ich bin Leutnant Roger Townsend. Darf ich bitten?“
Er reichte Estrella seinen Arm. Powers tat dies mit Helen. Gemeinsam betraten sie den Club.
Townsend und Powers führten die Corsarin und Helen durch eine große Diele. Mehrere Türen – die offen standen – zweigten ab. Überall tummelten sich Männer in Zivil, wie auch in Uniformen, sowie modisch gekleidete Frauen, denen man es ansah, dass sie zur gehobenen Gesellschaft der Hafenstadt gehörten.
Aufmerksam blickte Estrella sich um. Sie hoffte, kein bekanntes Gesicht zu entdecken. Helen schien ähnlich zu denken. Ihre Augen suchten nach einem sofortigen Fluchtweg. Unwillkürlich tastete sie nach dem kleinen, aber zweiseitig scharfgeschliffenen Dolch, den sie unter ihrem Kleid am Oberschenkel trug.
„Oh, die junge Hoffnung der englischen Marine“, flötete eine rundliche, matronenhafte aufgedonnerte Dame. Ein Schönheitspflästerchen zierte ihre linke Wange. Sie segelte auf die Townsend und Powers zu.
Powers küsste ihr galant die Hand und schmeichelte: „Madame Allground – wie schön, sie hier zu sehen. Wie geht es ihrem Gatten, dem Admiral?“
Estrella zuckte innerlich leicht zusammen. Der Name war ihr irgendwie in Erinnerung. Allerdings mochte es keine gute sein.
„Danke der Nachfrage“, gurrte die mittelalterliche Dame. Dann wandte sich ihr Blick sowohl der Corsarin, wie auch Helen zu. „Sie haben je eine bezaubernde Gesellschaft mitgebracht.“
Zum Glück wurde sie von einem Diener abgelenkt. Estrella löste sich aus Townsends Arm und huschte in einen größeren Raum, dessen Luft sich vom schweren Rauch zahlreicher Zigarren geschwängert zeigte. Powers versuchte etwas zu trinken zu organisieren.
Helen drängte sich an ihre Schwester und flüsterte: „Wenn dich auch nur einer erkennt, landen wir rascher im Kerker, als wir Luft holen können“, flüsterte sie.
Estrella lächelte und zischte zurück: „Kein Erfolg ohne Wagnis. Wenn es uns zu brenzlig erscheint, verschwinden wir sofort.“
Powers hatte das Unmögliche möglich gemacht und bald hielten alle teuere, handgeschliffene Gläser in der Hand. Man plauderte belangloses Zeug. Die Zeit verging. Powers hatte schon zweimal trinkbaren Nachschub besorgt. Da entschuldigte sich Townsend. „Gestatten sie, Ladies, dass ich kurz einen alten bekannten begrüße…“ Damit tauchte er in der Menge unter. Estrella hatte in einer Nische an einem der großen Fenster vier Männer entdeckt. Zwei trugen die Kapitänsuniform der Briten, zwei der französischen Marine. Sie diskutierten eifrig vor einer Seekarte, die in einem Goldrahmen an der Wand neben dem Fenster hing.
Estrella zupfte ihre Schwester am Ärmel und machte mit den Augen ein Zeichen. Helen folgte dem Blick und nickte. Sie wusste, was die Corsarin im Sinn hatte. Also wandte sich Helen an ihren Begleiter und flüsterte: „Wo kann man denn hier mal…sie wissen schon…“
Powers blickte etwas verlegen, dann flüsterte er zurück: „Dort die Tür, dann über den Hof.“
Rasch zog Helen ihre Schwester mit sich. In einem kleinen Nebenraum, in dem ein kleines Buffet aufgebaut war, blieben sie stehen. Estrella schaute vorsichtig um die Ecke in den Saal zurück. Die vier Kapitäne hatten ihre Nische verlassen und steuerten auf eine direkt daneben liegende Tür zu. Dahinter, durch einen Vorhang abgeteilt, schien sich eine weitere Diele und noch ein Raum zu befinden. Als die Vier verschwunden waren, eilten die Frauen quer durch die engstehenden Menschen und erreichten einen langgezogenen Flur.

Dieser wurde noch einmal durch einen dichten Vorhang geteilt.

Estrella wollte gerade den vier Kapitänen folgen, als sie zurückzuckte.
Ein neuer Gast war zu später Stunde noch erschienen.
Helen, die der Corsarin dicht folgte, prallte gegen deren Rücken. Geistesgegenwärtig schubste Estrella sie zurück und zerrte sie hinter einen langen, dichten Fenstervorhang.
„Was…?“
Estrella hielt ihr den Mund zu. Sie konnte nichts sehen, aber sie spürte, dass Menschen sich unruhig bewegten und einige direkt vor ihrem Versteck stehen blieben.
„Captain Redcliff“, vernahmen sie eine freudige Stimme. „Es ist mir eine Ehre, dass sie noch kommen konnten. Wir wollten soeben eine kleine interne Besprechung abhalten.“
„Deshalb bin ich hier, meine Herren“, kam es in rauem Basston zurück. „Die Pläne haben sich geändert. Ein großer Teil der aufsässigen Siedler hat sich zu einer stattlichen Armee vereint. Sie haben der Krone schwere Verluste zugefügt. Das dürfte auch sie als Franzosen beunruhigen.“
Eine kurze Zeit Schweigen folgte diesen Worten. Estrella schob ganz vorsichtig den Vorhang ein wenig zur Seite. Ein kaum erkennbarer Spalt entstand. Acht Männer standen dort in unmittelbarer Nähe. Der hochgewachsene, breitschultrige, rotbärtige Redcliff musste als majestätische Erscheinung alle Blicke auf sich ziehen.
„Wie konnte das geschehen?“ erkundigte sich stockend ein junger Leutnant.
Redcliff nahm das Glas Wein entgegen, das ihm eine Ordonnanz auf einem silbernen Tablett reichte.
„Sie haben einen Anführer. Nennt sich George Washington.“
Einer der Anwesenden schüttelte den Kopf. „Habe den Namen nie gehört.“
Radcliff winkte ab. „Ein Deserteur, der sich gegen die Krone stellt. Aber wir werden ihn schon das Fürchten lehren. Freue mich darauf, ihn an die oberste Rahe meines Schiffes zu hängen.“
„Das wäre nur gerecht!“
Redcliff deutete über die Schulter. „Ich habe neue Anweisungen der Admiralität. Können wir dort ungestört reden?“
Einer der Kapitäne nickte. „Kommen sie, meine Herren.“
Estrella, die unwillkürlich während des Gespräches den Atem angehalten hatte, stieß die Luft aus. „Uff! Das war knapp!“
Helen schob die Hand der Corsarin von ihrem Mund. „Willst du mich umbringen? Wer war das?“
„Captain Kennet Redcliff – einer der verwegensten Kriegsschiff-kommandanten, die mir je begegnet sind“, flüsterte Estrella.
„Er kennt dich?!“
„Leider zu gut. Ich habe ihm Auge in Auge mit dem Degen gegenüber gestanden.
Helen blickte sich rasch nach allen Seiten um. Niemand beachtete sie.
„Dann sollten wir uns hier rasch unsichtbar machen.“
Die Corsarin grinste satanisch und schüttelte den Kopf. „Ich will erst wissen, was die verdammten Bastarde hier aushecken. Ausserdem scheinen sie jetzt mit den Franzosen an einem Strang zu ziehen. Teilweise jedenfalls. Komm!“
„Bist du total verrückt?“ stieß Helen hervor.
Doch Estrella hörte nicht, sondern schlenderte wie zufällig zu dem Durchgang, durch den die Kapitäne und Redcliff verschwunden waren.
Helen verdrehte die Augen.
Sie gelangten auf einen halbdunklen, von Petroleum-Wandlampen notdürftig beleuchteten Gang. Dicke Plüschteppiche schluckten jegliches Geräusch.
Der Gang mündete – von einem Vorhang verdeckt - vor einer massiven Eichentür. Helen wollte die Corsarin zurückhalten. Doch Estrella hatte die Tür bereits erreicht und legte ein Ohr an die polierte, dunkle Fläche.
Gedämpft, aber deutlich vernahm sie die Stimme Redcliffs.
Während Estrella lauschte, hoffte Helen inständig, es möge niemand aus dem Saal den Gang betreten.
Da hörte sie zwei Stimmen. Schon bogen zwei junge Männer in den blauen Kriegsmarinejacken um die Ecke.
Helen reagierte schnell. Sie torkelte zwei Schritte auf die jungen Männer zu und fiel ihnen dabei im wahrsten Sinne des Wortes um den Hals.
„Hey, hey – Lady“, rief einer der Männer aus. „Wohl etwas zuviel Wein konsumiert?“
Beide lachten laut auf.
Helen schaute sie aus ‚ glasigen’ Augen an und flüsterte: „Mir ist so schlecht – hick – würden sie mich bitte…an die Luft bringen?“
Wieder lachten die beiden auf und hakten sie unter. „Mit dem größten Vergnügen, Verehrteste.“
Sie bugsierten sie durch den Saal zur Terrassentür. An der frischen Luft lehnte sich Helen erschöpft an die Wand. „Huii…“ murmelte sie und fasste sich an die Stirn.
„Na, Paul – ich wüsste, was die Lady aufmuntern könnte…“ meinte einer der Männer. Der andere lachte glucksend. „Ich auch!“
Schon grabschte er an Helens Busen. Doch da hatte er sich in der Adresse geirrt. Er bekam kaum mit, wie Helen ihr Knie anwinkelte. Plötzlich krümmte er sich jaulend auf den Terrassenplatten. Ein Tritt unter das Kinn beförderte ihn zwei Yards weit auf die Rosenbüsche zu.
Sein Begleiter stand zwei Sekunden wie versteinert. Das waren genau zwei Sekunden zu lange. Der Faustschlag landete genau auf dem Punkt. Mit verdrehten Augen kippte er um, wie ein morscher Baum.
„Gute Nacht, Boys“, zischte Helen.
Da spürte sie eine Bewegung hinter sich. Sie wirbelte herum und schaute direkt in die Augen ihrer Schwester. Diese ergriff ihren Arm und zog sie mit sich.
„Wir müssen verschwinden!“
Sie rannten über die an der Terrasse angrenzende Wiese und gelangten zu einem eisernen, halbhohen Zaun.
„Los! Rüber!“ flüsterte die Corsarin eindringlich.
„Merde!“ stieß Helen hervor. „Wie soll ich das mit diesem Fummel hier machen?“
Estrella verhielt kurz in der Bewegung. Da drangen aufgeregte Stimmen an ihre Ohren.
„Zieh das Ding aus!“ kam es von Estrella. Damit riss sie sich selbst das Kleid vom Körper. Nur in der Unterwäsche und halbhohen Stiefeln überstieg sie rasch den Zaun.
Helen überlegte nicht lange und folgte.
Sie rannten ein Stück den Zaun entlang, überkletterten eine Ziegelsteinmauer und landeten in einer Gasse.
Schwer atmend blieben sie in der Hocke sitzen.
„Was jetzt?“ keuchte Helen.
Estrella deutete auf das zerknautschte Kleid, das sie unter ihren linken Arm geklemmt hatte. „Ich denke, wir sollten das wieder überziehen. Sonst laufen sämtliche Männer Tampicos hinter uns her.“
Ihre Schwester kicherte. „Das können wir nicht verantworten.“
Die Gasse mündete auf einer breiteren Straße. Keine Menschenseele zeigte sich.
Sie blieben kurz stehen.
„Was ist denn passiert?“ wollte Helen wissen.
Die Corsarin zuckte die Achseln. „Ich muss mich wohl etwas zu eng an die Tür gelehnt haben. Jedenfalls sprang sie plötzlich auf und ich blickte direkt in das verblüffte Gesicht meines Freundes Redcliff.“
Sie lachte und ihr schwarzes Haar wehte dabei. „Himmel – hat der ein blödes Gesicht gemacht.“
Da hörten sie das untrügliche Trampelgeräusch von Stiefeln.
Estrella deutet auf die dunkle enge Gasse gegenüber. Steil führte sie zum Hafen hinunter.
„Weg hier!“
Sie flogen mehr, als dass sie rannten über das holperige Pflaster und erreichten den Kai. So schmal, dass man gerade darauf laufen konnte, führte er an einer längeren Hauszeile vorbei. In etwa dreihundert Yards Entfernung lag die SILVER STAR.
„Über den Hauptweg schaffen wir das nicht“, knurrte Estrella. „Die Engländer sind nicht blöde. Sie werden uns da unten erwarten.“
Helen legte den Kopf etwas schief. „Ich liebe Bäder um Mitternacht“, witzelte sie.
Die Corsarin grinste nun auch. „Na dann…los!“
Keine Sekunde zu früh. Sie hörten das echoartige Getrampel aus der Gasse hinter sich.
Sie tauchten tief in das Hafenwasser ein und brachten mit langen Schwimmzügen eine große Distance zwischen sich und die Kaimauer. Als sie vorsichtig wieder auftauchten, stellten sie fest, dass es nur so von Soldaten wimmelte.
Von der SILVER STAR aus hatte man den Auflauf bereits bemerkt.
Sam Bush erblickte die Schwimmerinnen als erster.
„Hang and Denations!“ entfuhr es ihm. Rasch ließ er sein Seil zu Wasser. Wie nasse Affen hangelten sich die beiden Frauen an Bord.
„Sofort ablegen, Sam!“ keuchte Estrella.
„Kein Problem“, kam es von Bush. „Unsere Männer sind auf einen Alarmstart vorbereitet.“
Hier zeigte sich wieder einmal die Weitsicht des alten Seebären. Er hatte eingeplant, dass etwas schief gehen könnte.
Estrella und Helen standen noch nicht ganz auf den Planken – das Wasser triefte von ihren Körpern und aus den Haaren – da huschten bereits wie Schatten die Männer in die Wanten. Gleichzeitig durchschlugen andere die Trassen, mit denen die SILVER STAR am Kai vertäut war.
Die Segel begannen zu knattern und das Schiff drehte sich von der Hafenmauer weg.
Gleichzeitig wurden die Kanonenklappen hochgezogen. Wie Elmsfeuer zeichneten sich die Lunten der Kanoniere in der Dunkelheit ab.
Das Schiff drehte sich zur Hafenmitte. Die Steuerbordseite zeigte genau dort hin, wo sich ein gewaltiger Tross Soldaten sammelte.
„Feuer!“ dröhnte Bushs Stimme über die Decks.
Ohrenbetäubend hallte es durch den Hafen. Die Kugeln heulten durch die Nacht. Dann vernahm man an Deck der SILVER STAR die erschreckten Rufe vom Kai drüben. Donnernd schlugen die Kugeln irgendwo dort hinten ein.
„Nachladen!“ befahl Bush. „Steuermann – hart Backbord!“
Wie ein Urweltungetüm drehte sich der Bug. Dann spannte sich die Leinwand und das Corsarenschiff legte sich in den Wind.
Die SILVER STAR nahm Fahrt auf und strebte der Hafeneinfahrt zu. Nur um die Länge eines Armes kam die SILVER STAR an einer Fregatte vorbei, die in der Nähe der Ausfahrt vertäut lag. Natürlich hatte der Kanonendonner alle Schiffsbesatzungen aufgeschreckt – doch es hatte sie auch verwirrt. So kam es, dass sie erst erkannten, worum es ging, als der Corsar bereits das offene Meer erreichte.


Das Meer lag ruhig.
Helen stand am Heck der SILVER STAR II und schaute nachdenklich über die Weite des Ozeans. Mehr im Unterbewusstsein vernahm sie das Tappen der bloßen Füße Estrellas. Die Schwester lehnte sich neben sie auf die Reling.
„Ob dieser unselige Krieg bald vorüber ist?“ murmelte Helen.
Die Corsarin stützte das Kinn in die rechte Handfläche. „Ich denke, dass es erst richtig los geht. Bisher schien es mir eher ein Geplänkel der Machtstaaten gewesen zu sein. Die Engländer jagen den Franzosen etwas ab. Dann mischen die Spanier mit und so weiter und so weiter.“ Sie seufzte.
„Wer ist dieser Washington?“
Estrella lächelte still vor sich hin. Dann richtete sie sich auf und bemerkte:
„Meine…unsere Schwester Lucia kennt ihn. Sie hält viel von seinem strategischen Können. Er an der Spitze einer geeinten Armee…das könnte etwas werden.“
Helen gab einen leicht verächtlichen Ton von sich. „Die Siedler sind sich ja nicht einig. Deshalb befinden sie sich auch nicht in der Lage, einen richtigen Kampf zu führen. Wenn sie nicht bald geeint werden, teilen Frankreich und England das Land untereinander auf.“
Die Corsarin zuckte mit den Achseln. „Vielleicht schafft Washington das ja.“
Helen schaute zum Himmel auf. „Welchen Kurs nehmen wir?“
„Sankt Antonio.“
Helen machte runde Augen. „Sankt Antonio? Weshalb das?“
Estrella grinste. „Dort leben spanische Kolonisten. Die älteste Ansiedlung in diesem Gebiet der Neuen Welt. Man wird uns mit offenen Armen aufnehmen.“
Helen blickte skeptisch. „Das glaubst du?!“
„Lucia wird dort sein.“
„Was?“ Helen glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.
„Ich bin mit ihr dort verabredet“, fuhr die Corsarin leichthin fort.
Ihre Schwester stampfte mit dem Fuß auf das Deck. „Danke, dass ich das nun auch weiß. Was hat dein Lauschangriff eigentlich ergeben?“
„Engländer und Franzosen formieren sich im Golf. Eine zweite Flotte greift Aufständische an der Ostküste an. Man will Washington den Nachschub abschneiden. Er hatte diverse Depots angelegt. Ein Spion hat das herausgefunden.“
Helens Zähne malten nervös. „Was haben wir da für eine Chance?!“
Estrella grinste satanisch. „Abwarten! Außerdem haben wir noch ein Treffen mit unserem Pfeffersack.“


Sankt Antonio - zwei Monate später.
Das Unwetter entlud sich mit vollster Macht. Blitze zuckten…die Hölle schien sich geöffnet zu haben!
Schwerer Zigarren – und Pfeifenrauch zog sich wie eine Nebelwand durch die diffus beleuchtete Gaststube. Talglichter flackerten und der Sturm zerrte an den aus rohem Holz gefertigten Fensterläden.
>THE THREE ARMS<, die einzige Kneipe des Vierhundert-Seelenortes, wirkte überfüllt. Es roch nach verschüttetem Bier und Brandwein.
Verwegene Gestalten drängten sich auf den rustikalen Bänken um die langen Tische zusammen. In einer Ecke – an einem runden Stehtisch, den man aus einer gewaltigen Baumscheibe gefertigt hatte – standen fünf Gestalten, die man auf den ersten Blick für Trapper hätte halten können. Ein genauerer Beobachter hätte aber an verschiedenen Kleinigkeiten in ihren Gesten erkannt, dass diese Leute eher auf der See zu Hause waren. Auch schienen die Gesichtszüge von vier Personen etwas zu weich für Männer der Wildnis zu sein. Nur die ganz links, scheinbar gelangweilt an die Wand gelehnte Person, fiel durch ihren wilden grauen Bart auf. Listige Äuglein funkelten unter der verwaschenen Hutkrempe.
„Bisher habe ich noch niemanden ausmachen können, der mich an einen Gott verfluchten englischen oder französischen Spion erinnert hätte“, brummte der Bärtige gerade. Jedoch nur so, dass sein Nebenan es mitbekam.“
Ohne die Lippen zu bewegen, kam die Antwort: „Es wäre auch zu schön, wenn man jeden Verräter sogleich an seiner Nase erkennen könnte, Sam.“
Diese mehr gehauchte Stimme gehörte Estrella Avilla de Aragon. Sie trug Trapperkleidung und hatte ihr langes Haar sorgsam unter einem Hut von undefinierbarer Farbe verborgen. Bei den anderen Personen handelte es sich um Helen, Lucia und Sarah Corell – die Anführerin der Untergrundkämpfer
SCHWARZE MÖWE.
„Bist du sicher, dass es hier zu einem Treffen der Verschwörer kommen soll?“ Estrella zischelte es nahe an Lucias Ohr.
Diese hob ihr Glas, das sich vier Fingerhoch mit Brandy gefüllt zeigte und nickte andeutungsweise. „Meine Informanten sind zuverlässig. Sonst hätte ich mich nicht auf den weiten Weg hier her gemacht. Gut, dass mein Bote dich noch abfangen konnte, bevor ihr das Haus Don Josés betratet. Es hätte dein Todesurteil bedeutet.“
„Was ist mit den anderen Anführern der Freiheitskämpfer, die sich in drei Wochen mit Washington treffen wollen?“
„Sind alle gewarnt.“
Die Corsarin senkte den Blick und schien erleichtert.
In diesem Moment öffnet sich knarrend die Eingangstür. Sogleich jagte ein mächtiger Windstoß in die Gaststube. Knallend fiel die Tür wieder zurück. Der Fremde schüttelte das Regenwasser von der Hutkrempe. Er blickte sich anschließend in dem Raum um. Die Gruppe um die Corsarin hatte den Blick stur auf die Tischplatte gerichtet. Die anderen Gäste, die nur kurz ihre Gespräche unterbrochen hatten, nahmen diese wieder auf. Der Fremde trat an den Tresen. „Brandy!“
Seine Stimme klang rauchig krächzend und wies einen untrüglichen Yorkshire Akzent auf.
„Das ist Pete Bowers – erster Maat auf der TUDOR“, grunzte Sam Bush dicht neben Helen. „Das bedeutet nichts Gutes.“
„Erkläre mir das genauer“, kam es zurück geflüstert.
„Die TUDOR gehört zur Flotte von Admiral Baites. Estrella belauschte doch, dass sie vor der Ostküste postiert werden sollte.“
„Schon“, zischelte Helen. „Aber wir sind von der Ostküste ziemlich weit weg.“
„Eben“, kam es von Sam. „Die Engländer müssen ihre Pläne wieder geändert haben. Deshalb glaube ich an Ungemach.“
Helen wandte sich zu Lucia hinüber. „Wo steckt Washington?“
Die Gouverneurin von
San Lucia zuckte leicht zusammen und drehte den Kopf etwas zu der Sprecherin. „Wie kommst du jetzt darauf?“
„Also?“
„Verdammt – keine Ahnung. Auf dem Weg hier her, denke ich.“
Helen holte tief Luft. „Dann wissen es die Briten.“
„Was?“
Rasch senkte sie wieder den Kopf. Ihr Ausruf hatte vor Überraschung lauter getönt, als sie es beabsichtigt hatte.
„Sam kennt den Burschen und er müsste eigentlich vor der Ostküste herum turnen.“
Da betrat ein weiterer Gast den Schankraum.
„Hang it all!“ kam es knurrend von Bush, so dass seine Begleitung es hören konnte.
Helen stieß ihn an. „Leiser, Brummbär! Wer ist das?“
„Richard Charles – Kapitän der ROYAL SELECTION.“
„Und?“ kam es ungeduldig von Helen.
„Alles ‚Baites’ Männer.“
„Dann befindet sich seine Flotte im Golf.“
„That’s right!“
Helen drängelte sich an Lucia heran, die das Geflüster sehr wohl vernommen hatte. „Wenn dir was an deinem Freund Washington liegt, dann sollten wir etwas unternehmen.“
Lucia Avilla de Aragon rollte mit den Augen. „Mierda – es weiß doch keiner, dass er sich hier mit einer großen Aufständischengruppe vereinen will!“
Helen zuckte die Achseln und meinte trocken: „Scheinbar doch.“
„Himmel – was jetzt?“
Da löste sich Estrella aus der Gruppe und schritt scheinbar wie zufällig auf die Fensterfront zu. Es goss in Strömen.
Charles und Bowers standen zusammen an einen Dachstützpfeiler gelehnt. Der eine zur rechten, der andere zur linken Seite der Stütze. Sie wandten der Corsarin den Rücken zu.
„Wann wollt ihr losschlagen?“ knurrte Bowers fragend.
„Im Morgengrauen“, kam es zurück. „Fünfzig Seesoldaten sind um das Stadthaus postiert. Da kommt keine Maus ungesehen rein und raus. Dieser neue Anführer hat sein Lager etwa zehn Meilen von hier in einem Tal aufgeschlagen. Baites hat bereits hundert Männer auf den Weg gebracht. Kurz vor Sonnenaufgang soll ein Treffen zwischen diesem Washington und den Führern der anderen Verräter hier im Versammlungshaus stattfinden. Dann schnappt die Falle zu. Seine zusammengewürfelte Armee in dem Talkessel ist ein Kinderspiel. Ehe sie was merken, sind sie überwältigt.“
Charles stieß sich von dem Pfeiler ab und schlenderte wieder zur Theke zurück.
Die Corsarin hatte genug gehört. Sie verließ die Gaststube.
Regen und Sturm peitschten ihr Gesicht.
Sie rannte zu einer dichten Baumgruppe auf der anderen Seite der Mainstreet hinüber. Zehn Minuten später fanden sich auch Lucia, Helen, Sarah und Sam dort ein.
„Dreimal verfluchte Scheiße!“ stieß Lucia entgegen ihre sonst so feine Art hervor. „Was können wir noch tun?“
Estrella starrte auf den aufgeweichten Boden. Endlich hob sie den Kopf.
„Jemand von uns muss Washington abfangen.“
„Schön“, kam es sarkastisch von ihrer Schwester. „Wenn die Briten das Stadthaus stürmen, sind die anderen Gruppen führerlos. Was dann?“
Da trat Helen vor. „Hört zu! Wir machen folgendes…“



Da sind sie!“
Die beiden Reiter hielten ihre Pferde an.
Dumpf rauschte der Regen durch das Blätterdach des tropisch anmutenden Waldes.
Estrellas und Helens erbeutete Uniformen trieften vor Nässe.
Helen schüttelte sich. „Verfluchtes Wetter“, schniefte sie.
Die Corsarin lachte gurrend. „Denke mal an die armen Leutnants, von denen wir uns vor sechs Meilen die Uniformen entliehen haben. Die liegen noch ungemütlicher im Schlamm.“
Ihre Schwester verzog das Gesicht. „Hoffen wir, dass die Maskerade etwas bewirkt.“
Die Corsarin klopfte ihr auf die Schulter. „Da ist uns das Wetter von nutzen. Außerdem ist es stockfinster. Viel wichtiger ist es, dass man uns die Depesche glaubt.“
„Na“, knurrte Helen. „In die Änderung habe ich mein ganzes Können gelegt. Baites’ Schrift war nun wirklich nicht schwer zu kopieren. Es musste ja auch nur ein Satz hinzugefügt werden.“
Estrella drückte ihrem Braunen die Absätze ihrer Stiefel leicht in die Seiten. Das Tier setzte sich in Bewegung.
„Es ist nicht weit. Komm!“
Der Ritt führte über einen schmalen Höhenpfad. Blitze zuckten und der Donner rollte drohend über die Hänge. Plötzlich hielt die Corsarin wieder an. Sie deutete nach Links. „Dort lagern die Seesoldaten. Bis zu dem Tal, in dem Washington sich aufhält, sind es noch knapp vier Meilen. Wir müssen uns beeilen, wenn wir verhindern wollen, dass die Aufständischengruppe eingeschlossen wird.“
Da sah sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Nur unmerklich – doch ihren wachsamen Augen entging nichts.
„Tu so, als sei einer deiner Steigbügel nicht in Ordnung“, zischte sie Helen zu.
„Was?“
Sie sah, wie Estrella vom Pferd glitt und befolgte die Anweisung einfach.
Die Corsarin betrachtete ihren Sattelgurt interessiert, wobei sie unmerklich einige Schritte rückwärts vollzog, plötzlich auf dem Absatz wendete und sich mit einem Hechtsprung in das Gebüsch warf.
Helen hörte das Ächzen und typische Kampfgeräusch. Rasch zog sie ihren Degen und sprang der Schwester nach.
Hinter einem dichten Kampferbusch sah sie die Corsarin auf einem Mann knien, der verzweifelt versuchte, einen Dolchstoß gegen die Kehle seiner Angreiferin zu vollziehen.
Helen setzte ihm die Degenspitze auf die Brust und knurrte: „Wenn ihr in den himmlischen Heerscharen weiterkämpfen wollt, ich habe nichts dagegen.“
Die Gegenwehr des mittelgroßen Mannes erlahmte.
Über Estrellas schlammverschmutztes Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln.
„Das ist auch besser so, Mr. Washington. Ich soll sie von Lucia grüßen.“
Dies ist Washington?“ Helen zeigte sich verblüfft.
Die Corsarin stand auf. Der Mann lag völlig verdattert am Boden.
„Stehen sie schon auf, Sir! Wir sind Freunde!“ kam es aus dem Mund Estrellas.
Der Mann in der verwaschenen und ausgebleichten Uniform rappelte sich hoch.
„Lucia? Sie kennen Lucia Avilla de Aragon?“
„Ich bin ihre Schwester.“
Nun kannte Washingtons Verblüffung keine Grenze mehr. Er stand da, als habe man ihm angeboten, zum Mond zu fliegen.
„Die berühmte Corsarin, die uns mit Waffen und Informationen versorgt…“
Estrella lachte nun leise. „Richtig, Sir!“ Doch ihr Gesicht wurde sofort ernst. „Sie dürfen auf keinen Fall nach Sankt Antonio. Dort warten Engländer auf sie. Außerdem ist ihre Truppe bald umzingelt. Die Admiralität hat irgendwie ihren Schlupfwinkel herausgefunden.“
„Zounds!“ stieß der Anführer der Freiheitskämpfer hervor. Ehe er aber weiterreden konnte, setzte die Corsarin ihm ihren Plan auseinander.
„In Sankt Antonio regeln Lucia und meine Leute den Rest. Wo ist ihr Pferd?“
Washington deutete einen Hügel hinauf. „Dort! Von da aus sah ich sie und dachte, es sei eine englische Patrouille. Ich konnte nicht ahnen, dass sie schon mit einer Armee hier stehen.“
Helen steckte nun ihren Degen wieder ein. „Dann danken sie Gott, dass der Zufall uns hier zusammengeführt hat. Holen sie ihr Pferd und reiten sie Richtung Osten. Nach zehn Meilen finden sie eine Niederung. Sie ist dicht bewachsen. In der Mitte befindet sich ein Felsen, dessen Nordseite eine tiefe Ausbuchtung aufweist. Dort können sie sich mit ihrem Pferd gut verstecken. Bleiben sie dort, bis wir kommen.“
Wenig später blickten sie dem General nach.
„Ich hatte gehofft, ihn noch zu treffen“, kam es von Estrella.
Nun schaute ihre Schwester sie erstaunt an. „Du wusstest, dass er hier vorbei kommen würde?“
Diese schüttelte den Kopf. „Gewusst nicht, aber ich hatte ihn richtig eingeschätzt. Auch wir haben diesen Pfad gewählt, weil wir von der Höhe aus mögliche Feindbewegungen rasch bemerken können. Nicht nur die von Engländern oder Franzosen, sondern auch von Rothäuten. Von denen weiß man nämlich nie, von wessen Seite sie gerade Feuerwasser beziehen.“
Estrella zog ihre Uniformjacke zurecht und versteckte ihr langes schwarzes Haar wieder unter dem Dreispitz.
Bald erreichten sie den Außenposten des britischen Lagers.
„Halt! Wer da?!“ erhielten sie plötzlich von einer Wache den Anruf.
„Oh Herr!“ kam es von Helen. „Wären wir echte Feinde, wäre dieser Mann längst tot.“
Über das Gesicht der Corsarin flog ein teuflisches Grinsen. „Wir sind der Feind! Aber im Moment kann ich keine Leiche gebrauchen.“
Sie ließ ihr Pferd zwei Schritte vor gehen und rief: „Lieutenant Fowler vom vierten Seeregiment unter Captain Baites. Ich überbringe Depesche für ihren Kommandanten.“
„Parole?“
„Idiot!“ zischte Estrella. Laut rief sie: „Summerwind!“
„Warten sie!“
Die Corsarin ließ ihr Pferd erneut ein paar Schritte machen. „Sergeant – wir haben keine Zeit für Sandkastenspiele! Wir sind nicht in London auf dem Sofa. Jede weitere Verzögerung wird Captain Baites zu der Überlegung führen, ob sie nicht besser auf Grover Island aufgehoben wären.“
Der Mann erbleichte. Er wusste, dass Grover Island eine gefürchtete Strafkolonie war.
„Folgen sie mir“, kam es dann.
„Na also“, stieß Estrella hervor.
Wenig später stand sie vor einem schiefen Zelt einem übergewichtigen Offizier gegenüber.
„Chief-Lieutenant Baxter?“
„Der bin ich“, kam es selbstbewusst von dem Dicken. Er versuchte vergeblich, Autorität mit seinem Mondgesicht wieder zu geben.
Estrella sprang vom Pferd und überreichte die Depesche.
Zögernd nahm Baxter diese, wobei er den Blick nicht von der Corsarin wandte. Zwei Lagerfeuer – die einzigen Lichtquellen – warfen unregelmäßige Reflexe auf Estrellas Züge.
Diese stellte sich den Fettwanst gerade nackt im Pranger vor. Wie gern hätte sie ihn wie ein Spanferkel geröstet.
Baxter drehte sich ein wenig, so dass mehr Licht auf das Dokument fiel.
„Abmarsch nach Little York? Was soll das?“ Er blickte die Corsarin an.
„Es scheint wohl, das Washington sich gar nicht hier aufhält, sondern mit einem anderen Trupp weiter westlich operiert. Er zieht auf ein Nachschublager zu, das er auf keinen Fall erreichen darf. Also brechen sie auf!“
„Und was ist mit dem Trupp dort unten im Tal?“
Estrella winkte unwirsch ab. „Den nehmen wir vor Sankt Antonio in die Zange. Washington ist wichtiger!“
Als der Dicke immer noch zögerte, bemerkte Estrella leise, aber mit gefährlichem Unterton: „Kann ich Captain Baites ausrichten, dass sie seinem Befehl Folge leisten?“
Die Corsarin musste krampfhaft das Lachen unterdrücken, als der Dicke versuchte, Haltung anzunehmen.
„Befehl wird ausgeführt!“
Estrella nickte zufrieden. „Wir werden den Trupp im Tal beschleichen und kehren dann nach Sankt Antonio zurück. In einer Stunde will ich das Lager hier geräumt sehen!“
Sogleich setzte emsige Tätigkeit ein.
Helen und Estrella wendeten ihre Pferde und ritten den schmalen, schlammigen Pfad zurück.
Von einem sicheren Platz aus, beobachteten sie als bald den Abmarsch der Engländer.
„Bueno!“ rief Estrella zufrieden aus. „Jetzt zum Tal.“
„Vorher sollten wir uns aber dieser Verkleidung entledigen“, mahnte Helen.
Eine weitere Stunde später standen sie vor Jack Klein, einem Unterführer Washingtons.
Der hörte mit Staunen, was sich zugetragen hatte.
„Heaven! Da hätte es ja ein Verhängnis geben können!“
Die Corsarin nickte ernst. „Dafür sollten sie sich bei Lucia bedanken.“


Der Wind frischt auf, Mr. Bush!“
Estrella Avilla de Aragon stand an die Heckreling gelehnt und blickte zu den weißen Federwolken empor. Neben ihr standen Helen und Lucia.
„Yes – Lady Captain!“ rief der Erste. „Wir werden schnelle Fahrt machen.“ Dann jagte er seine Jungs in die Wanten. „Volle Leinwand, Boys!“
Lucia schaute ihre Schwester an. „Ich habe dich noch nie auf See erlebt“, meinte sie. „Doch hier ist dein wahres Zuhause. Du bist so gelöst…ganz wie unsere Mutter.“
Estrella lächelte still. Dann sagte sie leise: „Unsere Mutter…Albany…an sie komme ich nicht heran.“
Lucia umarmte die Schwester. „Oh ihr Götter…du reichst alle mal an sie heran! Wenn ich dich so anschaue, dann sehe ich sie. Mit wehendem Haar – den Blick in die Ferne gerichtet – das Leuchten in ihren Augen, wenn sie auf Kaperkurs ging…du bist hundert Prozent Albany!“
Helen wollte sich leise entfernen, da hielt Lucias Ruf sie zurück.
„Warte!“ Sie lief auf die Halbschwester zu und ergriff ihren Arm. „Du hast Albany nie richtig kennengelernt, obwohl sie dich unter dem Herzen getragen hat. Und doch stehst du ihr und Estrella weit näher im Wesen als ich. Auch du gehörst auf die See. Mich dagegen hat es nie dahin gezogen. Mein Feld des Kampfes liegt wo anders.“
Sie schaute Helen tief in die Augen. „Wenn Estrella und ich uns auch äußerlich ähnlich sind – seelisch stehst
du ihr näher.“
Sie trat ganz nahe an Helen heran. Der Wind spielte in ihrer beider Haar seinen Reigen.
„Pass auf sie auf. Sie braucht dich“, flüsterte Lucia. „In euch beiden steckt das Wesen des Schwarzen Corsaren!“
Helen schluckte. Sie hatte nie erwartet – trotz aller Zuneigung und Freundlichkeit – dies von Lucia zu hören. Es gab bisher eine respektvolle Distance zwischen ihnen. Doch nun zog die ältere Schwester sie zu sich heran und küsste ihre Stirn. „Ihr beide seid auch ein Teil von mir“, flüsterte sie.
Die SILVER STAR legte sich in den Wind.
Ruhig verliefen die nächsten Tage an Bord. Die Mannschaft hatte wenig zu tun. Sam Bush lehnte meist an der Achterreling und schmauchte seine Pfeife.
Estrella, Lucia und Helen schmiedeten Pläne, wie man am besten den Gegnern der Freiheitskämpfer in Amerika Schaden zufügen könnte.
Am neunten Tag – sie näherten sich Cap Horn – sichtete der Ausguck im Krähenest des Großmastes ein Schiff.
„Wie weit?“ rief Bush nach oben.
„Fünfzehn Meilen etwa!“
„Typ?“
„Viermaster – vermutlich Linienschiff!“
Der Erste rieb sich das Kinn. Dann schrie er nach oben: „Falls er sich nähert, sofort Meldung!“
„Ay,ay!“
Helen kam vom oberen Achterdeck die Treppe hinunter.
„Sehen sie Gefahr, Mr. Bush?“
Sam zuckte die Achseln. „Dazu etwas zu sagen, wäre zu früh – Commodore.“
Der Wind drehte. Eine leichte Brise wehte von Osten. Estrella Avilla de Aragon hob prüfend den rechten Zeigefinger. Lucia, die sich etwas im Hintergrund hielt, beobachtete die Schwester. Nun kam sie näher. Sie hatte die Sorgenfalte auf der Stirn der Corsarin bemerkt.
„Wenn der Wind sich legt, könnte der Franzose uns doch noch bemerken.“ Estrella sagte dies, ohne sich umzuwenden. „Gegen diese gewaltigen neuen Kriegsschiffe haben wir kaum eine Chance.“
Lucia legte ihr die Hand leicht auf die Schulter der weißen Rüschenbluse.
„Weshalb sollte er etwas von uns wollen? Vor allem - wie kommst du darauf, dass es ein Franzose ist?“
Estrella blickte die Schwester fest an. „Wir nähern uns Falkland. Um diesen Felsen liegen sich die Engländer und Franzosen zurzeit in den Haaren.“
Lucia runzelte die Stirn. „Müsste man dann nicht eher mit einer englischen Patrouille rechnen?“
Die Corsarin schüttelte den Kopf. „Es sind noch fast hundert Meilen. So weit bewegen sich die britischen Kriegsschiffe nicht weg. Außerdem läuft das Linienschiff parallel zu unserem Kurs. Das heißt, er kam über die Rio-Grande-Schwelle.“
Lucia fuhr sich durch das schwarze Haar. Sie trug es kürzer als Estrella, der die blauschwarzen Locken bis fast zum Gürtel reichten. „Es wäre doch auch möglich, dass es sich um englische Unterstützung handelt.“
Die Corsarin angelte eine dünne Zigarre ( Tabak aus eigenem Anbau auf ALBANY )aus einer aufgesetzten Tasche ihrer Bluse. „König Georg besitzt bisher nur ein solches Schiff. THE GLORY OF BRITANNIA – und diese liegt im Moment vor Veracruz.“
Lucia rollte mit den Augen. „Thunderstorm! Du bist ja bestens informiert!“
Die Corsarin lachte laut auf. „Deshalb lebe ich noch, werte Schwester!“
Helen sprang von der Fockstack
)*1 und kam auf sie zu.
„Es flaut immer weiter ab.“
„Mierda!“ zischte Estrella. Sie blickte nach Achtern. „Mr. Bush – vier Grad Backbord. Zwei Mann in die Großrahen!“
Der erste Offizier hob eine seiner buschigen rötlichen Augenbrauen – führte den Befehl aber dann aus.
Helen schaute die Schwester fragend an.
„Wir laufen im spitzen Winkel gen Falkland. Habe wenig Lust mir die neue SILVER STAR durch eine Breitseite verschönern zu lassen.“
Der alte Bush legte den Kopf in den Nacken. „Angelo! Was macht der Vierer?“
„Hält Kurs bei!“
Der Alte nickte befriedigt. „Denke-“ wandte er sich an die Corsarin „- werden keinen Ärger bekommen.“
Doch der ‚Ärger’ – wie der Erste es ausgedrückt hatte, kündigte sich rascher an, als gedacht. Aber auf völlig andere Weise.
„Gewitterfront an Backbord“, rief der Posten aus dem Krähennest plötzlich.
Alle Blicke richteten sich dort hin. Aber sie sahen überall nur stahlblauen Himmel.
Estrella zog sich die Stiefel aus. „Werde mir das mal ansehen.“ Dann sprang sie in die Wanten und hangelte sich wie ein Affe nach oben.
„Warte!“ rief Helen und riss sich gleichfalls die Stiefel herunter.
Lucia sah den beiden Schwestern lächelnd nach. Wie sehr ähnelten sie doch Albany – ihrer aller drei gemeinsamen Mutter.
Die Gouverneurin von SAN LUCA BAY schüttelte lächelnd den Kopf.
Nein! Für
s i e war das nichts! Sie würde froh sein, wieder in ihrem weißen Rathaus zu sitzen und dem Treiben auf dem Markt des Ortes zu zusehen.
Estrella und Helen...ja – die gehörten auf das Meer. Wie Albany! Der legendäre Schwarze Corsar.
Lucia lachte leise auf. Noch immer hielten in den Hafenspelunken die Seeleute den Schwarzen Corsaren für einen Mann. Das Geheimnis war nie aufgedeckt worden. Jedenfalls nicht öffentlich.
Ein Schatten huschte über Lucias Gesicht.
)*2
Nur ganz sacht rollte die SILVER STAR von einem Wellental in das nächste.
Estrella und Helen hockten auf der obersten Rahe Großmastes. Sie hatten die Fernrohre an die Augen gepresst und beobachteten die dunkle – von Blitzen durchsetzte – Wand, die sich langsam über den Horizont schob.
„Es ist weit weg“, brummelte die Corsarin. „Vielleicht zieht es wieder ab. Sonst ändern wir den Kurs wieder auf Südwest.“
Helen setzte das Fernrohr ab und nagte an ihrer Unterlippe. Estrella, die das bemerkte, zog leicht die Brauen zusammen. „Du machst dir doch wegen des Wetters nicht ernsthaft Sorgen?!“
Helen wandte sich zu Angelo im Krähennest um. „Der Wind hat sich beinahe völlig gelegt. Was sagst du dazu?“
Der Angesprochene – etwa fünfzigjährige Portugiese, den Estrella von einer Galeere befreit hatte – knetete seine Finger. „Die Jungfrau des Himmels beschütze uns vor dem Finger Gottes“, flüsterte er.

Die Corsarin krampfte die rechte Hand in den Bramsteck. „Verfluchte Seehure! Ich fahre auch nicht erst seit gestern zur See!“ fauchte sie. „Also könnt ihr mal Klartext reden?!“
Helen verstaute ihr Fernrohr in dem Lederbeutel, den sie an ihrem Gürtel hängen hatte. „In Verbindung mit der Windstille und der Wolkenwand dort drüben könnten wir es bald mit einem Hurricane zu tun bekommen.“
Estrella winkte ab. „Dann müsste der Luftdruck noch rapide sinken. Außerdem ist es nicht die richtige Jahreszeit dafür. Ich kreuze seit achtzehn Jahren durch diese Gewässer. Erst zweimal habe ich hier so etwas erlebt.“
Sie schüttelte unwirsch ihr langes Haar. „Wir sind nicht im Golf von Neu Orlean!“

Helen nickte. „Du hast Recht. Es ist nur ein Verdacht. Aber Angelo denkt wie ich und vielleicht sollte man zwei Bauchgefühlen Beachtung schenken.“
Die Corsarin schaute noch einmal durch das Fernrohr. Dann holte sie tief Atem und bemerkte leise: „Man kann nicht vorsichtig genug sein. Bueno! Angelo – du beobachtest die Wetterfront und gibst alle Viertelglasen Meldung nach unten.“
„Si – mon capitan!“
Sie rutschte an einem Bramseil abwärts. Helen folgte ihr. Fast zeitgleich kamen sie auf den Decksplanken auf. Lucia sah ihnen abwartend entgegen. Estrella berichtete ihr kurz.
„Nun-„ meinte die Gouverneurin. „- wir haben in SAN LUCA auch schon Wirbelstürme gehabt, die sich nicht einordnen ließen. Die Natur ist sehr launisch.“
Nach zwei Stunden frischte der Ostwind wieder auf und Angelo meldete, dass die Wolkenwand sich verzogen habe.
„Linienschiff?“ rief der alte Bush.
„Nicht mehr zu sehen!“
Der Erste nickte befriedigt.
Zum Abendessen traf man sich in der Kapitänskajüte. Lucia hatte es sich nicht nehmen lassen, für ihre Schwestern und Sam Bush zu kochen.
„Mann! Das duftet ja!“ Der Alte sog mit glänzenden Äuglein die Luft ein. Er hatte das Kommando an Pietro übergebe.
Während des Essens und dem ausgezeichneten Wein – Estrella hatte ihn einem Franzosen abgenommen – erzählte der alte Bush einige Abenteuer aus seinem bewegten Leben. Lucia hörte mit vor Spannung glänzenden Augen zu.
Estrella wollte sich gerade eine dünne Zigarre anzünden, als das Schiff scheinbar von einer gewaltigen Faust emporgehoben wurde – einen Moment stillstand und dann abwärts sackte.
Das Geschirr schleuderte polternd und klirrend durch die Kajüte. Estrella klammerte sich an der Tischkante fest. Sam Bush wurde samt seinem Stuhl durch die Kajüte gefegt und Lucia schaffte es gerade noch, ihren Arm um einen der beiden Stützbalken neben dem Tisch zu krallen.
Draußen erhob sich Geschrei und Gefluche.
„Hang and Denations!“ stieß der Erste hervor.

Die Corsarin hatte sich als erste gefasst. Sie schlidderte zur Tür. Nur langsam kam die SILVER STAR wieder zur Ruhe.
Auf dem Deck herrschte das Chaos!
Zwei Rahen des Fockmastes waren gebrochen und heruntergestürzt. Eines der Großsegel hing in Fetzen herab und ein Stück der Steuerbordreling fehlte. Taurollen und Handwerkskisten lagen durcheinander. Ein Trinkwasserfass lag zerschmettert vor der Treppe zum Oberdeck achtern.
„Ruhe!“ donnerte die Stimme Sam Bushs über das Schiff. Er winkte einen jungen Mann zu sich. „Tony – was ist passiert?“
Der junge Mann wedelte mit den Armen und versuchte etwas zu sagen. Doch seine Lippen bewegten sich, wie das Maul eines Fisches auf dem Trockenen.
„Verdammt! Habt ihr den Klabautermann gesehen?“ Der Erste knirschte mit den Zähnen.
Da tauchte Diego – der erste Kanonier auf. Er blutete aus einer kleinen Wunde an der Stirn.
„Lass mal sehen“, knurrte Bush und untersuchte den Riss. „Hm – halb so schlimm. Etwas Rum drauf und verbinden.“
Diego befand sich endlich in der Lage, genau Auskunft zu geben.
„Auf einmal rauschte etwas über das Schiff hinweg. Es zischte und kreischte kurz – dann stießen wir mit etwas zusammen. Ich habe mich nur festgeklammert.“
Estrella schaute sich genauestens auf dem Deck um. „Ist jemand über Bord gegangen?“ wollte sie wissen.
Das war glücklicherweise nicht passiert.
Die Corsarin blickte zum Himmel. Die Sterne funkelten – kein einziges Wölkchen zeigte sich.
Estrella orderte Petroleumlampen. „Leuchtet die Schiffswände ab, ob wir irgendwo ein Leck haben. Angelo geht mit drei Leuten unter Deck. Durchsucht jeden Winkle!“
„Ay, ay – Lady- Captain!“
Helen stand nun mit einer Lampe neben ihrer Schwester.
„Kannst du dir einen Reim darauf machen?“ erkundigte sie sich.
Estrella richtete sich von der Reling steif auf und zog die Schwester mit sich zum Bug. Auch dort gab es ein etwa 2 Fuß breites Loch in der Rehling.
„Himmel! Wie kann so was sein?“ Helen hauchte nur.
Estrella zeigte auf das zersplitterte Geländer. „Riech mal daran.“
Ihre Schwester kam der Aufforderung nach.
„Wie ranziger Fischtran! Bah!“
Sam Bush stand plötzlich hinter ihnen. „Diego konnte unter der Wasserlinie keine Schäden entdecken“, knurrte der Alte. „Aber ich denke, wir sollten alle Lichter löschen. Eventuell handelte es sich um ein Versehen. Möglicherweise aber kommt er auch wieder.“
Die Corsarin nickte. Helen wollte etwas fragen, aber Estrella schob sie zur Seite.
„Hört zu Leute!“ rief sie über das gesamte Deck. „Jeder bleibt in Bereitschaft. Schnappt euch Äxte, Messer und Musketen. Die Pistolen könnt ihr vergessen, die nützen nichts. Haltet euch mindestens zwei Yards von der Reling entfernt.“ Sie wandte sich an ihren ersten Offizier. „Mr. Bush – schicken sie drei zuverlässige Leute auf die Spitze des Großmastes. Es wird nicht gerufen. Einer kommt leise runter und meldet seine Beobachtung, außer es ist direkte Gefahr im Verzug. Ein Freiwilliger auf ganz vor auf den Bugsteven. Er soll sich ins Auffangnetz legen und nach Möglichkeit nicht mehr bewegen. Ein zweiter Mann bleibt am Bug stehen und dient als Kurier. Sie Sam – sind die Zentrale für alle Meldungen. Jetzt Lichter aus und Ruhe.“
Lucia stand am Aufgang des Oberdecks. Trotz der nur vom Sternenlicht matt erhellten Nacht, erkannte Estrella ihr besorgtes Gesicht.
Sie ergriff Helen an der einen Hand und Lucia an der anderen. Dann huschten sie auf das Oberste Deck über der Kapitänskajüte. Seilrollen quietschten, als der drisch aufkommende Wind sie in Schwingungen versetzte. Die vier Segelmacher arbeiteten stumm an den zerrissenen Leinwänden.
Gespenstische Stille lag über der SILVER STAR – nur vom Rauschen der flachen Wellen unterbrochen.
„Zounds!“ kam es von Helen im aggressiven Flüsterton. „Könnte mir mal jemand sagen, w a s hier abgeht?“
Die Corsarin brachte ihren Mund ganz nah an Helens rechtes Ohr. „Ich hab’s bisher nur einmal erlebt. Aber nicht so heftig. Seeleute haben mir immer mal davon erzählt.“
„Scheiße!“ zischte Helen. „Von
w a s redest du?“
Beinahe lautlos formte die Corsarin das Wort: „RIESENOCCTOPUS.“
Helens Augen wurden so rund, dass man im Sternenlicht das Weiße erkannte. Leichter Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. Bisher hatte sie Berichte davon für Seemannsgarn gehalten.
Das monotone Rauschen der Wogen trug wenig zur Beruhigung der SILVER-STAR-Besatzung bei.
Die Zeit dehnte sich endlos. Immer, wenn eine Welle etwas heftiger an die Bordwand schlug, zuckten alle zusammen. Helen warf einen Blick zum Fockmast hinüber. Dort stand – wie eine Statue – Sam Bush. Die Axt mit beiden Händen umkrallt.
Anhand der Sternbilder erkannte die Corsarin, dass es auf die vierte Morgenstunde zu ging. Bald würde die Dämmerung hier einsetzen.
Nichts geschah.
Keine Anzeichen des Tiefseetieres.
„Vermutlich ist er bereits Meilen weit weg und tausend Yards irgendwo in der Tiefe“, flüsterte Estrella.
Als es hell wurde schaute sie zum Krähennest hinauf. Der Posten machte das Handzeichen von „Ruhe“.
Die Lage auf dem Schiff entspannte sich.
„Sicher sind wir ihm nur versehentlich im Weg gestanden“, bemerkte Estrella. „Mr. Bush! Lassen sie die Segel reparieren und dann Fahrt aufnehmen. Steuer Südwest!“
„Right, Captain!“ kam es zurück. Eine Stunde später nahm die SILVER STAR wieder Fahrt auf.
„Wieweit sind wir in der Nacht abgedriftet?“ wollte Estrella wissen.
„Fünfzehn Meilen Süd“, erklärte der erste Steuermann.
Die Corsarin nickte und enterte die Kajüte, um den neuen Kurs zu berechnen. Helen erklomm den Hauptmast und hielt mittels ihres Fernrohrs Ausschau nach möglichen Feindschiffen. Als sie das Rohr nach Osten richtete, zuckte sie zusammen. Ihr Atem wurde rascher.
„Verdammt!“ zischte sie und eilte sich, das Deck zu erreichen.
Sam blickte sie abwartend an. „Weshalb die Eile? Engländer? Franzosen?“
Helen drehte sich zum Ruder um und rief dem Steuermann zu: „Fünf Strich Ost!“
Sam runzelte die Stirn. „Was ist los, Mädel?“ kam es ungeduldig.
„Warte etwas ab“, gab Helen nur zur Antwort.
Eine Dreiviertelstunde später wussten sie, weshalb der Octupuss sie in Ruhe gelassen hatte. Er hatte anderweitige Beschäftigung gehabt.
Von der einst stolzen französischen Fregatte war nur ein halber, träge dümpelnder Rumpf und jede Menge Treibgut übrig geblieben. Dazu einige Dinge, die man nur mit Mühe als menschliche Körperteile identifizieren konnte. In Kürze würden die Haie hier frühstücken.
Alle wandten sich mit Schaudern ab.

Die Gischt spritzte vom Bug bis mittschiffs.

Schwer tauchte die SILVER STAR immer erneut in die Wogen des Cap Horn. Die Mannschaft hatte sich mit Tauen gesichert. Estrella und Helen klammerten sich am Heck an die Reling über der Kajüte. Lucia lag in der Kajüte auf dem Diwan und kämpfte gegen ihren Brechreiz an.
Nein – die Seefahrt war wirklich nichts für sie.
Einen halben Tag dauerte das Inferno. Estrella und ihren Kameraden machte das nichts aus. Sie waren andere Stürme gewöhnt.
Endlich erreichten sie ruhiges Wasser.
Die Sonne brach durch die Wolkenbänke.
„Klar Schiff machen!“ erschallte die Stimme der Corsarin über das Deck.
Die Mannschaft machte sich daran, aufzuräumen.
Bleich und zittrig tauchte Lucia auf. Estrella lachte leise.
„Einen Schönheitswettbewerb gewinnst du momentan nicht“, witzelte sie.
„Danke für das Kompliment“, kam es gereizt zurück. „Ich werde die Erde küssen, wenn wir endlich SAN LUCA erreicht haben werden.“
Auch Helen musste grinsen und hangelte sich rasch in die Backbord-tagelage. Sie suchte den Horizont ab, denn in dieser Gegend trieben sich desöfteren Franzosen herum. Sie sicherten ihre Interessen in Mexiko.
„Das stört die Spanier zwar gewaltig – immer wieder kommt es Scharmützeln- aber die Franzosen lassen nicht locker“, erklärte Estrella ihrer Schwester Helen.
Diese schüttelte den Kopf. „Was haben die Franzosen davon?“
Die Corsarin lachte aus vollem Hals. „Ha! Gold – Schätzchen! Es geht nur um’s Gold! Bei der Verschwendungssucht Louis XV braucht er jede Quelle. Louisiana ist versiegt.“
„Schiff voraus!“ rief der Ausguck.
Estrella schlug mit der Hand auf den Griff ihres Degens. „Da haben wir es!“
Sie warf den Kopf in den Nacken. „Nationalität?“
„Noch nicht erkennbar. Aber Linienschiff – vier Masten!“
„Mierda!“ Die Corsarin spuckte aus. „Der Franzose muss uns in der Nacht überholt haben.“
Sie jagte den Mast hinauf. Helen folgte ihr.
„Er ist es!“ knurrte die Corsarin. „Und...verflucht! Er läuft auf uns zu.“
Sie setzte das Fernrohr ab. „Gegen den haben wir keine Chance.“
Sie beugte sich nach unten. „Mr. Bush! Sofort nach Backbord abdrehen! Schnell!“
Die SILVER STAR kränkte leicht nach Steuerbord, als der Wind die Segel räffte. Doch dann schien ein Stoß durch das Schiff zu gehen und sie gewannen Fahrt.
„Bete mal zu deinem Herrgott, dass der Ausguck dort drüben blind ist“, fauchte sie zu ihrer Schwester.
Urplötzlich hingen die Segel nur noch schlaff zwischen den Spannen.
Kein Lüftchen regte sich.
„Thunder!“ brüllte Bush.
„Ein Trichter stieß Helen hervor. Auch die Corsarin blickte entsetzt.
„Was ist los“, wollte Lucia wissen.
Estrella fuhr sich nervös durch das Haar. „Ein so genanntes Windloch. Es kann etwa einen Durchmesser von einer Meile haben. Der Wind dreht sich durch eine bestimmte Thermik aufwärts und bildet so einen Kreis, der völlig unberührt beleibt.“
Lucias Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Was bedeutete das?“
Helen knetete ihre Finger. „Das bedeutet, dass der Franzose uns in spätestens einer Stunde in Kanonenreichweite hat.“
„Bei allen Seeteufeln!“ Sam Bush stampfte mit dem Fuß auf die Planken. „So wie es aussieht, hat er drei Kanonendecks. Der schießt uns in Grund und Boden! Hang and Denations!“
„Hm“, machte Estrella und dann umspielte ein satanisches Lächeln ihre Züge. Ihre hohe Gestalt straffte sich. „Mr. Bush – französische Flagge hissen!“
„What?“ Der Erste machte große Augen.
Die Corsarin legte den Kopf schief. „Als Franzose werden wir hier weniger auffallen. Vielleicht lässt man uns dann passieren. Falls das Kriegsschiff aber näher kommt, werden wir uns vorbereiten. Schicken sie vorsichtshalber noch zwei Mann nach oben.“
Bush salutierte. „Ay, Madam!“
Lucia lachte. „Sam ist der einzige, dem du gestattest, seine Heimatsprache an Bord zu benutzen.“
Nun lächelte auch die Corsarin sanft. „Ja – Sam Bush ist etwas Besonderes.“
„Schiff nähert sich!“ rief der Ausguck bald.
Die Corsarin stieß die Luft scharf aus. „Dann ist es so weit. Alles herhören!“
Dann gab sie ganz präzise Anweisungen.
„Haltet euch daran Leute, wenn ihr nicht den Rest eures Lebens auf einer Strafgaleere verbringen wollt. Die Franzosen sollen nicht sehr gastfreundlich sein.“
Nach einer weiteren Stunde kam das Linienschiff in Sichtweite. Bush presste das Fernrohr vor sein rechtes Auge. „Es ist die CHEVALIER. Von der habe ich bereits gehört. Hat sechzig beste Kanonen. Um dem zu entkommen, müsste der Satan sich mit Gott verbünden.“
Der Corsarin merkte man die Anspannung an. „Eine Breitseite würde reichen, um uns auf den Grund zu schicken. Also...denkt an unseren Plan!“
Sie, Helen und Lucia steckten in Seidenkleidern, die man bei Hofe nicht besser hätte finden können. Der Rest der Mannschaft steckte in mehr oder minder gut sitzenden Armeeuniformen. Sie stammten aus der Kaperung eines Französischen Händlers, der Waren für das Fort
Isle Royale)*5 geladen hatte.
Die CHEVALIER kam näher. Der mächtige Bug wirkte ehrfurchtgebietend.
Das Schiff näherte sich bis auf etwa 9oo Yards.
„Er signalisiert“, knurrte Bush. „Er fragt, wer wir seien und wo unser Zielhafen liegt.“
„Antworten sie: Valparaiso!“
Der Erste gab den Befehl an den Signalgasten weiter.
Sogleich kam die nächste Frage: Wie ist der Name des Schiffes und der Heimathafen?
Antwort: Marseille. Schiff: VANCOLLEUR.
Frage: Welche Ladung?
Antwort: Tuche und Garne
„Hoffentlich schluckt er das“, kam es kehlig von Sam Bush. „Valparaiso ist ein verfluchtes Nest.“
Da folgte das Signal von der CHEVALIER: Schicken Prisenkommando. Haltet Logbuch bereit.
„Verdammte Hurensöhne!“ Helen spie es aus.
Estrella legte ihrer Schwester beruhigend die hand auf die Schulter. „Sollen sie kommen. Wir nehmen sie als Geiseln und dann wird man sich überlegen, ob man uns zusammenschießt.“
Das Linienschiff kam bis auf vierhundert Yards heran und ließ ein Boot zu Wasser.
„Zwölf Seesoldaten und ein Offizier“, murrte Bush.
Ein Teil der Mannschaft der SILVER STAR hielt sich versteckt. An der CHEVALLIER zog man die Klappen von den Kanonen.
„Verflucht! Er misstraut uns!“ Bush verkrampfte die Finger in seinen Gürtel.
Das Kommando kam längsseits.
„Commandeur Charles de Verde!“ rief der Offizier.
Bush antwortete in fließendem Französisch: „Captaine Jaques Montrell. Kommen sie an Bord.“
Vier Soldaten blieben mit Schussbereiten Musketen im Boot zurück. Der Rest stieg über die herab geworfene Strickleiter an Bord.
Charles de Verde warf einen anerkennenden Blick auf die drei Frauen.
„Holla, Mesdames – ich bin entzückt.“
Bush lächelte freundlich. „Die Damen reisen zu ihren Diplomatengatten, die vor einiger Zeit von unserem König entsandt worden sind.“
Der Offizier hob eine Augenbraue. „Wir haben Diplomaten in diesem Spaniernest? Unglaublich!“
Plötzlich spürte er die spitze eines Dolches im Rücken.
„Es gibt Diplomaten dort!“, zischte Estrella. „Wenn sie nicht sterben wollen, folgen sie meinem ersten Offizier unauffällig zur Kajüte.“
Die anderen Soldaten hatten den Rat nicht mitbekommen.
Stumm folgte der Franzose dem Befehl. In der Kajüte drehte Sam Bush sich um und zog seine Pistole.
„Genießen sie es, unser Gast zu sein, Monsieur.“




„Sie haben keine Chance, Mademoiselle Avilla de Aragon“, sagte de Verde mit ruhiger Stimme. „Wir wussten, dass sie hier auftauchen würden. Auf Befehl des Königs von Frankreich haben wir sie festzunehmen.“
Die Corsarin zuckte zusammen. Wer konnte wissen, dass sie diese Route fahren würde?
Sam Bush gewann als erster seine Fassung.
„Sie haben uns also aufgelauert“, stellte er fest. „Sie verstehen, dass wir deshalb unsere Maßnahmen ergreifen müssen.“
„Monsieur“, begann de Verde neu. „Sehen sie es ein – sie haben keine Möglichkeit uns zu entkommen. Die Fregatte COLEUR wird in kürze gleichfalls hier eintreffen. Unser Befehl lautet, die Corsarin und ihre Mannschaft gefangen zu nehmen. Wir sichern ihnen ihr Leben zu, wenn sie keinen Widerstand leisten.“
„Ha!“ machte Bush. „Um dann als Galeerensklaven zu schuften! Hol’ euch der Teufel!“
Da erhob sich draußen an Deck Kampflärm.
„Mierda!“ stieß Estrella hervor und riss den Degen von der Kajütenwand.
De Verde grinste schäbig. „Unser Kommando hat die SILVER STAR geentert. Geben sie auf, Mademoiselle Avilla!“
„Die Seeschlange soll euch fressen!“ schrie sie. Sie stürzte zur Tür. Bevor sie diese öffnete, wandte sie sich noch einmal um. „Ach- Commandeur, ihre Fregatte liegt bereits als Wrack auf dem Meeresgrund. Sie stand einem Octopuss im Weg.“
Dann stürmte sie mit einem Kriegsschrei an Deck.
De Verde war blass geworden.
„Sorry“, knurrte Bush und schlug ihm den Pistolenknauf auf den Schädel. Dann stürzte er sich ins Kampfgetümmel.
An Deck hatte man Mühe, Freund und Feind auseinander zuhalten. Die CHEVALIER lag seitschiffs, konnte aber ohne sich selbst zu gefährden die Kanonen nicht einsetzen. Jedoch versuchte man durch Enterseite die SILVER STAR heran zu ziehen.
Bush jagte dem nächst stehenden Franzosen die Degenklinge durch den Leib, sodass sie am Rücken wieder austrat.
Dann wirbelte er herum. Estrella – sie hatten das Kleid seitlich bis zu den Oberschenkeln aufgerissen – focht aus der Fockmastwante mit zwei Seesoldaten gleichzeitig. Helen und Lucia konnte der Erste im Getümmel nicht ausmachen.
Die Mannschaft des Corsaren schlug sich tapfer.
Da erkannte der alte Bush Helen. Sie hatte sich das störende Kleid vom Leib gerissen und sprang völlig nackt über Bord.
Bush hatte wenig Zeit, sich Gedanken zu machen, denn er wurde von vier Franzosen bedrängt.
Estrella verabreichte einem ihrer Gegner einen Tritt vor den Kopf. Schreiend stürzte er auf das Deck zurück. Da schwang sich – einem Phantom gleich – Lucia an einem Tau vom Achtermast über das Deck und katapultierte sich in einen Trupp Franzosen.
Andere Mitglieder der Crew schlugen mit Beilen auf die Enterseile ein. Ein Schuss krachte! Von irgendwo ertönte ein Schrei. Gehetzt riss Estrella den Kopf herum. Einer ihrer Männer hielt sich den blutenden Arm. Da sah sie den Schützen in der Tagelage des Franzosen. Sie trat einem Angreifer, der sie am Gürtel packen wollte gegen den Kehlkopf – der bracht gurgelnd zusammen – dann sauste sie wie ein Eichhörnchen den Mast hoch, schwang sich auf die Klüverleiter und kletterte weiter. Dann ergriff sie eines der frei pendelnden Seilenden, die von der Rahe herab hingen, stieß sich ab und schwang zur CHEVALIER hinüber. Unbemerkt im Getümmel landete sie oberhalb des Scharfschützen in den Wanten des Linienschiffes. Alles konzentrierte sich auf die SILVER STAR.
Der Schütze legte erneut an.
Da fuhr ihm das zielgenau geworfene Messer in den Nacken. Der getroffene Nervenstrang blockierte jede Bewegung und der Mann blieb völlig steif, sofort vom Tod ereilt, in seiner eingenommenen Haltung. Dann löste sich die Muskete aus seinen Händen. Sie stürzte ins Wasser. Ganz langsam – wie eine Gliederpuppe, der man die Zugfäden zerschnitten hat, kippte der Franzose hinterher. Niemand hatte etwas bemerkt.
Mit zusammengepressten Lippen ließ die Corsarin den Blick schweifen. Dann erkannte sie auf der Treppe zum ersten Kanonendeck den kleinen dunkelhaarigen Mann in der Admiralsuniform.
Wenn sie den schnappen könnte...?
Ihr Körper straffte sich. Sie spannte alle Muskeln an, knickte leicht in den Knien ein und schoss wie von einem Katapult geschleudert vom Kreuzmast zum Großmast hinüber. Sie klammerte sich in die Wantenseile. Dann nahm sie einen langschneidigen Dolch aus dem rechten Stiefelschaft, klemmte ihn sich zwischen die Zähne und...ließ sich fallen.
Der Kommandant der CHEVALIER zuckte herum, als er das Geräusch hörte, doch da zeigte es sich zur Gegenwehr spät. Die Corsarin ergriff in von hinten, umschlang mit einem Arm den schmächtigen Oberkörper und setzte mit der anderen hand die Schneide des Messers an seine Kehle.
„Möchtet ihr wissen, ob der Papst Recht hat oder lieber am Leben bleiben?“ zischte Estrella.
Der Mann wurde noch bleicher, als er es ohne hin schon war.
„Ich werde jetzt den Druck der Klinge geringfügig lockern. Dann pfeift ihr alle eure Männer zurück auf dieses Schiff. Eine Silbe, die mir nicht gefällt und euer Kehlkopf liegt auf den Decksplanken.“
Der Kommandant schluckte. „Dann machen euch meine Soldaten den Garaus!“
„Korrekt, Monsieur. Aber wir beide kämpfen dann vielleicht auf der Milchstraße weiter. Wenn ihr daran Gefallen findet...“
„Bon“, krächzte er.
„Dann jetzt!“
„Alles zurück auf die CHEVALIER! Kampfhandlung einstellen!“
Die Offiziere blickten ebenso verdutzt, wie die Männer der SILVER STAR.
Nur Sam Bush grinste mit einemmal, als er den Grund für den befehl erkannte. „Teufelsbraten!“ zischte er.
Es dauerte seine Zeit, bis auf beiden Schiffen wieder etwas Ordnung herrschte.
Da krachte es kräftig am Heck des Linienschiffes. Eine Stickflamme schoss vom Ruder her bis zum Kapitänsdeck hinauf. Dann wurde alles in dichten schwarzen Rauch gehüllt.
Nur Sekunden später sah man auf dem französischen Schiff die Hand vor Augen nicht mehr.
Jemand auf dem Corsarenschiff kappte das letzte Enterseil. Estrella registrierte das und ließ von dem Kommandanten ab. Sie sprang auf die Reling und von dort mit einem weiten Satz auf das Deck der SILVER STAR.
„Schiff in den Wind!“ schrie sie.
Eine Auffrischende Brise hielt den schwarzen Nebel von dem Corsarenschiff fern.
Leben kam wieder in die Mannschaft. Von dem Franzosen vernahm man laute Flüche und Geschrei.
„Ich habe ihr Steuer blockiert!“ rief Helen. „Vier Grad Nord! Wenn wir vor ihrem Bug sind, können sie nicht feuern!“
Das Corsarenschiff glitt an der Nebelwand vorbei. Da krachten die ersten Kanonenschüsse. Doch sie verfehlten die SILVER STAR um mehr als dreißig Yards.
Der Wind trieb das Schiff quer zum Bug des Franzosen.
„Feuer!“ schrie Estrella. Mit einem Aufschrei hielt Diego die Lunte an eine der Sterbordkanonen. Es krachte! Ein Zittern erfüllte die SILVER STAR. Die Kugel jaulte und schlug die Galionsfigur des Linienschiffes in Fetzen. Teile des Bugstevens wirbelten herum.
„Volle Leinwand!“ Das Kommando der Corsarin donnerte über das Deck. Die SILVER STAR legte sich nach Back über und gewann an Fahrt.


Die haben noch eine Weile zu tun, bis ihr Ruder wieder funktioniert.“ Helen lachte aus vollem Hals. Der Franzose war weit hinter dem Horizont verschwunden.
„Kurs nach SAN LUCA aufnehmen, Mr. Bush!“ sagte Estrella ruhig.
„Ay, ay – Captain!“ Doch dann blickte der erste Offizier sich suchend auf dem Schiff um. Ein Teil der Mannschaft räumte die Kampfspuren weg.
Die Corsarin schaute ihren ERSTEN fragend an.
„Wo...ist der Commandeur und...verdammt – wo ist Lucia?“ kam es gepresst.
Estrella und Helen zuckten zusammen.
Sie suchten das gesamte Schiff ab. In der Kajüte entdeckten sie eine dünne Blutspur.
Helen erfasste die Situation als erste.
„Ich habe Lucia noch im Kampfgetümmel gesehen. Dann muss sie dieser Bastard überwältigt haben und möglicherweise auf die CHEVALIER geschafft haben.“
Estrella umkrampfte bleich den Griff ihres Degens. Sie schluckte mehrfach trocken. Dann wirbelte sich herum und rannte zum Rudergänger. Mit aller Macht warf sie sich in das Doppelrad. „Kehrtwende!“ schrie sie.
Sam wollte etwas sagen, brachte aber momentan kein Wort heraus. Helen – die die Verzweiflung in den Augen ihrer Schwester sah, setzte ihr nach und hielt sie mit aller Kraft fest. „Lass den Unsinn! Rudergänger...übernehmen! Kurs beibehalten!“
Die Corsarin wehrte sich.
Sie entwickelte eine ungeahnte Stärke.
Da schlug Helen kurz und trocken zu. Estrella sackte zusammen.
„Patros und Björn! Bringt sie in die Kajüte. Sie wird mindesten eine halbe Stunde schlafen.“
Dann wandte sie sich an den Ersten. „Sam – gegen die Kanonen des Franzosen kommen wir nicht an. Ich denke, er wird noch einige Zeit benötigen, um sein Ruder zu reparieren. Die ägyptische Spezialmischung mit Phosphor wird die Steuerseile verbrannt haben. Selbst wenn sie instand- setzen, kommen sie nur langsam weiter.“
Der Alte nickte. „Verstehe! Du willst der CHEVALIER langsam folgen.“
„Ja – mit dem lädierten Ruder kann er die Fahrt um das Kap nicht wagen. Also muss er hier einen Hafen anlaufen, der für ihn sicher ist.“
Sam Bush kratzte sich den Bart. „Da gibt es nur eine Möglichkeit – Sankt Arc.“
Helen nickte. „Eine winzige Ringinsel, die nur eingeweihten Seefahrern bekannt ist und durch vulkanische Tätigkeit jederzeit vom Untergang gefährdet ist.“
Sam blickte zum Himmel. „Vor sechs Jahren ist diese Insel beinahe durch eine Todeswelle zerstört worden. Sie dient der französischen Admiralität als geheime Strafinsel. Die Gefangenen müssen die havarierten Schiffe instand halten und in den Kupferminen schuften. Wer dort landet, kehrt niemals ins Leben zurück.“
„Ja...sie ist auf keiner gängigen Karte verzeichnet. Man munkelt in den Tavernen davon, dass Louis XIV seine politischen Gegner dort hin verschiffte um gleichzeitig eine geheime Operationsbasis zu besitzen.“
Sam Bush begann nervös seine Pfeife zu stopfen. „Mädel...das wäre ein Ding, wenn wir durch die Verfolgung der CHEVALIER diesen Stützpunkt ausfindig machen würden.“ Er machte eine kleine Pause. Dann setzte er leise hinzu: „Falls diese Insel nicht tatsächlich nur eine Legende ist.“
Helen grinste. Aber ihre Augen blieben hart dabei. „Es gibt sie. Albany ist dort gewesen.“
Sam Bush zuckte zusammen. „Thunder! Woher willst
d u das wissen?“
Helen de Vere lehnte sich an die Reling und lenkte den Blick in die Ferne.
„Das einzige, was ich von meiner Mutter besitze, ist ein Tagebuch. Es liegt wohl verwahrt bei einem Freund. Darin hat sie beschrieben, wie sie mit ihrem stark durch Sturm beschädigten Schiff an der Insel vorbei trieb. Sie sah das rettende Eiland durch ihr Fernrohr, konnte aber wegen einer Fregatte nicht in die kleine Bucht einfahren. Sie schrieb, dass dies nur Sankt Arc, die legendäre Kolonie sein konnte.“
Bush setzte den Tabak in Brand. Zwischen einigen dicken Rauchwolken knurrte er: „Das muss mit der DRAGONIA gewesen sein. Sie und nur vier ihrer Leute haben den Untergang des Schiffes überlebt. Auf einem abenteuerlichen Weg konnte sie nach Spanien zurückkehren. Sie hat nie richtig darüber gesprochen.“
Helen straffte sich. „Mr. Bush – Wendemanöver! Nach zwei Stunden Nord auf West drehen und Leinwand einholen. Vier Mann in die obersten Rahen als Ausguck!“
Der Erste stieß zischend den Atem durch die Zähne. „Zu Befehl – Commodore!“

Die Sterne verdunkelten sich. Das Meer wühlte auf. Seit an den Nerven zerrender Zeit lag die SILVER STAR in Lauerstellung.
Helen stand mit Sam Bush am Bug. Estrella hatten sie nur einmal wüten aus der Kajüte kommen sehen. Nun stand sie am Heck und starrte einen imaginären Punkt am dunklen Horizont an.
„Sie würde dich am liebsten Teeren und Federn“, grunzte Bush.
„Hätte ich nicht eingegriffen, wäre sie unüberlegt der CHEVALIER entgegen gefahren. Ungeachtet der Kanonen.“ Helen verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sie liebt Lucia über alles.“
„Was hätte es genutzt, wenn man uns auf den Grund gejagt hätte?!“
Sam Bush nickte langsam. „Schon richtig – aber die Angst um die Schwester zerreißt ihr das Herz.“
Helen schluckte. „Mir auch, Sam“, kam es leise. „Aber nur mit Umsicht gibt es eine Chance, sie zu befreien.“
„So sie noch lebt.“
„Das gebe Gott, Sam – das gebe Gott!“
Die Wellen gewannen an Höhe.

„Wenn deine Annahme stimmt, müsste man die CHEVALIER längst sehen“, murrte Sam. „Es sei denn sie ist...“
Helens Hände verkrampften sich. „Er kann keinen spanischen Hafen anlaufen und um das Kap...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das wagt er nicht!“
Doch der Franzose tauchte nicht auf.
Helen lief nervös an Deck auf und ab. Endlich hielt der Erste sie fest.
„Wenn er Mut besaß, ist er durch den natürlichen Kanal gefahren und hat das gefährliche Kap gemieden.“
Helen schwieg. Endlich meinte sie: „Es wäre ein Abenteuer, nicht auf die Felsen zu laufen. Nur ganz eingeweihte Seefahrer wagen das. Lieber nehmen sie die Stürme des Kaps in kauf.“
Der Alte fuhr sich mit der Zungenspitze über die Schneidezähne. „Wenn nun doch...?“
Helen hob den Kopf. „Ausguck! Irgendetwas zu sehen?“
„No, Commodore!“
Helen drückte das Kreuz durch. Dann rief sie: „Gut, Mr. Bush – wenden, volle Leinwand – Kurs Südost!“
Hektisches Getriebe entwickelte sich auf dem Schiff.
Estrella verkroch sich in ihrer Kajüte.
Helen blieb unschlüssig stehen – dann stieß sie die Tür auf.
„Was ist? Persönlich verletzt? Du wärst dem Franzosen direkt vor die Mündungen gefahren.“
Die Augen der Corsarin schienen Blitze zu schleudern.
„Du bist doch nur eine verfluchte Inglis.“ Sie ergriff einen Kartenbeschwerer und schleuderte ihn gegen Helen.
Helen wich geschickt aus. Dann kam sie nahe an die Schwester heran und flüsterte – mit gefährlichem Unterton: „Hör zu, du große Herrin der Weltmeere. Ich kann dich verstehen. Auch ich habe Angst um Lucia und wir hauen sie heraus. Aber nicht mit Wut im Bauch, so wie du es willst! Mit Bedacht!“

„Ha!“ geiferte Estrella. „Bedacht? Wo hin führt dein B e d a c h t ? Wir haben
unnütze Zeit verloren! Der Franzose ist über alle Wellen!“
Helen schlug mit der flachen Hand auf den Kartentisch, dass es nur so knallte. „Er hat ein nur notdürftig repariertes Steuer! Er hat vermutlich den Kanal benutzt. Wegen der Riffe und des Ruders kommt er bei seinem Tiefgang nur langsam vorwärts. Wir kriegen ihn!“
Die Corsarin brachte ihr Gesicht ganz nahe an das Helens heran. Sie schien zu einem Mord fähig.
„Wenn er nun eine der kleineren Landzungen oder Felseninseln angelaufen hat?“
Helen richtete sich wieder aus ihrer leicht gebückten Stellung am Kartentisch auf. „Was sollte er dort? Dazu kann er nicht gut genug manövrieren. Außerdem hilft ihm das nicht weiter. Er muss einen Stützpunkt anlaufen.“
„Einen Stützpunkt anlaufen!
Haaa!“ höhnte Estrella. „Wo denn bitte?“
„Yamana“
Die Corsarin riss die Augen weit auf. „Yamana...das wäre ein Chance.“
Sie stieß Helen zur Seite und rannte auf Deck.
„Mr. Bush! Kurs auf Yamana. Aber
um das Kap!“
Der Alte schluckte und nickte dann heftig. „All right! Um das Kap!“
Er wandte sich um und schrie dem Bootsmann zu: „Alles fertig für Kapfahrt! Setzt jeden Fetzen! It’s clear!“
Ein leichtes Lächeln glitt über Helens Züge. „Na bitte!“ flüsterte sie und betrat gleichfalls das Deck.

Dichter Nebel hüllte die SILVER STAR ein. Von Fern hörte man Schiffsglocken.

„Handelsfahrer“, brummte Sam Bush.
„Er müsste bald kommen“, gab Helen leise zurück. Wie ein Schemen kam die Corsarin an die beiden vom Kajütendeck heran. „Wir werden ihn nicht sehen können“, zischte sie.

„Nein“, kam es von Bush. „Aber hören. Wenn er in den Stützpunkt will, muss er Signal geben. Schon wegen der anderen Kriegsschiffe.“
Helen versuchte mit den Augen die dichte grauweiße Wand zu durchdringen.
„Wie viele Schiffe werden in Yamana liegen?“
Der Erste zuckte die Achseln. „Zwei...vielleicht drei. Mehr Platz ist nicht und die Franzosen sind nur geduldet.“
Sie schwiegen und lauschten gespannt den Glocken.
„Das ist die GARMS“, flüsterte Bush plötzlich. „Ein Schoner der britischen Marine.“
„Was? Er gibt Nebelsignal in mitten vom Feind?“
„Ach...“ Sam Bush wischte mit der Hand durch die Luft. „In solchem Wetter will keine der Parteien eine Kollision riskieren. Zwei verlorenen Schiffe...wem bringt’s was?!“
„Das wäre doch die Gelegenheit, eines der verfluchten Kriegsschiffe zu kapern“, überlegte Helen.
„Wir sollten erst Lucia befreien. Dann ist noch Gelegenheit genug dazu.“
.

Die Zeit verging
Drei Stunden...vier Stunden...der Nebel begann sich zu lichten.
„Es wird zu gefährlich hier“, gab der Erste zu bedenken.
„Wir warten!“ befahl Estrella.
Sam Bushs Blick nahm einen sehr besorgten Ausdruck an. „Estrella – wenn man uns hier auf Reede sieht, könnte man uns in die Zange nehmen.“
„Wir bleiben! Kanonen bereit machen! Flagge von Santander!“
Sie hatten das Glück, dass sich eine neue Wolke Nebelschwaden bildete, wenn auch nicht so dicht, wie Stunden vorher.
Unbeweglich stand die Corsarin und lauschte auf weitere Schiffsglocken. Doch Friedhofsstille lag über dem Meeresarm.
Estrella trat an den Bootsmann heran und sagte knapp: „Beiboot zu Wasser! Ich rudere an Land.“
Helen stürzte auf die Schwester zu. „Bist du lebensmüde?“
Die Corsarin schüttelte Helens Hand ab, die sie ihr auf die Schulter gelegt hatte. „Ich muss wissen, ob die CHEVALIER schon da ist.“
„Gut – ich komme mit!“
„Das wirst du nicht!“
„Das werde ich doch! Oder ich lasse dich von Sam in Ketten legen.“
Das Gesicht der Corsarin nahm eine Farbe an, als wolle sie explodieren.
„Wer ist der Boss auf diesem Schiff?“
Helen zog die Augenbrauen hoch. „Momentan ich – der Commodore!“
„Mädels! Das ist nicht die zeit für einen Streit!“ kam es von Sam Bush. „Fahrt beide. Ich fahre notfalls die SILVER STAR aus der Gefahrenzone. Ihr müsst eventuell bis zur Dunkelheit warten, um wieder an Bord zu kommen.“
Der erste Offizier sah, wie das Beiboot vom Dunst verschluckt wurde.
„Keiner spricht mehr ein Wort!“ befahl der Alte.
So lautlos es ging, ruderten Estrella und Helen dem Land zu. In einer dicht bewachsenen kleinen Bucht konnten sie das Boot verstecken.
„Gibt es hier keine Wachen?“ flüsterte Helen leicht nervös.
Estrella schüttelte den Kopf. „Wozu? W a s sollte jemand hier stehlen oder sabotieren?“
„Die Engländer könnten die Franzosen überfallen...“
„Der Krieg spielt sich wo anders ab. Niemand wird wegen dieses Nestes hier Soldaten verlieren wollen.“
Durch das dichte Unterholz erreichten sie eine steinige Ebene. Von dort aus richtete sich der Blick auf eine kleine Ansiedlung aus Holz – und Fachwerkhäusern. In einer halbmondförmigen Bucht hatten die Franzosen einen Hafen angelegt. Vier Fregatten und einige Fischerboote lagen dort.
Von der CHEVALIER keine Spur.
Estrella stand unter dem ausladenden Ast eines breitkronigen Baumes.
„Wenn der Schaden am Ruder doch nicht so stark gewesen ist und man sich entschlossen hat, dem eigentlichen Ziel zu zufahren...“
Estrella flüsterte es nur.
Helen nahm die Schwester in den Arm. „Jetzt denke in deiner Angst um Lucia logisch! Wo ist die analytisch denkende Corsarin geblieben? Wir – die SILVER STAR – ist das Hauptziel gewesen. Wir werden jetzt darunter gehen und uns in der Hafenspelunke umhören.“
Sie steckten ihr Haar unter den Hüten zusammen, damit man sie nicht auf hundert Yards als Frauen erkannte und marschierten los.
BARQUE hieß die einzige Kneipe des Ortes. Ein halbrundes Tor mit einer steilen Treppe aus ausgetretenen Stufen führte abwärts. Der muffige Geruch von schalen Bier und Kohl drang herauf. Helen rümpfte die Nase.
Der Laden zeigte sich noch mäßig gefüllt. Die Besatzung eines Handelseglers aus Schweden drängte sich lautstark in einer Ecke des kellerartigen Gewölbes.
An einem Tisch in einer aus Naturstein gehauenen Nische, saßen zwei französische Offiziere.
„Gut, dass es hier so düster ist“, flüsterte die Corsarin. Sie drückten sich an einen Tisch, der sich nur eine Nische von den Offizieren weg befand.
Der dicke Wirt watschelte heran. Er betrachtete die beiden Neuankömmlinge aus seinen Schweinsäuglein und brummte: „Was darf’s sein?“
„Bier“, knurrte die Corsarin mit verstellter Stimme. Der Dicke nickte und verschwand. Kurze Zeit später brachte er das Verlangte.
„Von welchem Schiff seid ihr?“ erkundigte er sich.
Helen rollte mit den Augen, was aber nur Estrella sehen konnte. Jetzt keinen Fehler machen.
Die Corsarin ergriff den Tonkrug, senkte den Kopf leicht und brummte: „Noch von keinem. Sind über Land gekommen und warten auf die CHRISTINA.“
„Die CHRISTINA? Hört sich schwedisch an.“
Estrella schüttelte den Kopf. „Dänisch.“
„Ah ja“, machte der Wirt und trollte sich.
„Der Bursche ist misstrauisch“, flüsterte Helen.
Ihre Schwester nickte. „Wir sollten hier schnell wieder verschwinden.“
Da brach in der schwedischen Gruppe Getöse aus. Zwei Burschen gerieten sich in die Haare. Ein Tonkrug zerplatzte.
Innerhalb von Sekunden zeigte sich die beste Schlägerei im Gange.
Die beiden französischen Offiziere sprangen auf und zogen ihre Pistolen.
„Tranquillite’ !“ rief einer der beiden.
Da krachte der Schuss.
Der Offizier griff sich an die Brust, die Waffe entglitt seiner Hand – er stürzte auf den Steinboden.
Plötzlich herrschte Stille.
Man hätte das Flügelschlagen einer Mücke hören können.
Der zweite Franzose stand wie aus Erz gegossen. Dann zuckte sein Hand zum Degen.
Estrella und Helen verständigten sich kurz durch Blicke.
Sie sprangen auf. Helen fing den Wirt am Fuße der Eingangstreppe ab. Sie setzte ihm ihren Dolch an den Hals.
Die Degenspitze der Corsarin bohrte sich leicht, aber schmerzhaft in den Nacken des Franzosen.
„Monsieur – begehen sie jetzt keinen Fehler.“
Der Mann atmete schwer. „Sie decken einen Mörder!“ stieß er hervor.
„No, Monsieur“, erwiderte Estrella. „Ich kann jetzt nur keinen Ärger gebrauchen.“
„Den Schuss hat man draußen gehört. Die Gendarmerie wird gleich hier sein.“
„Deshalb müssen wir uns beeilen. Ich benötige lediglich eine Auskunft von ihnen. Dann können sie den Mörder ihres Kollegen festnehmen. Verweigern sie die Auskunft oder sie erscheint mir falsch – liegen sie neben ihm.“
Die Stimme der Corsarin ließ keine Zweifel an der Durchführung ihrer Absichten aufkommen.
Der Franzose stieß heftig den Atem aus. „Wer immer sie sein mögen...was wollen sie wissen?“
„Wann wird die CHEVALIER hier erwartet?“
Der Offizier wandte fragend den Kopf ein wenig. Estrella verstärkte den Druck des Degens. „Ich weiß, dass sie unterwegs ist. Was immer in ihrem Kopf vorgehen mag – vergessen sie es! Ich will nur diese Auskunft!“
Der Offizier ließ die Arme schlaff an den Körperseiten herab hängen.
„Die CHEVALIER wird gar nicht hier einlaufen. Sie hat Befehl von der Admiralität einen Corsaren aufzubringen und dann so rasch es geht nach Marseille zu segeln. Durch die
Magellan Strasse. Ein Minister des Königs von Frankreich befindet sich an Bord.“
Estrella verstärkte den Druck noch ein wenig. Ein winziger Blutstropfen bahnte sich seinen Weg.
„Nehmen wir an, das Schiff sei beschädigt...“
„Dann würde es kommen. Allerdings würde der Minister vorher auf die ANNJOU umsteigen, um so schnell wie möglich nach Versailles zu gelangen.“
Estrella schluckte. ‚Mierda!’ schoss ihr durch den Kopf.
„Ist das auch eine Fregatte?“
„Oui, Monsieur. Das Rendezvous war ausgemacht, um den Corsaren in die Zange zu nehmen.“
Zum Glück konnte der Offizier nicht sehen, wie Estrella blass wurde. Sie wandte sich an den dicken Wirt, der vor Angst schlodderte. „Gibt es hier einen sicheren Raum?“
„Ja...einen Keller...durch die Falltür...“
Er deutete auf eine Klappe vor der Theke.
„Öffnen!“ befahl die Corsarin.
Wenig später hatte sie mit Helen alle Männer – einschließlich des Toten eingesperrt. Sie selbst trugen nun die französischen Uniformen.
„Gut nur, dass man bei diesen Schnitten nicht sofort merkt, dass die Klamotten etwas zu groß sind“, feixte Helen.
Estrella ergriff ihren Becher und leerte ihn mit einem Zug. Dann rief sie:
„Jetzt aber weg hier!“
Eben als sie das Tageslicht wieder erreichten, marschierte eine Kompanie Seesoldaten um eine Gassenecke. In strammen, aber nicht auffälligen Schritt, machten sich Estrella und Hellen entgegengesetzt davon.
Sie hatten beinahe den Hügel wieder erreicht, von dem sie in den Ort herab gelangt waren und wollten in das Wäldchen abbiegen, um zu der Bucht zu gelangen, in dem sie das Beiboot versteckt hatten – da vernahmen sie Geschützdonner.
„Verdammt!“ rief Helen erschreckt. „Das ist die SILVER STAR!“
Sie rannten los. Als sie in die Bucht sehen konnten, erkannten sie, dass Sam Bush ein Wendemanöver eingeleitet hatte. Von einem anderen Schiff zeigte sich noch nichts.
„Sam will uns warnen!“ stieß die Corsarin hervor.
Sie schlidderten den sandigen Abhang hinunter und erreichten ihr Boot. Helen winkte mit dem Hut in der Hand zum Schiff hinüber, damit man sie erkannte.
Dann donnerte erneut eine Kanone auf.
Die beiden Schwestern erstarrten.
Hinter einem weit hervorstehenden Felsen zeichnete sich der Bug eines gewaltigen Kriegsschiffes ab.
Die CHEVALIER !

Ich bitte sie, Madame...es täte mir unendlich leid, ihnen...sagen wir mal – Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen.“
Yves de Rouge – Kapitän der ANJOU – schenkte Lucia ein Glas Rotwein ein.
„Sehen sie – ich habe einen Auftrag. Mein König verlangt ihn von mir. Also...muss ich ihn erfüllen.“
Lucia Avilla de Aragon lächelte freundlich. „Monsieur – ich weiß ihr charmantes Verhalten bis jetzt zu schätzen und glauben sie mir – auch mir wären...wie sagten sie noch...Unannehmlichkeiten sehr zuwider. Aber ich kenne keine Corsarin. Ich bin lediglich von einem spanischen Handelsschiff entführt worden, als das Kriegsschiff auftauchte. Zum Glück für mich! Es gab kaum Gelegenheit, diese Piraten, die uns enterten näher zu betrachten.“
Rouge lächelte verbindlich. „Sie wollen mir demnach erzählen, sie seien entführt worden...unser Linienschiff traf dann wenig später auf das Corsarenschiff und im Eifer des Gefechtes konnten sie fliehen.“
Lucia ergriff das Glas und nickte.
Die Armbewegung vollzog sich so rasch, dass sie diese erst gar nicht wahrnahm. Ihr Glas flog im hohen Bogen durch die Kajüte.
„Für
wie dumm halten sie mich; Madame Avilla de Aragon?! Sie sind die Schwester der Corsarin und selbsternannte Gouverneurin von SAN LUCA.“
Blanke Wut stand in den Gesichtszügen des Kapitäns.
Lucia hob abwehrend die Arme. „Monsieur – sie verwechseln mich!“
Er machte fünf Schritte auf die Tür zu – riss diese auf und schrie in seiner Landessprache: „ Monsieur Fouque’ – zeigen sie unserem Gast, dass sich die Französische Admiralität nicht foppen lässt!“
Lucia wurde auf das Deck mittschiffs geführt. Der erste Offizier deutete nach oben. „Sie werden es sich vierundzwanzig Stunden im Krähenest des Großmastes gemütlich machen dürfen, Madame. Danach könnte es sein, dass wir sie in eine unserer Sklavenkolonien bringen werden. “
Lucia schluckte. ‚Oh Gott!’ durchfuhr es sie. Sie hatte gedachte man würde sie auspeitschen. Das hätte sie überstanden…aber das…?! Innerhalb von fünf Minuten würde sie sich die Seele aus dem Leib kotzen.


Steuerbord vierzig Grad! Nah an ans Ufer und dann 10 Grad Backbord!“
Mit beinahe überschlagender Stumme rief die Corsarin ihr Kommando.
Sie hatten es zwischen dem Beschuss des Linienschiffes gerade geschafft, an Bord der SILVER STAR zu kommen. Bis auf vierhundert Yards hatte sich die CHEVALIER bedrohlich genähert. Die Kugel jagten jaulend über die obersten Rahen hinweg.
„Er darf sich nicht einschießen!“ schallte die Stimme Estrella über das Deck.
Der Rudergänger legte sich in das Doppelrad, unterstützt von einem Matrosen.
Helen lief zum Oberdeck ans Heck. Dort stand ein vor kurzem erbeuteter ‚Hunderpfünder’.
Hastig lud sie die unförmige Kanone.
‚Was willst du hier mit diesem Ding?’ hatte sie noch die Worte ihrer Schwester im Ohr. Jetzt würde es sich nützlich zeigen. Von den meisten Schiffen – und da bildete die SILVER STAR keine Ausnahme – konnte man nur von den Seiten aus schießen. Manche britische Kriegsschiffe besaßen zwar schon Bugkanonen, aber das Heck blieb meist unverteidigt. Jetzt würde sich Helens Überlegung auszahlen.
Die CHEVALIER allerdings zeigte sich mit einer Bugkanone ausgestattet.
Das Corsarenschiff schwankte, bedingt durch die drastische Ruderbewegung nach Steuerbord.
Diego kam zu Helen gerannt. Er hatte erkannt, was sie vorhatte. In der rechten Hand hielt er eine brennende Lunte.
Helen richtete das dicke gegossene Rohr aus.
„Jetzt kommt’s drauf an“, flüsterte sie und streckte – ohne sich umzusehen – den Arm aus.
Diego reichte ihr wortlos die Lunte.
Eine Salve sauste von der CHEVALIER los, aber bedingt durch den Winkel des Schiffes – es versuchte die SILVER STAR zu verfolgen – bedeutete der Beschuss zurzeit keinerlei Gefahr. Doch dann donnerte es am Bug wieder auf. Zischend und jammernd – wie die Geister der Unterwelt – machte sich die eiserne Kugel auf den Weg.
„Hinlegen!“ schrie Helen. Sie und Diego warfen sich auf die Planken.
Die Kugel sauste über die hinweg, riss eine Taurolle mit sich – zerschlug ein Stück Reling und klatschte ins Meer.
Sogleich stand Helen wieder auf den Beinen. Sie zündete die Kanone und sprang vier Schritte zurück.
Der Lärm war ohrenbetäubend.
Helen zählte: „einundzwanzig…zweiundzwanzig…dreiundzwanzig…vier…“
Auf der CHEVALIER splitterte Holz und Tagelage. Die Galionsfigur zersprang in tausend Stücke. Rauch erhob sich.
„Voller Bugtreffer!“ rief Diego begeistert aus.
Die SILVER STAR gewann Abstand von dem Franzosen.
Am Ufer war man aufmerksam geworden, doch die Hafengeschütze standen zu weit ab, um ihnen gefährlich zu werden.
„Wir müssen die Magellan Strasse nehmen und dann nach Frankreich“, sagte Estrella zu Sam Bush.
„Frankreich?“ Bush blickte verblüfft. Die Corsarin informierte den Alten von den Ereignissen in der Schänke.
„Du bist der Ansicht, der Bursche hat die Wahrheit gesagt?“
Die Corsarin nickte. „Denke schon. Er hat sich ja bald bepisst.“
Bush lachte trocken auf. „Sieht ihnen ähnlich, den vornehmen Herren Offizieren.“ Er blickte über die Reling am Schiff vorbei nach rückwärts. Von der CHEVALIER war nichts mehr zu sehen.
„Na gut“, knurrte er. „Sehen wir uns Frankreich an. Obwohl ich darauf gerne verzichten würde.“
Die Corsarin lächelte hart. „Vielleicht können wir Louis die Ohren lang ziehen.“
Nun platzte es aus Sam Bush heraus. „Ja…“ dehnte er endlich. „Das traue ich dir zu.“


Festhalten!“
Die Corsarin klammerte sich an den Fockmast.
Gewaltig rollte die Welle über das Deck. Die SILVER STAR knirschte in allen Fugen.
Im
Golf von Lion – kurz hinter der spanischen Küste – hatte sie der Sturm voll erwischt.
Helen hangelte sich zum Bug. Einer der Anker schlug krachend gegen den Rumpf. Estrella erahnte, was ihre Schwester vorhatte.
„Lass es!“ schrie sie durch das Brausen des Sturmes.
„Er schlägt uns ein Loch ins Schiff!“ kam es zurück.
Ehe die Corsarin es verhindern konnte, überkletterte Helen die Reling.
„Verfluchtes Teufelsweib!“ stieß Estrella hervor und löste sich vom Mast. Sie versuchte die Balance auf dem rollenden Schiff zu halten. Da knallte ein gewaltiger Brecher über das Deck.
Estrella hatte das Gefühl, als ob eine der tonnenschweren Kanonen vor ihre Brust geprallt sei.
Ihr blieb die Luft weg.
Sie sah nichts mehr.
Wasser drang in Mund und Nase.
Sie spürte nur – wie aus einer weiten Ferne – dass ihr Körper über das Deck gewirbelt wurde. Mit dem Kopf stieß sie irgendwo an – dann fiel sie in ein unendlich tiefes Loch.
Helen hing halb über der Reling. Die Arme um das hölzerne Geländer gespannt – die Hände wie Zangen in einander gekrallt. Das Haar hing nass und wirr um ihren Kopf. Sie sah, wie Sam Bush quer über das Deck rutschte, von seinem Sicherheitsseil aber dann gehalten wurde.
Dann sah sie ihre Schwester.
Die Welle hatte sie bis auf den Klüver geschleudert. Sie schien bewusstlos. Die nächste Woge musste sie unweigerlich über Bord spülen.
Helen wischte sich die klatschnassen Strähnen aus dem Gesicht. Da sah sie auch bereits die „Zwei-Schiff-Hohe“ Welle heranstürmen.
„Himmel hilf!“ stieß Helen hervor. Sam – der zwar sich zwar näher an Estrella befand, war mit sich selbst beschäftigt, um sich aus dem Seil zu entwirren, das sich mehrfach um seine Beine geschlungen hatte. Er konnte Estrella nicht helfen.
Gehetzt zog sie sich mit allen ihren Kraftreserven an der Reling hoch. Sie schaffte es irgendwie, auf die Decksplanken zu kommen. Sie schlidderte, stürzte, rappelte sich hoch und raste zum Bug. Da wurde die SILVER STAR auch bereits vom Heck her angehoben.
Helen schlinderte wie auf einer Eisbahn weiter, bekam durch die Wucht der Welle einen Stoß und katapultierte sich auf den Klüver.

Es gelang ihr, eine Hand von Estrella zu ergreifen. Da raste das Wasser wie von einer überdimensionalen Faust geführt über das Deck. Der Bug tauchte bis über die Galionsfigur – den Erzengel Gabriel – in das tintenschwarze Wasser.
Helen glaubte, die Arme würden ihr ausgerissen. Ihre linke Hand umkrampfte förmlich die ihrer Schwester, die wie ein Gliederpuppe vom Wasser hin und her geschleudert wurde. Die andere Hand Helens hielt ein Klüverseil so fest, dass das Blut aus der Handfläche schoss.
Doch sie spürte den Schmerz nicht. In ihrem Gehirn hämmerte nur eines:
Nicht loslassen!
Das Schiff rollte zurück, dann legte es sich nach Backbord. Helens Füße fanden an einem Querholz der Ankerwinde Halt.
Die SILVER STAR lehnte plötzlich nach Steuerbord über. Helens Körper drehte sich durch die auftretende Fliehkraft.
Sie biss sich auf die Unterlippe, bis diese blutete. Das Salzwasser brannte in den Augen.
Das Schiff glitt in die Waagerechte.
Helen zog den linken Arm an.
Sie schaffte es, Estrella ins Auffangnetz vor dem Bug zu schieben und rutschte hinterher.
Doch dann durchritten sie die Hölle!
Wieder und wieder tauchte der Bug in das tosende Meer. Helen versuchte Estrella Kopf zu schützen, während sie selbst alle Qualen des Halbertrinkens durchlebte.
Ihre Lungen füllten sich unkontrolliert mit Meerwasser. Sie musste husten, ihr wurde schwarz vor Augen…
Da spürte sie das Ende eines dicken Taus.
Mit letzter Kraft wandte sie sich um und griff danach. Ihre verletzte Handfläche pochte und brannte.
Nur verwaschen erkannte sie das Gesicht von Sam Bush.
Wie sie und Estrella an Bord gezogen worden waren, vermochte sie später nicht zu sagen. Irgendwie und irgendwann lagen sie – gut mit Seilen gesichert – an Deck.
Noch zwei Stunden tobte der Orkan – dann beruhigte sich die See.
Sam Bush ließ sogleich die Schäden feststellen. Am Großmast hatte der Sturm zwei Rahen angebrochen – am Fock eine völlig abgerissen. Die Delphingeißel war zerrissen und eine Kreuzmastrahe hing nur noch an einem ‚Fitzelchen’.
Auch die Fockwanten zeigten sich lädiert.
„Bei allen Seeteufeln!“ knirschte der erste Offizier. „Eigentlich müssten wir ins Dock.“
Er rief Pietro zu sich.
Unterdessen kam Estrella langsam zu sich. Sie spie Wasser aus. Sie blinzelte und erkannte dann Helen.
„Willkommen an Bord“, flüsterte diese.
Es dauerte noch fünf Minuten, bis die Corsarin die Gesamtlage erfasste.
Helen streichelte den Kopf ihrer Schwester.
„So einfach machst du mir hier nicht den Abgang“, flüsterte sie. „Nicht eher, als bis wir Lucia befreit haben.“
Der alte Sam kam auf die beiden zu. Er blickte einen Moment auf die Frauen herunter, um dann zu knurren: „Denke, Neptun wird sich was dabei gedacht haben, dass er euch zusammengeführt hat.“
Der Schrei des Ausgucks durchbrach die Betrachtung.
„Spanische Galeone von heckwerts!“
„Verfluchte zehnmal maledeite Hurenscheiße!“ Bush stampfte mit dem Stiefel so fest auf die Planken, dass man fürchten musste, er hinterließe ein Loch im Boden.
„Wie weit?“ schrie er zurück.
„Zwei Meilen!“
„Oh ihr Seeteufel! Mit unserem halben Wrack bringt er uns ohne jeden Kanonenschuss auf.“
Die Corsarin rappelte sich. Ein stechender Schmerz durchstieß ihren Kopf.
Sie zuckte zusammen.
Helen kniff die Lippen zusammen. Sam hatte Recht. Diesmal gab es kein Entrinnen.
Oder mit viel Glück?
„Sam!“ rief sie. Eine irre Idee überkam sie. „Was haben wir an Tüchern an Bord?“
Der Erste schaute verblüfft. „Tücher…?“
Helen hatte keine Zeit zum Diskutieren oder Erklären.
„Ein weißes Tuch! So groß wie unsere Corsarenflagge. Beides untereinander gehisst. Rot oben, weiß unten.“
Bush riss die Augen auf. „Hölle…“ Dann rannte er los.
„Was macht die Galeone?“ rief Helen zum Ausguck.
„Hält Kurs auf uns!“
Estrella stand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem leicht schwankenden Schiff. „Mierda! Wir sollten versuchen ihnen eine Breitseite zu geben.“
Helen schüttelte den Kopf. „Abgesehen davon, dass der größte Teil unsers Pulvers nass geworden ist – die Galeone hat weit mehr Kanonen als wir. Wenn wir mit heiler Haut davon kommen wollen, funktioniert es nur mit Gottvertrauen und einer List.“
Die Corsarin schnitt eine Grimasse. „Dein Gott hat genug mit Hosianna zu tun!“
Wenig später tauchte der Erste mit dem Segelmacher auf. Zwei Matrosen mussten helfen, notdürftig eine Flagge aus beiden Teilen zusammen zusetzen. Endlich war es soweit.
„Bei Neptun!“ grunzte der alte Sam. „Hoffentlich fressen sie das!“
Helen und Estrella sahen gebannt zu, wie die Fetzen am Großmast hochgezogen wurden.
„Wenn der Spanier uns aus der Entfernung für ein Schiff des Malteserordens hält, dreht er vielleicht ab.“
Bange Minuten vergingen. Die See glättete sich immer mehr. Nun konnten sie die Galeone sehen.
„Oh Herr!“ stieß die Corsarin auf. „Das muss eines von den neuen Schiffen sein. Eine schwimmende Festung !“
„Hält Kurs bei!“ rief der Ausguck.
„Mr. Bush!“ keuchte Estrella. „SILVER STAR hart an den Wind!“
Bush wedelte mit den Armen. „Dann bricht der Klüver ganz und der Fockmast knirscht auch im oberen Teil.“
Die Augen der Corsarin schienen Funken zu sprühen.
„Haben sie meinen Befehl nicht verstanden, Mr. Bush? Ich würde das als Meuterei auffassen!“
Der Erste schnappte nach Luft – dann donnerte er über das Deck: „Ihr habt gehört. Was der Captain gesagt hat! An den Wind mit allem was an Leinwand noch funktioniert. Und wenn der verdammte Kasten auseinanderfällt!“
Die SILVER STAR nahm Fahrt auf. In den Wanten und der Tagelage knirschte es. Es hörte sich an wie Todesgesang. Das ganze Schiff schien zu protestieren.
Der Corsar drehte sich schwerfällig. Der Wind griff in die beschädigten Segel. Das Schiff lehnte sich über. Etwas polterte auf Deck.
„Antonio!“ rief die Corsarin. „Geh unter Deck und überprüfe die Festigkeit der Masten in ihrer Verankerung!“
„Ay,Ay – Lady Captain!“
Die Fahrt nahm zu. Das Knarren in den Masten aber auch.
Der Spanier hielt weiter seinen Kurs bei.
„Vielleicht hat er ja nur die selbe Route“, gab Helen zu bedenken.
„Das werden wir sehen“, entgegnete Estrella. „Jedenfalls schießt er nicht.“
Sie lief zum Rudergänger. „Vier Strich Nordwest!“
Die Wellen spülten härter gegen den Bug. Antonio kehrte zurück.
„Mastverankerung in Ordnung. Aber Wasser im Bugraum!“
„Mierda!“ Sie rannte selbst nach unten. Helen folgte ihr.
Sie bahnten sich mittels Petroleumlampen den Weg durch den Laderaum nach vorn.
Dann sahen sie es. Ein Riss kurz über der Wasserlinie. Immer wenn die SILVER STAR in ein Wellental tauchte, sprudelte es zwischen den Spanten.
„Das halten wir nur noch zwei Stunden durch. Der Bug wird immer tiefer sacken.“ Helen war bleich geworden.
Die Corsarin knirschte mit den Zähnen. „Hol den Bootsmann! Er soll versuchen, durch Ersatzplanken den Einbruch zu dämmen.“
„Du weist genau, dass das ein unsinniges Unterfangen ist.“
Estrella nickte. „Ja – aber wir gewinnen vielleicht Zeit.“
Helen rannte davon. Sie gab dem Bootsmann die entsprechenden Befehle.
Eine halbe Stunde verging.
„Galeone hält ihren Kurs“, rief der Ausguck. „Wir entfernen uns!“
Estrella atmete durch. „Demnach verfolgt er uns nicht.“
„Spanier signalisiert!“ kam es von oben. „Ob wir Schwierigkeiten hätten.“
Estrella blickte zum Mast hoch. „Signal: Danke der Nachfrage – schaffen es bis Marseille. Gute Fahrt.“
Eine Stunde später glich die Galeone nur noch einem Spielzeug am Horizont.
Die SILVER STAR lag immer schwerfälliger im Wasser. Der Bootsmann tauchte nass und erschöpft auf.
„Capitano – es ist nicht aufzuhalten.“
Helen ergriff Estrella Arm. „Wir schaffen es nicht bis Marsalla!“
Im Blick der Corsarin spiegelte sich Gehetztheit wider. Ihre Wangenknochen malten. Dann hatte sie sich entschieden.
„Mr. Bush! Dreiviertelwende! Vielleicht schaffen wir es bis Montpellier!“

Montpellier –
Die schwer im Wasser liegende SILVER STAR lief ein.
„Wir brauchen jetzt dringend ein Dock“, gab Sam Bush zu bedenken.
Die Corsarin nickte. „Das kann für uns sehr gefährlich werden.“
Der Alte zuckte die Achseln. „Was hältst du davon, wenn ich wieder mal den dänischen Kapitän spiele. Das hat doch ein paar Mal ganz gut funktioniert.“
Estrella stimmte dem zu. Die Dänische Handelsflagge ging am Heck hoch.
Kaum jemand widmete dem Schiff große Aufmerksamkeit. Obwohl es sich um einen recht großen Hafen handelte, lagen verhältnismäßig wenige Schiffe dort. Die Überzahl stellte italienische und griechische Händler dar.
Helen persönlich manövrierte die SILVER STAR um die zweite Mole. Sie passierten einen norwegischen Händler, als Estrella zusammenzuckte.
Ihre rechte Hand krallte sich in Sams Oberarm.
Auch der Alte schluckte.
Hinter dem Norweger lag….die ANJOU.
„Thunder!“ stieß der erste Offizier aus und kratzte sich den grauen Bart. „Die können noch nicht sehr lange hier liegen. Sieh mal…dort hinten fährt eine Kutsche.“
Die Corsarin rannte zu Helen.
„Ruhig Blut, Schwesterherz“, kam es von ihr. „Wir werden in Erfahrung bringen, wohin die Kutsche fährt und uns auf ihre Spur setzen. Zuerst muss die SILVER STAR ins Dock.“
Sam Bush nahm als dänischer Händler die Verhandlung mit dem Hafenmeister auf. Drei Stunden später lag das Schiff am Kai einer kleinen Werft.
Estrella hatte ihrer Mannschaft eingeschärft, sich ja anständig zu benehmen und wer kein Dänisch sprechen konnte, sollte möglichst den Mund halten oder nur ‚ gebrochen’ Französisch sprechen.
„Sorgt dafür, dass niemand den Laderaum oder die Kajüte betritt!“
Sam Bush erhielt das Oberkommando über das Schiff. Estrella und Helen legten die Kleidung von Bäuerinnen aus dem Languedoc an.
„Seid verdammt vorsichtig“, mahnte Sam noch. „Wenn man euch schnappt, helft ihr Lucia nicht!“
Sie verließen das Schiff.
In einem Gemischtwarenladen erfuhren sie, dass die Kutsche Arles fuhr.
„Was wollen die in Arles?“ flüsterte die Corsarin draußen.
Doch auch das sollten sie bald auf dem Markt durch Klatsch und Tratsch erfahren. Heimlich – so wusste man – solle der König in einer Villa nahe der Kathedrale Quartier bezogen haben, um sich mit einer ‚gewissen’ Dame zu treffen. Einer Madame de Vaubernier. Angeblich solle sie die neue Favoritin des Königs werden. Die Pompadure, so wusste man angeblich, habe bei Hofe einen mords Aufstand inszeniert.
„Der gute Louis lässt ja nichts anbrennen“, witzelte Helen leise.
Estrella deutete auf einen Reitstall in der Nähe. „Wir sollten sehen, dass wir so rasch wie möglich der Kutsche folgen.“
Sie eilten zurück zu ihrem Schiff. Sam Bush machte ein erstauntes Gesicht.
„Ist was passiert?“
Helen schüttelte den Kopf. Dann verschwanden sie in der Kajüte.
Zehn Minuten später standen zwei pfiffige französische Junker an Deck.
Der alte Bush lachte klirrend. „Bei den Seegurken…fesch! Sehr fesch!“
Eine weitere halbe Stunden danach hatten Estrella und Helen zwei sehnige ‚Füchse’ erstanden und jagten gen Arles.

Majestätisch erhob sich die Kathedrale über der Silhouette der Stadt.

Zu Arles gehörte das Gebiet der gesamten Camargue. Arles wurde im 3. Jahrhundert Sitz eines Bischofs, im Jahr 400 Sitz eines Erzbischofs. Als Hauptumschlagplatz wurde es in der Folge von Westgoten und Sarazenen mehrmals erobert und zerstört, behauptete es dennoch lange seinen Glanz; seit 536 zum Frankenreich gehörig, wurde es 879 Hauptstadt des Königreichs Burgund und kam mit diesem 1033 zum Heiligen Römischen Reich. Seit 933 stand die Stadt unter der Herrschaft des Erzbischofs, wurde 1220 unabhängig von ihm und 1237 für nur zwei Jahre Reichsstadt. 1251 unterwarf sich die Stadt Karl von Anjou und kam 1481 mit der Grafschaft Provence an Frankreich.
„Hier also hat Louis sein Liebesnest“, witzelte Helen. „Im Schatten der Heiligkeit.“
Sie hatten ihre Pferde auf einer kleinen Anhöhe angehalten. Der Blick der Corsarin glitt über die Stadt. Vor dem Haupttor der Mauer stand eine Doppelwache. Der einzige Hinweis, dass sich der König hier befand.
Estrella zog eine dünne, schwarze Zigarre aus ihrem Wams. Sie schob sie sich in den Mundwinkel und sinnierte: „Weshalb lässt Louis unsere Schwester hier her bringen? Weshalb nicht nach Paris? In die Bastille?“
Darüber hatte Helen auch bereits nachgedacht.
„Wir sollten entsprechend vorsichtig sein. An der ganzen Aktion ist etwas merkwürdig. Vor allem frage ich mich die gesamte Zeit schon, wie man uns so perfekt auflauern konnte? Wer wusste von unserer Route?“
Die Corsarin zuckte die Achseln. „Ein Maulwurf irgendwo in Washingtons Umgebung?“
Helen schüttelte unwirsch den Kopf. „Was könnte George im Moment gegen die Übermacht der beiden Großmächte ausrichten?!“
„Jemand hat Angst davor, er könne die Aufständischen Siedler unter einen Hut bringen.“
Sie ritten langsam über die Landstrasse in die Stadt hinein. In einem Mietstall brachten sie ihre Pferde unter.
Es war Markttag in Arles. Deshalb fielen Fremde nicht auf. Helen und Estrella suchten sich einen Gasthof – nahe der Kathedrale. Wo sich das Liebesnest des Königs verbarg, hatten sie rasch herausgefunden.
In dem Gasthof – LA BELLE – bekamen sie ein leidliches Zimmer. Sie wuschen sich und brachten ihre Kleidung nach dem Ritt in Ordnung. Danach suchten sie die Gaststube auf. Der Wirt staunte nicht schlecht, als er feststellen musste, dass aus den Junkern junge Damen geworden waren.
„Jetzt hat er etwas zum Grübeln“, flüsterte Helen und grinste unverschämt.
Sie bestellten etwas zu essen.
Nach und nach füllte sich die Wirtsstube. Es ging auf den Abend zu und der Markt neigte sich dem Ende.
„Holla! Wen haben wir denn da?!“
Die Stimme gehörte einem großen, leicht schlaksigen Mann. Er mochte wohl Mitte der Zwanzig der sein. In seinen Augen blitzte der Schalk.
Er wirkte jungen haft und sympathisch. Trotzdem zogen Helen und ihre Schwester es vor, ihn erst mal zu ignorieren.
Doch so leicht ließ er sich nicht abwimmeln. Er zog seinen breitrandigen Hut – den eine lange weiße Feder zierte – und verbeugte sich höfisch. Allerdings auch leicht übertrieben.
„Gestatten sie – Armand Verdeux.“
Estrella schaute kurz auf und meinte spöttisch: „Stadtbekannter Tröster von Witwen und Waisen – nehme ich an.“
Der Mann schaute verblüfft und brach dann in ein herzliches Lachen aus. Er zuckte die Achseln und bemerkte: „Touche’! Sie haben völlig Recht. Ich trete wie ein Idiot auf. Gestatten sie mir trotzdem, mich zu setzen?“
Helen schaute sich um. Es gab viele freie Sitzplätze. Doch dann bedeutete sie mit einer Handbewegung ‚Ja’.
„Sie geben sicherlich sonst keine Ruhe.“
Verdeux setzte sich neben Estrella und rief zum Tresen: „Pierre! Ein Bier und für die Damen ebenfalls!“
Die Corsarin fixierte den jungen Mann ernst. „Weshalb wollen sie unbedingt bei uns sitzen?“
Der Wirt brachte das Bier und trollte sich wieder. Verdeux beugte sich etwas näher zu den beiden Schwestern hinüber. „Wir erhielten eine Nachricht.“
Estrella und Helen schauten sich an. Dann meinte Helen leise: „Sie sprechen in Rätseln, Monsieur.“
„Eine Nachricht von Sarah“, flüsterte er nun.
Die beiden Frauen zuckten zusammen. Sarah Corell war nach der Rettung Washingtons incognito mit einem französischen Handelsschiff gen Frankreich gefahren.
„Sie gehören zur SCHWARZEN MÖWE?“ fragte Estrella erstaunt und flüsternd.

„Wir sind hier im Ort eine starke Gruppe. Der König weilt hier oft.“
Helen zog die Augen zusammen. „Wie kann Sarah wissen, dass wir hier sind?“
Verdeux lächelte. „Sie weiß alles, was im Bereich des Hofes passiert.“
Estrella schob ihr Brett mit einigen Fleischresten zur Seite. Blitzschnell – das Auge vermochte die Bewegung kaum wahr zu nehmen – lag der kurze zweischneidige Dolch in ihrer Hand und drückte sich mit der Spitze fest durch das Wams des Mannes auf dessen Brustbein.
Der zuckte zusammen!
Die Corsarin lächelte süß und zischte dabei gefährlich wie eine Natter: „Monsieur – ich habe keinerlei Skrupel sie hier bei Tisch zu erstechen, wenn ich den Eindruck gewänne, sie würden ein Spion sein.“
Verdeux Blick glitt langsam zu dem Dolch hinunter. „Hören sie, Mademoiselle Aragon – Sarah persönlich sah die SILVER STAR beschädigt in den Hafen einlaufen. Der Besitzer der Werft ist ein Freund von uns.“

Helen beugte sich über den Tisch und ergriff die Hand des jungen Mannes.
„Weshalb hat sie sich dann nicht bei uns gemeldet?“ Ihre Augen funkelten.
Ihr Gegenüber schluckte erst – dann entgegnete er leise, so dass nur Helen und Estrella es hören konnten: „Sie hätte sich in Gefahr gebracht.“
Die Corsarin verstärkte den Druck des Dolches etwas. „Wo ist sie?“
Verdeux wandte den Kopf zu ihr. „Wenn sie endlich das verfluchte Ding von meinem Körper nehmen würden und mit mir mit kämen…wüssten sie in einer halben Stunde mehr.“
Helen drückte seine Hand fest. „Sie wollen uns in eine Falle locken!“
Verdeux nickte und meinte sarkastisch: „Klar! Deshalb bin ich hier. Ein Trupp königlicher Soldaten hätte es einfacher. Aber ich mag es eher so.“
Die Schwestern tauschten Blicke aus. Endlich steckte die Corsarin den Dolch wieder ein und murmelte: „Wenn sie uns betrügen, sind sie eher tot, als dass uns jemand verhaftet!“
„Das glaube ich ihnen auf’s Wort“, kam es trocken. „Jetzt kommen sie einfach mit mir!“
Er stand auf.
Estrella und Helen schauten sich in der nun vollen Schankstube um. Niemand beachtete sie.



Bitte setzen sie sich, Madame Avila de Aragon.“
Die Stimme der jungen Frau klang melodisch und sanft.

Lucia blickte sich in dem kleinen, aber pompös ausgestatteten Salon um. Die Sprecherin trug ein ausladendes Brokatkleid mit kostbaren Stickereien. Ihr fein geschnittenes, dezent gepudertes Antlitz mit dem Schönheitspflästerchen wurde durch die weiße Perücke besonders betont.
„Ich bin Madame Gomard de Vaubernier“, fuhr sie fort und wedelte leicht mit ihrem Fächer.
Lucias Lippen umspielte ein leicht zynisches Lächeln. „Auch als Mademoiselle Lange bekannt. Allerdings werden sie im Moment vom Grafen Dubarry protektiert.“
Ihr Gegenüber hielt in der Bewegung inne. Eine steile Falte entstand über ihrer Nasenwurzel. Sie ließ den Blick leicht hochmütig über Lucias desolate Kleidung gleiten.
„Nun gut…unterlassen wir die Floskeln. Sie sind auf meinen Befehl hier.“
Lucia Avilla de Aragon hob die Augenbrauen – aber schwieg.
Die Vaubernier vollzog mit dem rechten Arm eine ungeduldige Bewegung. Dann griff sie zum Klingelseil neben dem Fenster mit der Seidengardine. Sogleich erschien eine Zofe.
„Madame de Aragon soll baden und sich ordentlich kleiden!“ Zu Lucia gewandt fuhr sie fort: „Ich denke, danach werden wir uns besser verstehen.“
Eine Stunde später saß Lucia frisch gekleidet und gekämmt an einem mit erlesenen Speisen gedeckten Tisch ihrer ‚Gastgeberin’ gegenüber.
Zwei vierarmige Kerzenleuchter gaben der Tafel ein festliches Aussehen.
„Bitte greifen sie zu. Sie müssen Hunger haben. Danach möchte ich ihnen einen Vorschlag unterbreiten.“
Lucia blickte die Sprecherin scharf an. „Was für ein Vorschlag
ihrerseits könnte mich interessieren? Wenn ich das vorhin richtig verstanden haben, so ging meine Entführung auf ihr Konto?“
Die Vaubernier lachte glockenhell. „Sie haben es erfasst!“
Sie führte die vergoldete Gabel mit dem winzige Stück Pute zum Mund und bemerkte dabei: „Zahlreiche Kriegsmarinekapitäne sind mir sehr ergeben.“
„Das kann ich mir denken“, kam es von Lucia trocken.
Ein Diener schenkte Wein ein.
Lucia nahm sich von dem gut zubereiteten Fleisch und dem Gemüse. Nach zwei Bissen und einem Schluck Wein meinte sie: „Madame – was wollen sie von mir? Wozu dieser Umstand?“
Die Vaubernier legte das Besteck zur Seite, beugte sich vor und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. Die Flammen der Kerzen reflektierten in ihren blauen Pupillen.
„Ich hatte gehofft, ihre Schwester Estrella zu schnappen.“ Sie lachte kurz auf. „Nun – sie ist gerissener, als ich dachte. Aber nun sind sie hier.“
Lucia lehnte sich etwas zurück. „Welchen Nutzen haben sie davon?“
„Oh!“ Die Vaubernier richtete sich steil auf und lachte erneut. „Ihre Schwester wird sie suchen. Davon bin ich überzeugt. Sie wird erfahren haben, dass sie auf die ANJOU…sagen wir…umsteigen mussten. In Marseille wird man die SILVER STAR gebührend erwarten.“
Lucia musste innerlich grinsen, wenn auch leichte Furcht in Bezug auf die Schwester in ihr aufkeimte. ‚Für wie dumm hält das Luder Estrella?!’ durchzuckte es sie. Laut bemerkte sie: „Was sie nicht sagen.“
Die Vaubernier schob sich wieder ein kleine Stück Fleisch in den geschminkten Mund. „Die Falle ist gut organisiert und wird zuschnappen. Die große Corsarin wird meine Gefangene sein und der König wird mir zu Füßen liegen!“
‚Hoffentlich hast du sie gewaschen’ , ging es spontan durch Lucias Kopf.
„Sie wollen Louis beeindrucken?“ fragte sie laut.
Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nicht beeindrucken! Das klingt so…flach. Nein - ich will ihn mir gefügig machen.“
Lucia schürzte die Lippen. „Was sagt die Königin zu ihrem Plan?“
„Die Königin? Die ist ein Schaf!“
„Ah ja! Und die Pompadure?“
„Das alternde Mädchen schicke ich in Rente!“
Nun lachte Lucia laut. „Sie besitzen viel Ungestüm.“
Die Vaubernier zuckte mit den Achseln. „Nennen sie es, wie sie wollen. Ich werde für den König unentbehrlich werden. Vor allem – wenn ich Washington liquidiere. Mit ihrer und ihrer Schwester Hilfe.“
„Wir werden niemals ihre Werkzeuge für ein intrigantes Spiel werden!“ brach es aus der Gouverneurin heraus.
Die Vaubernier beugte sich erneut vor. Ihr Blick wirkte nun hart und kalt.
„Sie haben die Wahl zwischen dem angenehmen Zofendienst bei mir zukünftig oder der Strafkolonie St. Valois.“


Etwa eine Stunde vor diesem Gespräch in dem Hause der Vaubernier, bogen Verdeux, Estrella und Helen in eine dunkle, abgelegene Gasse ein.
Die Corsarin und auch Helen waren auf der Hut. Sie hielten ihre Hände auf den Degengriffen.
Verdeux blieb vor einem Fachwerkhaus stehen. Er blickte sich um, dann klopfte er in einem bestimmten Rhythmus an die Tür. Es dauerte einen kleinen Augenblick, dann wurde geöffnet.
„Parole?“ zischte jemand mit unterdrückter Stimme.
„Sarah.“
Der Eingang wurde freigemacht.
Sie gelangten durch einen schmalen Korridor in ein kleines Zimmer, das von Kerzenkandelabern erhellt wurde. Um einen runden Tisch saßen vier Männer und zwei Frauen. Drei Plätze zeigten sich frei. Verdeux deutete auf die freien Stühle. „Setzt euch.“
„Wer ist das?“ erkundigte sich ein stabil gebauter Mann mit fragendem Gesichtsausdruck.
„Freunde von Sarah. Estrella Avilla de Aragon – die man auch die Corsarin nennt. Hier das ist ihre Schwester Helen.“
Eine der beiden Frauen, eine zierliche Brünette, reichte den beiden die Hand. „Ich bin Joana – mehr ist nicht notwendig. Sarah hat uns informiert. Wir wissen wo eure Schwester sich aufhält.“
Estrella runzelte die Stirn. „Wo ist Sarah?“
Joana lachte leise auf. „Direkt in der Höhle des Löwen. Sie ist die Haushälterin der angehenden neuen Mätresse des Königs.“
Estrella und Helen setzten sich. Einer der Männer schenkte Wein ein.
„Wer soll das sein?“ wollte Helen wissen.
„Eine ehemalige Edeldirne. Der Graf Dubarry protegiert sie. Madame…dieses Wort geht mir widerwillig über die Lippen…Madame Vaubernier. Sie ist gefährlich – hat ein Agentennetz um den König gewoben und durch ihre…äh…Tätigkeit so manches Geheimnis erfahren. Deshalb sind ihr einige Menschen verpflichtet. Sogar Kriegskapitäne.“
Das stellten ja interessante Informationen dar.
Joana fuhr fort: „Wie sie wissen, unterstützen wir den Freiheitskampf der Menschen in der Neuen Welt. Aber auch den unseren. Wir versuchen uns vom Königshaus und seiner Verschwendungssucht zu befreien. Die Macht gehört dem Volk!“
Den letzten Satz rief sie leidenschaftlich aus.
Die Corsarin beugte sich etwas zu der Sprecherin hinüber. „Was hat das aber alles mit Lucia zu tun?“
Joana hob die Augenbrauen. „Madame! Die Sache hat mit
i h n e n zu tun!
Sie sind eine Gefahr für die Interessen des Königs in Amerika. Sie kämpfen nicht nur gegen die Engländer, sondern kapern auch französische Schiffe. Louis strebt die Alleinherrschaft in Amerika an. Er will vor allem Louisiana zurück. Die Vaubernier will dem König den Weg ebnen, in dem sie
s i e ausschaltet. Wenn sie die Corsarin auf dem silbernen Tablett serviert, ist sie für den König unentbehrlich!“
Estrella schüttelte verwirrt den Kopf. „Sie hat demnach solche Möglichkeiten, Kriegsschiffe auf meine Fährte zu setzen?!“
„So ist es! Nun – sie sind entkommen. Wie auch immer. Aber ihre Schwester ging ins Netz. Die Vaubernier wird sie ausquetschen. Vielleicht rechnet sie auch damit, dass sie versuchen werden, ihre Schwester zu befreien.“
Helen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Wir konnte sie davon ausgehen? Wir hätten doch die Spur verlieren können.“
Joana nickte. „Ja – aber irgendwie hätte man dafür gesorgt, dass sie diese wieder finden oder…“
Estrella sprang auf. „Oder was?“
„Man sagt, die Vaubernier habe gute Freunde in der Bastille und den Folterkammern. Irgendwie wäre sie wieder auf ihre Route gestoßen.“
„Wo hält man Lucia gefangen?“ Die Corsarin stieß es drohend hervor.
Helen hielt ihren Arm fest. „Ruhig, Schwesterherz.“
„Ganz in der Nähe“, kam es von Joana. „Aber keine Angst. Sarah ist bei ihr.“


Das Leben kann wirklich angenehm sein.“
Madame Vaubernier lachte gurrend und führte leicht affektiert den Löffel mit der Nachspeise zum Mund.
In Lucia brodelte es. Am liebsten wäre sie der Gans an die Gurgel gegangen.
„Darf ich noch Wein nachschenken?“
Beim Klang dieser Stimme zuckte Lucia und musste sich gewaltsam in den griff bekommen. Sie bewegte ein wenig die Augen nach links und erkannte eine zierliche dunkelhaarige Frau im Gewand einer höherstehenden Bediensteten. Diese schenkte ihr mit unbewegtem Gesicht Rotwein nach. Als sie den Krug vom Glas wegschwenkte, fiel unbemerkt etwas in Lucias Schoß. Unauffällig griff diese danach. Ein winziges Papierkügelchen. Sie ließ es im Aufschlag ihres Kleides verschwinden.
Die Bedienstete schenkte auch der Vaubernier Wein nach – dann verließ sie den Raum.
Lucias Puls beruhigte sich wieder.
Sarah Corell – die Anführerin der SCHWARZEN MÖWE hatte sich in den Haushalt der Vaubernier geschlichen.
Lucia hatte allerdings im Moment keine Gelegenheit, über den Grund dafür nachzugrübeln.
„Vielleicht denken sie über Nacht über meine konstruktiven Vorschläge nach“, bemerkte Lucias Gastgeberin mit zuckersüßer Stimme.
Geschickt lenkte sie dann das Gespräch in ganz andere Bahnen. Eine halbe Stunde später bat Lucia, sich zurückziehen zu dürfen.
„Miriam wird ihnen ihr Zimmer zeigen, Madame.“
Lautlos erschien eine junge Zofe.
Das Gästezimmer lag im ersten Stockwerk des Hauses. Lucia schaute auf den gepflegten Hof mit Rosenrabatten und Zierbäumen. Zwei Talglicht-Laternen beleuchteten den Bereich vor dem Haus. Das Licht reflektierte in dem bläulichen Pflaster.
Als die Zofe das Bett aufgedeckt und sich entfernt hatte, fingerte Lucia das Papierkügelchen hervor.
>Estrella ist in der Nähe< stand dort in feinen Buchstaben.
Lucias Herz schlug wieder schneller. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Die Schwester hatte also ihre Spur aufgenommen.
Da tauchte der Schatten unten auf dem Hof auf. Lucia trat näher ans Fenster.
Es war Sarah.
Sie schaute zu ihr hinauf und machte ein Zeichen.
Lucia öffnete das Fenster. Sarah deutete auf das mit dichtem Efeu bewachsene Rankgitter neben dem Fenster.
Lucia atmete tief durch und wollte soeben ihr Kleid an den Seiten aufreißen, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen – da vernahm sie Schritte vor ihrer Zimmertür. Rasch schloss sie das Fenster und eilte zum Bett hinüber.
Da öffnete sich bereits die Tür.
Jeanne de Vaubernier erschien. Sie trug ein beinahe durchsichtiges Neglige und hielt eine bauchige Flasche in der Hand.
Sie lächelte verführerisch und segelte auf Lucia zu.
„Wie wäre es mit einem Gute-Nacht-Schluck?“ säuselte sie.
Lucias Gehirn signalisierte blitzartig: ‚Die Dame ist lesbisch.’
Aber wie mochte das mit den Männern im Edelbordell funktionieren? Und mit dem König? Innerlich grinste Lucia. Sie musste eine gute Schauspielerin sein. Alles nur Mittel zum Zweck. Wenn der König ihr hörig sein würde, konnte sie sich selbst eine Mätresse halten.
Lucia hatte allerdings nicht vor, diese Rolle einzunehmen.
Die Vaubernier drängte sich an ihren Gast heran. Lucia stieg das aufdringliche Parfüm in die Nase. Ihr Blick glitt über das unordentliche dünne Haar der Französin – leicht klitschig von der Perücke.
Die Vaubernier stellte die Flasche auf den kleinen Nachttisch. Dann spürte Lucia ihre Hände sanft über Bauch und Busen fahren.
Die Gouverneurin verdrehte die Augen. ‚Verdammt! Wie komme ich da heraus?!’
Das Gesicht mit dem grellen Mund näherte sich Lucias Gesicht.
Lucia machte einen Schritt zurück und fiel auf das Bett. Die Vaubernier lächelte und kniete sich neben sie. Ihre Hände glitten durch Lucias Haar, sie beugte den Kopf zu ihr hinunter.
„Madame“, hauchte die Gouverneurin. „Was wird der König darüber denken?“
„Ach…“flüsterte die Vaubernier. „Der Kerl ekelt mich an. Hauptsache, er ist Wachs in meinen Händen…“
Lucia hatte keine Chance, sich gegen den heißen Kuss zu wehren.


Still!“ zischte Estrella.
Direkt vor ihnen bewegte sich eine schattenhafte Gestalt.
Verdeux und Helen griffen zu den Degen. Die Corsarin drückte sich eng an die Wand des Torbogens.
Dann war die Gestalt heran. Estrella sprang aus der Deckung hervor.
„Keinen Laut, wenn dir etwas an deinem Leben liegt!“
Ihre Degenspitze berührte den Hals der Person. Helen huschte ihr in den Rücken.
Da rauschte der Nachtwind durch die Kronen der Bäume und das Mondlicht fiel für einen Augenblick voll auf das Gesicht der Gestalt.
„Es ist Sarah!“ stieß Verdeux verblüfft hervor.
„Wie?“ Die Corsarin nahm den Degen zurück.
„Was treibst du auf dem Hof?“ flüsterte Verdeux.
Auch die Anführerin der Gruppe SCHWARZE MÖWE brauchte einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.
„Ich wollte Lucia zur Flucht verhelfen.“ Sie deutete auf das matt erleuchtete Fenster. „Aber irgend etwas Unvorhergesehenes hat den Plan vereitelt.“
Doch die Überraschungen an diesem Abend nahmen nicht ab.
Das Getrappel von Hufen und das Knirschen von Wagenrädern ließ alle vier aufhorchen.
„Versteckt euch!“ zischte Helen.
Sie drückten sich wieder eng in den Schatten des Torbogens und der Büsche.
Die Corsarin schlich – sich immer eng an der gewölbten Wand haltend – zur Straße. Da sah sie etwas abseits die Kutsche. Ein Zweispänner.
Nur undeutlich konnte man die Gestalt darin ausmachen. Der Kutscher beugte sich vom Bock her zum Kutschenfester herab und sagte in unterdrückter Lautstärke: „Soll ich warten, Majestät?“
Estrella zuckte überrascht zusammen. Die Antwort konnte sie nicht hören. Doch ein verwegener Gedanke fuhr ihr durch den Kopf.
Wenn sie den König schnappen könnte…
Da öffnete sich bereits die Tür und der Passagier sprang heraus.
Kein Zweifel –
d a s war Louis!
Der König korrigierte etwas den Sitz seines Hutes, zog den Überwurf etwas enger um die Schultern und machte mit dem silbern verzierten Gehstock dem Kutscher ein Zeichen. Knarrend setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Gemessenen Schrittes, wie ein Mann, der alle Zeit dieser Welt für sich gebucht hat, wandte er sich dem Torbogen zum Haus der Vaubernier zu.
Kaum war er in den Schatten des Bauwerkes eingetaucht – ergriffen ihn mehrere Hände.
„Majestät“, erklang eine angenehme, jedoch kühle Stimme: „sie würden sich selbst einen Gefallen tun, sich nicht gegen ihre Gefangennahme zu wehren. Ich versichere sie, dass ihnen nichts an Leib und Leben geschehen wird.“
Der König stand stocksteif da.
„Wer seid ihr?“ kam es endlich gepresst. „Strauchdiebe? Politische Mörder?“
Die Corsarin verzog das Gesicht – was der König in der Finsternis allerdings nicht sah. „Weder das eine – noch das andere, Majestät. Sie werden es in Kürze erfahren. Darf ich jetzt bitten, uns zu folgen?!“
Louis schaute sich um. Doch da gab es niemanden, der ihm in der Situation hätte helfen können. Also ergab er sich vorerst in sein Schicksal.
Verdeux hatte innerhalb einer Viertelstunde eine Kutsche besorgt.
„Beziehungen sind alles“, hatte er grinsend erklärt.
Plötzlich bog eine Schwadron Wachsoldaten um die Straßenecke. Reflexartig umfasste die Corsarin mit einem Arm fest den Hals des Königs. Mit der anderen Hand hielt sie ihm den Mund zu.
Da sie Louis um einen halben Kopf an Körpergröße überragte, zischte sie ihm von leicht oben herab ins linke Ohr: „Nur eine Mucks und Frankreich brauchte einen neuen König!“
Louis war nicht dumm. Daher machte er keinerlei Anstalten, die Soldaten auf sich aufmerksam zu machen.
Zumal viele ihn in der Öffentlichkeit gar nicht kannten. Möglicherweise hätten sie ihm überhaupt nicht geglaubt, dass er der König sei.
Der König allein! In Montpellier! In einer einsamen Vorortgegend!
Außerdem – wie hätte er das in der Öffentlichkeit später erklärt?
Also hielt er sich ergeben und stieg alsbald in die Kutsche.
Sarah Corell blieb zurück. Vielleicht gab es in der Agentenschaltzentrale der Vaubernier noch einiges nützliche zu erfahren.
Nachdem die dunkle Kutsche sich ratternd in Bewegung gesetzt hatte – lehnte Verdeux sich zurück.
„Das ist der Aufstieg zur Republik“, flüsterte er. „Es lebe der Volkswille!“
Estrella zog die Augen ein wenig zusammen. „Wie soll ich das jetzt verstehen, Monsieur?“
Der Widerstandskämpfer hob theatralisch die Arme. „Na – was wohl?! Wir haben den König gefangen! Er wird öffentlich abdanken und in der Bastille verschwinden. Schon morgen kann der Volksaufstand beginnen.“
Luois’ Gesichtsausdruck nahm einen leicht ängstlichen Ausdruck an. Doch nur für einen winzigen Moment. Dann verfinsterte sich seine Miene.
„Mein Herr – sie sind ein Phantast! Scheinbar gehören sie zu dieser Gruppe von Weltverbesseren, die glauben, mit einem Staatsstreich könne man Frankreich verändern.“
Verdeux richtete sich streif auf und hielt mit einemmal einen Dolch in der Rechten. „Ihr Kopf könnte rascher rollen, als sie ihre Geliebten wechseln!“
Da spürte er seinerseits die Spitze eines Messers im Nacken. Es gehörte Helen.
„Monsieur! Ich denke, wir sind in unserem politischen Denken gleicher Ansicht, aber es gibt erhebliche Unterschiede in der Struktur der Umsetzung. Wir werden es nicht zulassen, dass sie unüberlegt handeln und dem König ein Leid zufügen. Eine Revolution kann auch ohne Mord von statten gehen!“
Verdeux versteifte sich. „Ihr seid Verräter!“ zischte er. „Sarah hätte euch nicht trauen dürfen.“
Die Corsarin drehte dem Mann mit rascher Bewegung den Dolch aus der Hand. „Sarah würde in dieser Situation weitsichtiger sein. Ich bin nicht der Ansicht, dass sie einen Königsmörder in ihren Reihen dulden würde. Was denken sie den denn, was passiert, wenn der König diese Nacht stirbt? Morgenfrüh könnte ihre Organisation nach Versailles ziehen – anklopfen und verkünden: Der König ist tot! Es lebe die Republik !(?)“ Estrella lachte laut auf. „Die Musketiere hätten euch rascher an dem nächsten Baum aufgehängt, ehe sie auch nur einen weiteren Satz zur Erklärung von sich gegeben hätten. Eigentlich müsste man etwas mehr Gehirn von ihnen erwarten.“
Die letzten Worte hatte sie sarkastisch ausgestoßen.
Die Corsarin beugte sich aus dem Fenster und hieß den Kutscher halten.
„Sie sollten uns jetzt verlassen, Monsieur!“
Mit einem Fluch auf den Lippen verließ Verdeux den Wagen.
„Wenden!“ rief Estrella.
Die Blicke der Corsarin und des Königs trafen sich im Schein einer Straßenlaterne.
„Keine Sorge, Majestät – wir sind keine Mörder. Auf meinem Schiff sind sie erst einmal sicher.“

Die beiden Wachsoldaten aus der Privatarmee der Vaubernier hielten Sarah im eisernen Griff.
„Mit wem haben sie sich auf der Straße getroffen?“ wollte Madame mit gefährlich leiser Stimme wissen.
Sarah blickte ihre ‚Arbeitgeberin’ erstaunt an. „Getroffen? Auf der Straße?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin lediglich im Hof gewesen, weil ich merkwürdige Geräusche vernahm.“
Die Vaubernier trat nahe an ihre Haushälterin heran. Blitzschnell ruckte ihre rechte Hand vor und versetzte Sarah eine schallende Ohrfeige.
„Lügnerin! Ich habe dich gesehen! Constanze hat dich beobachtet, wie du aus dem Haus geschlichen bist. Sie informierte mich!“
Lucia verfolgte den Disput vom Fenster ihres Zimmers aus.

Das Klopfen an der Zimmertür hatte sie – vorerst – vor den Zudringlichkeiten der Vaubernier bewahrt.
Sie sah, wie die Lebedame Sarah ohrfeigte. Dann gestikulierte sie wild. Sie schrie ihre Privatsoldaten an – diese brachten Sarah dann ins Haus.
Lucia schlich sich zu Zimmertür. Lautlos öffnete sie diese einen Spalt. Niemand hielt sich auf dem Korridor auf. Nun huschte sie hinaus. Ihre Schuhe hielt sie in der Hand, sodass niemand ihre Schritte hören konnte. An der Treppe lauschte sie erneut – dann wieselte sie hinunter. Aus weiter Ferne vernahm sie die Stimme der Vaubernier. Sie schien aus dem Keller zu kommen.
Lucia war das egal. Ihr Ziel lag woanders.
Nur drei Minuten später hatte sie den Salon erreicht. Unter dem Fenster stand der Sekretär. Es machte den Eindruck, als habe die Vaubernier – bevor sie sich entschloss, mit ihrem Gast ihre lesbische Leidenschaft auszuleben – einen Brief begonnen.
Rasch überflog sie die Anfangszeilen. Das Schreiben – mit königlichem Siegel – zeigte sich an einen Kapitän Lervia in Marseille gerichtet. Seiner Majestät Schiff ROSSILION.
„Neugierig – Madame?!“ erklang da die leise Stimme – allerdings vor Kälte klirrend – an Lucias Ohr. Sie schreckte auf. Mitten im Raum stand die Vaubernier.



Das glaube ich nicht!“
Der König lief aufgebracht in der Kajüte der SILVER STAR umher.
Sam Bush hatte nicht gerade intelligent aus der Wäsche geschaut, als Estrella und Helen mit ihrem Gast auf dem Schiff auftauchten.
„Hängt ihn direkt an der obersten Rahe auf.“ Der Erste das in Helens Ohr geflüstert.
„Ruhig Blut, alter Freund“, hatte sie entgegnet. „Vielleicht kann er uns nützlich sein.“
Estrella schenkte Rotwein ein. Sie reichte dem nervösen König das Glas.
„Sie können ihn ruhig trinken“, meinte sie mit leicht spöttischem Unterton. „Er ist nicht vergiftet. Ich habe ihn einem Franzosen abgeknöpft.“
Louis blieb abrupt stehen. Sein Kopf ruckte herum. Dann huschte ein Lächeln über sein Antlitz. Er nahm das Glas. Er verhielt auf dem Weg zum Mund einen Moment in der Bewegung. Er bemerkte: „Sie sind eine ungewöhnliche Frau – Mademoiselle Avilla de Aragon.“
Helen trat näher an den König heran. „Möglicherweise hat sie ihnen sogar das Leben gerettet. Wer weiß, was Madame Lange alias Vaubernier noch vorhat.“
Louis trank einen Schluck – dann schüttelte er den Kopf und murmelte: „Ich kann es nicht glauben.“
„Das ist ihre Sache Majestät“, kam es kalt von Estrella. „Aber ich möchte ihnen einen Vorschlag machen…“
Louis hörte zu.
Endlich meinte er: „Es wäre doch jetzt für sie d i e Gelegenheit, den verhassten König der Franzosen zu beseitigen. Weshalb tun sie das nicht, Madame?“
Die Corsarin machte ein paar Schritte auf den König zu. „Sie verkennen mich völlig, Majestät. Ich hasse sie nicht. Ich wehre mich nur! Das ist ein Unterschied!“
Louis wischte durch die Luft. „Sie unterstützen Rebellen und kapern meine Schiffe!“
Estrella nickte. Dann deutete sie auf einen wunderbaren, handgearbeiteten Lehnstuhl hinter einem kompakten Holztisch mit breiter Platte. Ein Schreibtisch, der einmal in einem südamerikanischen Konsulat gestanden hatte und nun der Corsarin als Kartentisch diente.
„Setzen sie sich und hören sie zu. Ich werde versuchen, ihnen einiges zu erklären. Vielleicht ändert das ihre Ansichten.“
Nach einer halben Stunde saß der König sehr nachdenklich da. Er hielt den Kopf leicht gesenkt, als er sagte: „Sie meinen also, wenn ich den…Siedlern der Neuen Welt helfe, dann würden diese mich gegen die Engländer unterstützen?“
Estrella nickte. „Sie bekämen ihre Goldminen…vielleicht Louisana zurück und der Erbfeind müsste sich zurückziehen. Die Siedler wünschen lediglich ihre politische Unabhängigkeit. Keine überhöhten Zölle aus den Mutterländern – keine Bevormundung. Eine normale Beziehung – auch im Handel – wäre möglich.“
Louis blickte auf. „Das ist nachdenkenswert, Madame.“
Estrella ging zur Kajütentür und öffnete sie.
„Mr. Bush! Bitte lassen sie unseren Gast in die Stadt zurück bringen. Eine akzeptable Kutsche wird sich sicherlich auftreiben lassen.“
Louis erhob sich, nahm seinen mit Silberknauf verzierten Stock und verbeugte sich höfisch. „Madame – sie sind eine Dame von Größe. Hätte die Welt mehr davon.“




Die Vaubernier schäumte über!
Vor ihr auf dem kostbaren Teppich kniete Lucia. Zwei Diener hielten sie fest im Griff.
„Was haben sie gesucht, Madame? Gibt es vielleicht einen Mittelsmann in meinem Gefolge, der als Kurier zwischen ihnen und der Corsarin agiert?“
Die Frau stampfte mit dem Fuß auf. Dann trat sie auf Lucia zu und griff er fest unter das Kinn.
„Ihre Hochnäsigkeit und Neugierde wird ihnen schon vergehen“, flüsterte sie.
Sie richtete sich aus der leicht gebeugten Haltung auf und sagte zu einem der Männer: „Madame erhält im Hof dreißig Peitschenhiebe. Danach rede ich weiter mit ihr.“
Sie richtete den Blick wieder auf Lucia. „Ich denke, sie werden dann kooperativer sein.“
Die Männer rissen Lucia hoch. Einer hielt ihre Hände fest, der andere riss ihr mit einem Ruck das Kleid bis zu den Hüften herunter.
Die Vaubernier kam näher an Lucia heran und strich mit den Fingerspitzen über deren Brustwarzen.
„Schade“, murmelte sie. „Nach der Auspeitschung werden diese Brüste nicht mehr so appetitlich wirken.“
Da klopfte es energisch an der Eingangstür des Hauses.
Die Vaubernier zuckte zusammen.
„Im Namen des Königs! Öffnet!“ herrschte eine Stimme von draußen.
Die Vaubernier machte einem ihrer Bediensteten ein Zeichen. Wenig später standen zwei königliche Soldaten in dem Salon.
„Madame de Vaubernier – auf höchsten Befehl seiner Majestät haben sie umgehend Madame Lucia Avilla de Aragon an uns zu übergeben, auf dass wir sie zu SILVER STAR geleiten.“
Die Vaubernier schluckte. „Zur SILVER STAR? Ist der König verrückt?“
Der Sprecher zog leicht die Augen zusammen. „Hüten sie sich vor Majestätsbeleidigung. Ich müsste sonst festnehmen.“
Die Vaubernier wurde leicht blass – dann zuckte sie mit den Achseln.
„Nehmen sie das Weib in Gottes Namen mit. Verlieren sie sie nur nicht bis Marseille.“
Der Soldat zog eine Augenbraue hoch. „Wie kommen sie auf Marseille? Die SILVER STAR liegt in Montpellier.“
Man spürte förmlich, wie die Intrigantin innerlich explodieren wollte.
Die Corsarin hatte ihren Plan unterlaufen.


Schiff klar zum Auslaufen!“
Die Stimme des ersten Offiziers dröhnte über das Deck der SILVER STAR.
„Bestens, Mr. Bush! Es wird Zeit, unsere Heimatgefilde aufzusuchen.“ Die Corsarin stand neben dem Steuerdeck und hielt den Arm um Lucia gelegt. Die Sonne erhob sich gerade über den Bergen.
„Trossen lösen!“ rief Sam Bush.
In diesem Moment raste ein Reiter auf die Anlegestelle der SILVER STAR zu.
Die Corsarin runzelte die Stirn.

„Das ist doch…“ Ihr Arm löste sich von Lucia. Estrella lief auf das Fallreep zu, das gerade von einem Seemann hochgezogen werden sollte.
„Stopp Diego!“ rief die Corsarin. „Unten lassen!“
Das dampfende Pferd wurde so hart angehalten, dass es auf die Hinterhand stieg. Der Reiter sprang ab und rannte auf das Schiff zu.
„Estrella!“ rief er. Atemlos erreichte er das Deck.
„Himmel! Verdeux! Was ist passiert?“
Der Mann lehnte sich an die Reling und rang nach Luft.
„Sarah…“ keuchte er.
Die Corsarin fasste ihn hart am Revers seiner Jacke. „Reden sie schon! W
as ist mit Sarah?“
„Verhaftet….im Morgengrauen…mit der Vaubernier…bringen sie auf Befehl des Königs in die Bastille…“
„Mierda!“ stieß Estrella aus.
„Um die Vaubernier ist es nicht schade“, knurrte Lucia hinter ihr. „Sollen sie ihr den nackten Arsch gerben.“
„Aber Sarah muss da raus!“ stieß die Corsarin hervor. Sie drehte sich rasch um. „Mr. Bush! Trossen wieder fest. Vier Mann mit mir!“
Bush stemmte die Arme in die Seiten. „Hol’s der Satan!“ knurrte er und gab den Befehl weiter.
Nachdem die SILVER STAR wieder fest vertäut lag, hatte die Corsarin sich Kartenmaterial besorgt.
„Sie müssen hier lang“, erklärte sie und deutete mit dem Kohlestift auf eine Landstraße. „Spätesten vor FERRAND müssen sie Quartier beziehen. Dort liegt eine kleine Garnison.“
Helen machte ein skeptisches Gesicht. „Wir müssten sie vor der Stadt aufbringen. Aber das wird knapp.“
Verdeux zeigte auf ein kleines Gebiet neben der Straße. „Ich kenne eine Abkürzung. Die erspart uns mit guten Pferden etwa drei Stunden.“
Estrella nickte nach kurzer Überlegung. „Bueno! Dann los!“
Als sie am frühen Abend die Stadt sehen konnten, zeigte sich weit und breit nichts von dem Gefangenentransport. Von einer Erhöhung aus schauten Estrella, Helen und Verdeux über die fast gerade verlaufende Straße.
Verdeux kaute an den Fingernägeln. „Sie können noch nicht in der Stadt sein. Wir sind schneller gewesen.“
Ihre Pferde dampften von dem Gewaltritt.
„Vielleicht sind sie einen anderen Weg nach Paris…“ Helen verhielt mitten im Satz. Sie deutet nach Südosten. „Seht ihr die Staubwolke? Das müssen sie sein!“
Die Corsarin zog ihr Fernrohr aus dem kleinen Lederbeutel, den sie am Gürtel hängen hatte und fixierte den hellen, aufwirbelnden Punkt.
Ihr Atem wurde hastiger.
„Mierda!“ stieß sie hervor. „Die haben die halbe Armee bei sich!“
„Was?“ Helen riss nun gleichfalls ihr Fernrohr aus dem Futteral und folgte dem Blickwinkel der Schwester.
„Das sieht mir aber ganz und gar nicht nach einem Transport von zwei Frauen aus.“
Estrella strich sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. „Nein…“ murmelte sie.
Verdeux zeigte sich ungeduldig. „Was ist denn los?“
Estrella richtete den Blick auf ihn. „Wir müssen warten. Sie sind noch zu weit weg, um den Grund für diese Schwadron auszumachen.“
Helen musterte erneut die sich ausbreitende Staubwolke. „Sie ziehen eigentlich für einen Reitertrupp sehr langsam, obwohl sie viel Staub aufwirbeln…. Moment! Was ist
d a s denn?!“
Die Corsarin setzte nun gleichfalls ihr Fernrohr wieder an.
„Ein Trupp von etwa zwanzig Reitern eilt jetzt voraus. Ungefähr die doppelte Zahl bleibt bei der… - Deo! Es sind
z w e i Kutschen!“
Nach weiteren zehn Minuten schärfte sich das Bild.
„Die Kutsche des Königs! Dahinter ein Trupp von zwanzig bis dreißig Soldaten. Die genaue Zahl kann ich nicht ausmachen. Dann folgt eine robuste geschlossene Kutsche. Dahinter wieder Soldaten.“
Die drei Beobachter zogen sich hinter eine Buschwerk zurück, um gegen den Himmel nicht gesehen zu werden.
In einer Entfernung von einem Kilometer raste die Vor-Schwadron auf die Stadt zu. Dann kam der Hauptrupp.
Verdeux stöhnte auf. „Mir schwant Böses. Der Vortrupp informiert die Garnison vom Kommen des Königs. Gegen diese Übermacht können wir nichts ausrichten.“
Bald verfolgten Estrella, Hellen und Verdeux den Durchzug der Soldaten und der Kutschen. Plötzlich stöhnte Estrella auf. „Oh Herr der Meere!“
Auch Helen schluckte. „Der Vaubernier gönne ich das ja“, flüsterte sie. „Aber Sarah…“
Der Blick wurde frei auf die geschlossene Kutsche. Sie wurde von zwei robusten Gäulen gezogen. Doch hinter der Kutsche stolperten mehr, als das sie liefen…die Vaubernier und Sarah.
Durch die Fernrohre erkannten die Beobachter, dass die Körper Staub bedeckt waren. Mit schweren Ketten an den Handgelenken zerrte man die Gefangenen hinter der Kutsche her. Die Vaubernier und Sarah hatte man bis zu den Hüften entblößt. Peitschenspuren schimmerten in der Sonne. Auf nackten Füßen taumelten sie apathisch hinter dem Wagen her.
Verdeux ballte die Fäuste. „Wir müssen Sarah befreien! Das…hält…sie nicht durch!“
Die Corsarin griff den jungen Mann geistesgegenwärtig in den Zügel, als er losstürmen wollte.
„Seid ihr ohne Verstand?! Wenn ihr nicht erschossen werdet, kettet man euch höchstens splitternackt neben die beiden!“
Verdeux sackte auf dem Sattel zusammen.
Estrella legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Wir können leider im Augenblick nichts tun. Wir schleichen und diese Nacht in den Ort. Dann sehen wir weiter.“

Neumond.
Nur der Widerschein einiger Straßenfeuer drang durch das geöffnete Tor zur Landstraße herüber. Zwei Soldaten standen gelangweilt im Torbogen und rauchten.
Estrella und Helen duckten sich hinter zwei mächtige Ginsterbüsche. Verdeux – genau nach Plan – taumelte lallend und singend auf die Wachen zu.
„He! Sieh dir den besoffenen Hund an!“ rief einer der Wächter und stieß sich von der Wand ab.
Verdeux stolperte und fiel dem Soldaten schier um den Hals. Der lachte laut los.
„Ist ja gut, Junge – haha – richtig schön Durst gehabt – was?“
Verdeux klammerte sich an den Hals des Wächters.
Unter dummen Bemerkungen kam der zweite Mann nun seinem Kollegen zu Hilfe. Als sie nun abgelenkt waren, huschten die beiden Frauen durch den Torbogen und nahmen in einem finsteren Hauseingang Deckung.
Verdeux hatte das aus den Augenwinkeln beobachtet und schien eine Spur nüchterner zu werden.
„T’schuldigung, Jungs – bin etwas wacklig auf den Beinen. Geht schon wieder.“
Er richtete sich kerzengerade auf – verbeugte sich dann und brummelte: „Vielen Dank, Majestät, für die Hilfe.“
Dann drehte er sich wie eine Marionette um und stiefelt Richtung Stadt.
„Fall nicht in die Kloake!“ rief einer der Soldaten hinter ihm her. Dann drang nur schallendes Gelächter aus dem Torbogen.
Estrella und Helen warteten, bis sich die Wachen in den Außenbereich des Tores verzogen hatten, dann traten sie aus ihrem Versteck und eilten um die nächste Ecke in eine kleine Gasse.
Verdeux folgte kurz darauf.
„Uff!“ machte er. „Gar nicht so einfach, überzeugend einen Besoffenen zu spielen.“
„Das war Höchstleistung“, witzelte die Corsarin.
Helen blickte sich um. In der ferne flackerte in einem eisernen Korb ein Leuchtfeuer. „Die Garnison muss dort hinten unterhalb der Kirche liegen, wenn ich das so recht in Erinnerung habe.“
Die Corsarin runzelte die Stirn. „Warst du schon mal hier?“
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. „Nein – aber mein…“
„Na dann!“ unterbrach Estrella. Sie eilten weiter.
Da vernahmen sie Hufschlag und das Rattern von schweren Rädern. Rasch drückten sie sich in eine Mauernische zwischen zwei Häusern.
Da jagte die Kutsche vorbei.
„Das ist die Gefängniskutsche!“ stieß die Corsarin hervor.
Helen schaute vorsichtig um die Ecke. Das Rattern verebbte.
„Ohne Soldatenbegleitung?“ murmelte sie überrascht. Dann rannte sie los.
„Warte! Wohin?“ rief Estrella hinter ihr her. Aber Helen hörte nicht. Sie jagte hinter der Kutsche her. Diese bog aus der Gasse auf den Hauptweg zum Tor zu.
Estrella überlegte nicht lange und spurtete los. Helen hatte sich bereits auf das Trittbrett geschwungen, auf dem sonst die Wachen standen. Die Corsarin schaffte es gerade noch vor dem Tor, ebenfalls aufzuspringen. Verdeux musste zurück bleiben.
Kurz vor dem Torbogen hielt der Kutscher an. Die beiden Frauen machten sich im Schatten so klein wie möglich.
„Wo hin, Charles?“ fragte einer der Torsoldaten. Er schien den Kutscher zu kennen.
„Nach Paris.“
„Hast du jemanden da drin?“
„Zwei Weiber. Sie sind chloroformiert und gefesselt. Der König persönlich hat mir befohlen, sie so rasch es geht, zur Bastille zu befördern.“
„Hm“, machte der Wächter erstaunt. „Ohne Begleitschutz?“
„Die beiden Huren werden mir nichts tun.“
„Na dann – fahr zu!“
Die Kutsche ruckte an. Die beiden ‚blinden Passagiere’ wurden nicht entdeckt.
Als die Kutsche etwa zwei Kilometer zurückgelegt hatte, hangelte sich die Corsarin auf das Dach der Kutsche hinauf. Plötzlich spürte der Kutscher ein Messer an seiner Kehle.
„Halte an oder du siehst Gott!“ zischte Estrella.
Völlig verschreckt riss der Mann an den Zügeln.
Helen stand mit einemmal neben dem Bock und hielt dem Mann ihre Degenklinge an die Brust.
„Gibt mir die Schlüssel zur Kutsche!“
Zitternd fingerte der Kutscher den Schlüsselbund hervor und reichte ihn der Sprecherin.
„Du rührst dich nicht vom Fleck, sonst trifft dich mein Wurfmesser genau in den Nacken. Ich bin Meisterin darin!“
Der verängstigte Mann wagte nicht zu atmen.
Helen öffnete das schwere geschmiedete Schloss.
Im Innern des Wagens erkannte sie nur schemenhaft zwei liegende Gestalten. Gemeinsam mit Estrella zerrte sie beide nach draußen.
„Verdammt!“ rief Helen aus. „Das sind ja zwei völlig fremde Weiber!“
Die Corsarin befand sich mit drei mächtigen Sprüngen neben dem Kutscher.
„Wo sind die Gefangenen, die du hier her gebracht hast?“ zischte sie.
Der Kutscher zitterte wie Espenlaub. „Mit der Königskutsche durch das Nordtor, Aber bereits vor zwei Stunden.“
„Mierda!“ stieß die Corsarin hervor. „Wo solltest du diese beiden hinbringen?“
„Nach Marseille auf eine Strafgaleere. Das sind zwei Mörderinnen. Das Gericht hat ihnen ihr Leben geschenkt.“
Estrella spuckte aus. „Das Leben geschenkt! Pah! Die Galeere überleben sie nur eine Woche. Weißt du genau, dass es Mörderinnen sind?“
Der Kutscher nickte. „Sehr genau“, gab er zur Antwort. „Sie haben ihre Kinder umgebracht.“
Die Corsarin hielt den Atem an. Dann betrachtete sie die gefesselten, ohnmächtigen gestalten genau. Endlich flüsterte sie: „Bring sie weg! Aber nur ein Wort von unserem Zusammentreffen…Ich finde dich überall!“
Sie sahen zu, wie der breitschultrige Mann seine Gefangenen wieder in der Kutsche verstaute.
Als das Gefährt zwischen den sanften Hügeln verschwand, brummte Helen: „Man hat uns gelingt.“
„Ja“, bestätigte die Corsarin und zeigte zum Stadttor. Ein Trupp Reiter stürmte hervor.
„Der König muss geahnt haben, dass wir versuchen würden, die Kommandantin der SCHWARZEN MÖWE zu befreien. Jetzt aber weg hier!“
Sie tauchten im Unterholz der Hügel unter.

Paris – sechs Wochen später.
Der Saal des Magistrats – in dem das Gericht tagte – zeigte sich überfüllt. Der vorsitzende Richter in der roten Robe schlug mit dem Holzhammer auf den Tisch.
„Ruhe! Sonst wird der Saal geräumt!“ Er wandte den Kopf. „Büttel – hole er die Angeklagten!“
Wenig später wurden zwei Frauen – nackt – total verdreckt und mit verfilzten Haaren in Ketten herein geschleift.
Ein Raunen ging durch den Saal.
„Oh ihr Götter der Meere!“ entglitt es der Corsarin.
„Still!“ zischte Helen.
Sie standen mit Verdeux in der vierten Reihe des großen Saales auf einer kleinen Empore.
Der Richter rümpfte die Nase und rief mit wild fuchtelnden Armen: „Was ist
d a s ?“
Die Vaubernier und Sarah Corell konnten sich kaum auf den Beinen halten. Spuren von nicht all zu alten Peitschenhieben ließen sich nicht übersehen.
„Die Angeklagten Madelaine Voss und Jeanne Gomard de Vaubernier“, las der Gerichtsdiener vor.
Estrella und Helen schauten sich an. Wie hatte Sarah es geschafft, ihre Identität zu verheimlichen?

Das Gesicht des Richters zeigte sich finster. „Was soll ich mit diesen Kreaturen machen? Wie soll ich bei diesem Anblick und dem Gestank eine Verhandlung führen?! Bringt sie weg. Sie sollen gewaschen werden und ziemlich gekleidet.“
Verdeux, der etwas hinter der Corsarin und Helen stand, beugte sich zu ihnen vor und flüsterte: „Richter Andreau ist ein harter, aber gerechter Richter. Er will keine Wracks im Gerichtssaal.“
„Die Sitzung ist um eine Stunde vertagt!“ rief der genannte aus.
Nach dem die Zeit vergangen war, wurden die beiden Frauen wieder in den Saal gebracht. Sie wirkten einigermaßen sauber, wenn auch die haare wirr und feucht um die Köpfe hingen. Sie trugen dunkle Kittel. An den bloßen Füßen hatte man sie mit Ketten gefesselt. Die Hände waren frei.
Der Richter musterte beide ernst. Dann nickte er befriedigt und bemerkte:
„So ist es menschlicher. Die Verhandlung ist eröffnet. Madame Vaubernier – sie werden beschuldigt, Intrigen um den König gesponnen zu haben, seine Majestät beleidigt und verraten zu haben. Ist das richtig?“
Die Vaubernier hob das blasse Antlitz. Ohne das grelle Make-up wirkte sie zerbrechlich – ja, beinahe schutzbedürftig.
„Monsieur Vorsitzender – nichts davon stimmt. Niemals habe ich den König verraten.“
Richter Andreau blickte in seine Akten. „So stimmt es nicht, dass sie mit Hilfe des Grafen Dubarry die Aufständischen Siedler in Louisiana und Pennsylvania mit Waffen versorgen ließen?“
„Doch, Monsieur – das ist richtig.“
Wieder erhob sich ein Raunen in der Menge. Man tuschelte empört.
Der Richter schlug mit der flachen hand auf den Tisch. „Das ist Hochverrat! Wer gab ihnen den Auftrag dazu?“
Die Vaubernier blickte den Richter fest an. „Der König selbst!“
Nun hätte man im Saal eine Stecknadel fallen hören können. Richter Andreau geriet merklich aus der Fassung.
„Der König?“ kam es irritiert. „Das ist…Madame – sie werden über diese Antwort nachdenken! Büttel – bringt die Angeklagte zurück in die Bastille. Spannt sie bis zum aller Äußersten, das Knochen und Sehnen knirschen, auf die Streckbank und lasst sie dort bis morgen.“
Die Vaubernier schwankte – sagte aber nichts weiter, als man sie abführte.
Nun wandte sich der Richter Sarah zu.
„Madelaine Voss – sind bei Madame als Hausdame angestellt gewesen. Stimmt das?“
Sarah nickte. „Ja, euer Ehren.“
„Wissen sie etwas über den Verrat von Madame?“
Sarah schüttelte zur Verblüffung von Estrella, Helen und Verdeux den Kopf.
Der Richter stützte sich auf die Hände. „Ich warne sie. Sagen sie uns die Wahrheit. Wissen sie etwas darüber?“
„Nein, euer Ehren. Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen.“
Der Richter schob das Kinn vor. „Würde sie sich nach – sagen wir mal – vierzig Schlägen auf ihre Fußsohlen besser erinnern?“
Sarah reckte sich stolz. „Selbst wenn ihr mir die Sohlen brennen lasst – so kann ich nur sagen, dass ich nichts darüber weiß. Ich kann ihnen lediglich sagen, dass sehr häufig Männer des Hofes im Hause Madames zu Gast waren und man hinter verschlossenen Türen konferierte.“
Der Richter rieb sich das Kinn. „So“, brummte er. „Man konferierte. Worüber?“
„Es ging um Amerika und die Aufständischen. Aber genaues habe ich nicht mitbekommen.“
„Aha – hat sie nicht…soso. Na, wir werden sehen. Kannte sie die Männer?“
„Nicht alle. Einmal ist der Schatzkanzler seiner Majestät mit gewesen.“
Wieder ging ein Getuschel durch den Saal.
„Der Schatzkanzler?“ Andreau wirkte immer irritierter. „Weiß sie, ob über Waffen gesprochen worden ist?“
„Ob dabei, weiß ich nicht. Aber zwei Tage nach der letzten Konferenz.“
Der Richter schaute sie nun interessiert an. „So? Mit wem denn?“
„Mit dem König, euer Ehren.“
„Mit dem…“ Der Richter griff in die Tasche seiner Robe und zog eine Schnupftabaksdose hervor. Nach einer Prise bemerkte er: „Erkläre sie das genauer.“
„Madame Vaubernier gab seiner Majestät zu bedenken, ob es nicht besser sei, die Siedler zu unterstützen und so auf die Seite Frankreichs zu ziehen. Gegen die Briten.“
Andreau zog die Augenbrauen hoch. „Das sagte sie? Und wie sollte das gehen?“
„Durch Waffen. Waffen, die dann gegen England eingesetzt würden.“
„Stimmte der König…dem zu?“ fragte der Richter langsam.
Sarah zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht. Nur am nächsten Morgen – als seine Majestät sich verabschiedete, da…“
„Da? Rede sie! Lasse sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
Sarah holte tief Luft. „Nun – die Vaubernier sagte etwas zum König und der antwortete genervt: Macht es wie ihr denkt!“
Im Saal sprach kein Mensch ein Wort. Die Sekunden dehnten sich. Endlich sagte der Richter leise: „Madame Voss – sollten sie lügen, lasse ich sie mit ihrer Zunge an einen Pfahl binden und ihnen darauf sechzig scharfe Stockschläge geben.“
„Monsieur… sie sind der Richter. Es steht ihnen frei. Trotzdem kann und werde ich nichts anderes sagen können.“
Der Vorsitzende starrte eine Zeit lang auf seinen Tisch. Dann nickte er nur und bemerkte: „Gut Madame. Ich werde sie morgen noch einmal befragen. Wenn sie mir die selbe Auskunft geben, lasse ich sie eine volle Stunde lang auspeitschen.“
„Euer Ehren!“ rief Sarah aus. „Sie verlangen von mir zu lügen, nur um der Folter zu entgehen? Peitschen sie mich jetzt und hier!“
Mit diesen Worten riss sie sich das Kleid vom Leib.
Einige Zuschauer riefen etwas empört von Recht und Unrecht.
Andreau erhob sich von seinem Platz.
„Büttel! Die Angeklagte hat mich überzeugt. Gleichzeitig entlastet sie Madame Vaubernier. Bringt die andere Angeklagte wieder zurück in den Saal.“
„Warum spricht er sie nicht frei?“ murmelte Helen.
Estrella drückte ihre Hand. „Das geht nicht. Der König hat beide herbringen lassen. Also muss der Richter etwas finden, was den Prozess zu mindesten pro forma rechtfertigt.“
„Shit!“ zischte Helen.
„Jedenfalls wird Sarah nicht gehenkt. Das gibt uns Zeit!“
Es dauerte etwas, dann führte man die Vaubernier wieder in den Saal.
„War sie schon auf der Bank?“ erkundigte sich der Richter.
Der Büttel verneinte. „Wir wollten sie gerade anketten, euer Gnaden.“
Richter Andreau starrte vor sich hin. Im Saal blieb es still. Würde der Richter die beiden Frauen frei lassen? Vom Rechtsstand musste er es, aber er konnte nicht jemanden freilassen, der auf Befehl des Königs verhaftet worden war.
Er stützte das Kinn in die rechte Hand, blickte von einer der Angeklagten zur anderen…dann schien er eine Entscheidung gefällt zu haben.
„Madame Vaubernier“, begann er. „Eure Hausdame hat sie entlastet. Sie sollten ihr dankbar sein, eine so loyale Angestellte zu haben. Allerdings steht noch Majestätsbeleidigung im Raum. Sie haben sich nicht gebührend dem König gegenüber verhalten. D a s wurde mir auch als Grund für euer Hiersein noch mitgteilt.“
Der Richter erhob sich. „Im Namen des Königs ergeht folgender Beschluss des Magistratsgerichtes von Paris: Madame Vaubernier wird zum Strafkloster SANKT MARIE DE LA MER gebracht. Dort wird sie für ein Jahr bleiben – als Büßerin. Den Klosterstatuten nach barfüßig.“
Der Richter machte eine kurze Pause und wischte dann mit der rechten Hand durch die Luft. „Führt sie weg!“
Nun wandte er sich Sarah zu. „Mademoiselle Voss – als Gesellschafterin und Hausdame sind sie nicht verantwortlich für das Tun ihrer Herrschaft. Was das Gericht ihnen anlastet ist – dass sie bei der Verhaftung Madames nicht sogleich ausgesagt haben. Daher verurteile ich sie zu sechzig scharfen Stockhieben auf die Fußsohlen. Zwanzig davon erhält sie hier im Gerichtssaal. Die restlichen vierzig am Pranger vor der Kathedrale. Büttel – hole er die Strafbank!“
Estrellas Hände krallten sich in Helens Oberarm. Diese war auch etwas blass geworden, flüsterte aber dann:
„Die zwanzig Hiebe wird sie überstehen. Auf dem Weg zur Kathedrale befreien wir sie. Die restlichen vierzig bekommt sie nicht. Das schwöre ich dir!“
Sie wandte sich an Verdeux. „Holen sie die Pferde und halten sie sich in der Nähe des Prangers bereit!“
Inzwischen hatten zwei Gerichtsdiener die Verurteilte bäuchlings auf die Bank gebunden. Die Füße ruhten auf einer leicht erhöhten Lehne – die nackten. Schmutzigen Sohlen wiesen nach oben.
Der Büttel ließ den Rohrstock durch die Luft pfeifen. Das geifernde Volk versuchte aufgeregt alles mit zu bekommen.
Estrella drehte sich dabei fast der Magen um. Aber Helen hatte ja Recht. Hier im Gerichtssaal konnte man nichts unternehmen.
Der Stock sauste in einem Bogenschlag zischend durch die Luft und traf mit hellem „Klatsch“ die rechte Sohle Sarahs. Diese zuckte zusammen. Da sauste der Stock erneut und traf die linke Sohle in voller Länge. Sarah schrie leicht auf.
In kurzen Abstand ließ der Büttel mit scheint’s wahrem Genuss seinen Stock immer wieder auf die Sohlen in voller Länge treffen.
Die Gemarterte stieß helle Schreie aus.
„Zwanzig!“ Der Büttel hielt inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sarah lag erschöpft auf der Bank, die Sohlen zeigten sich mit dunklen Striemen bedeckt und begannen anzuschwellen.
Der Richter erhob sich wieder von seinem Platz.
„Bringt sie zum Pranger. Die Verhandlung ist geschlossen!“
Sarah wurde losgebunden. Nur mit schmerzverzerrtem Gesicht konnte sie mühsam stehen. Das Volk zerstreute sich. Einige würden sich wohl auf dem kürzesten Weg zur Kathedrale aufmachen, um das Finale zu erleben.
Die Corsarin und Helen eilten sich, die Straße zu erreichen.


Es war ein Handstreich gewesen!
Ehe die Wachen auch nur zu zwei Atemzügen fähig gewesen waren, hatte die Corsarin sich mit ihrem Pferd in einem Wahnsinnssprung auf die Empore des Prangers katapultiert, Sarah zu sich in den Sattel gerissen und war davon geprescht.
Einige Musketenschüsse folgten ihr, konnten aber nichts Gefährliches anrichten. Zumal Helen und Verdaux die Wachmannschaft um die Kathedrale zusätzlich irritierten.
Nun jagten sie die Landstraße entlang.
„Oh Gott“, hauchte Sarah, die in den Armen Estrellas hing. „Weitere Hiebe hätte ich nicht ausgehalten.“
„Wir hätten eher zugegriffen, wenn es auch nur den Hauch einer Chance geben hätte“, keuchte die Corsarin. Sie schaute sich um. Helen und Verdaux hatten eng aufgeschlossen. Die Staubwolke weiter hinten zeigte jedoch an, dass man sie verfolgte.
Kurzentschlossen schwenkte Estrella in die weite Wiese ab und hielt auf ein Gehölz zu. Sie wusste, dass es dort hinter einen Flusslauf gab.
Wenn sie den überqueren könnten, wären sie in Sicherheit.
Die Pferde griffen mächtig aus. Sie erreichten den dichten Kiefernwald. Zweige peitschten ihnen ins Gesicht…ein Abhang…Estrellas Pferd strauchelte…sie hörte Sarah schreien…dann wurde es schwarz um sie.
Im Unterwustsein vernahm sie zahlreiche Geräusche und Rufe, die sie nicht einordnen konnte. Dann verschwanden auch diese aus ihrem Wahrnehmungsbereich.
Als sie – irgendwann – wieder zu sich kam, versuchte sie sich zu bewegen. Mit einem unterdrückten Schrei ließ sie es wieder sein.
„Ganz ruhig, Madame“, vernahm sie eine tiefe, angenehme Stimme.
Sie öffnete die Augen. Sie hatte den Eindruck, als seien ihre Lider Zentner schwer. Unendlich langsam klärte sich ihr Blick. Sie erkannte einen bärtigen, leicht struppigen Mann. Er trug die Kleidung ortsansässiger Bauern.
„Sie haben sich ein Bein ausgerenkt, aber das bekomme ich wieder hin. Gut nur, dass sie während des Transportes ohnmächtig gewesen sind.“
Estrella fühlte einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Der Mann setzte ihr vorsichtig einen Becher mit Wasser an die Lippen.
Sie trank in kleinen Schlucken. Für einen Moment schloss sie wieder die Augen, dann wollte sie mit leiser Stimme wissen: „Wo bin ich hier?“
„Mein Name ist Antoine. Sie befinden sich auf meinem Hof. Zwei meiner Knechte haben sie im Unterholz gefunden. Sie sind durch eine Schwadron Soldaten aufmerksam geworden, die wohl jemanden jagten.“
„Soldaten…oh Neptun!“ Sie wollte sich aufrichten, doch Antoine drückte sie sanft auf das Lager zurück.
„Seien sie froh, dass man sie nicht entdeckt hat, sonst hätten sie jetzt mehr als nur ein Bein verrenkt.“
„Wo sind meine Begleiter?“
Der Bauer zuckte die Achseln. „Jedenfalls scheinen die Soldaten sie nicht erwischt zu haben. Ich weiß übrigens wer sie sind. Sie sind die Frau, die Sarah Corell vom Pranger gerettet haben.“
Estrella schluckte. „Sie…kennen…Sarah?“
„Sie ist meine Tochter.“
D a s musste die Corsarin erst einmal verdauen.
„Dann… Himmel – mein Bein!“ Sie stöhnte auf.
Antoine grinste. „Das haben wir gleich.“
Ehe Estrella sich versah, hatte er ihre Bettdecke zurück geschlagen. Darunter lag sie nackt. Er griff an ihren Oberschenkel, mit der anderen Hand ihren Fuß und…es krachte fürchterlich. Estrella fuhr mit dem Kopf hoch, sperrte den Mund auf, die Augen schiene aus den Höhlen zu treten…dann sackte sie wieder auf das Bett.
Antoine nickte befriedigt und deckte sie wieder zu.
„Der Schmerz lässt gleich nach.“
Die Corsarin schnappte nach Luft.
„Heilige Dyonisos…so muss es sich auf der Streckbank anfühlen.“
„Ja – nur machen sie es da umgekehrt. Da renken sie dir die Beine aus“, kam es trocken.
Estrellas Atem beruhigte sich etwas. „Bueno…ich muss wissen, ob meine Schwester bis zur SILVER STAR durchgekommen ist.“
Antoine rieb sich das Kinn. Da öffnete sich die Bohlentür und eine kleine, rundliche Frau mit mütterlichem Gesicht trat ein. Sie trug ein Tablett.
„Zuerst müssen sie etwas essen, dann sehen wir weiter. Ich kann Vaun schicken. Liegt das Schiff in Marseille?“
Estrella schüttelte den Kopf. „Montpellier.“
Es war sehr spät in der Nacht, da kehrte der junge Knecht zurück.
Estrella saß, in eine Decke gewickelt, vor dem offenen Herdfeuer in der Küche. Zusammen mit Antoine und seiner Frau Mireille.
„Es wimmelt in Montpellier von Soldaten des Königs. Das Schiff ist ausgelaufen. Aber ich habe einen Mann unserer Gruppe getroffen. Er sagt, die SILVER STAR werde zum Golf von Rosaria segeln.“
„Weißt du, ob zwei Frauen und ein Mann an Bord gekommen sind?“
Der Knecht schüttelte den Kopf. „Das wusste er nicht. Aber er sagte mir, dass eine Gefängniskutsche in der Stadt Halt gemacht habe. Sie sei auf dem Weg zum Kloster Sankt Marie de la Mer.“
Die Corsarin runzelte die Stirn. „Wie so fährt man dann über Montpellier?“
„Ich hörte, dass eine weitere Gefangene dort eingeladen wird.“
Unruhe erfasste die Corsarin. „Wann soll die Kutsche weiterfahren?“
„Bei Sonnenaufgang.“
Estrella warf die decke zur Seite. Sie stöhnte etwas auf, als sie den Schmerz in ihrem Bein fühlte.
„Gebt mir ein Pferd! Ich muss nach Montpellier!“
„Das ist viel zu gefährlich!“ rief Antoine und sprang gleichfalls auf.




Los! Rein mit dir!“
Die beiden Soldaten stießen ihre Gefangene rüde in die Gefängniskutsche. Die Hand- und Fußketten rasselten.
Estrella hatte sich hinter einem alten Weinfass versteckt. Unbemerkt war es ihr gelungen, die Stadt und das Gefängnis am Hafen zu erreichen.
Sie konnte nicht genau erkennen, wen die Soldaten da in die Kutsche beförderten. Sie wusste zwar, dass die Vaubernier dort drin sein musste, aber ob es sich – wie sie befürchtete – bei der anderen Frau um Hellen handeln könnte, war nicht erkennbar.
„He Jacques!“ rief einer der Soldaten. „Wo ist der verfluchte Kutscher?“
„Vermutlich in der Bodega dort unten“, antwortete sein Kollege und deutete zum Hafen hinunter. Dort drang schwacher Lichtschein aus einer Spelunke.
„Hol’ ihn – ich passe hier schon auf. Die Flittchen werden nicht abhauen.“ Er lachte meckernd und rieb sich provozierend einen bestimmten teil seiner Uniformhose.
Die Corsarin wartete, bis der andere Soldat eine geraume Wegstrecke zurückgelegt hatte, dann sprang sie vor. Das zweischneidige Messer durchfuhr die Kehle des Soldaten. Lautlos sackte er zusammen.
Die Tür der Gefängniskutsche war noch nicht verschlossen.
Die ersten Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg über die Hügel. Sie musste sich beeilen. Sie stieg in den muffig riechenden Wagen.
„Könnt ihr aufstehen?“ rief sie gedämpft.
Als Antwort klirrten wieder die Ketten.
„Los! Hoch!“ kommandierte die Corsarin. Zuerst erblickte sie das schmutzige, ängstliche Gesicht der Vaubernier. Da war
nichts mehr von ihrem Stolz!
Die zweite Frau kannte Estrella nicht. Sie atmete auf. Es handelte sich nicht um Hellen.
Nur einen kurzen Moment zögerte die Corsarin, dann ergriff sie die kurze Kette, welche die Hände der beiden Frauen aneinander fesselte und zerrte diese auf das raue Pflaster der Straße. Sie schaute sich um. Nein – niemand vom Gefängnistor blickte zu dem Wagen. Man schien sehr unbesorgt hier zu sein.
„Darüber!“ zischte Estrella. Sie deutete auf einen Verschlag. Dort untersuchte sie die längeren Fußketten. Die Frauen waren barfuß und konnten nur mittelgroße Schritte machen. Die Fesseln jetzt zu lösen zeigte sich als unmöglich.
Die Corsarin deutete auf eine Leiter, die in einen dunklen Raum über dem Verschlag führten. „Hinauf mit euch und keinen Mucks mehr da oben. Kein Klappern mit den Ketten!“
Es dauerte seine Zeit, bis die beiden oben angekommen waren. Die Corsarin wuchtete den toten Soldaten in den Wagen.
Da marschierte ein Trupp Wachsoldaten vom Gefängnishof vorbei. Sie beachteten den Wagen nicht.
„Henry!“
Der andere Soldat kehrte zurück. Er erreichte die Kutsche und blickte sich suchen um. Da fuhr auch im das Messer in die Kehle.
Estrella verfrachtete auch ihn in den Wagen. Dann kletterte sie ebenfalls hinein und zog einem der Männer, der beinahe ihre Größe besaß, die Uniform aus. Inzwischen wurde es immer heller. Der Kutscher tauchte nicht auf.
Die Corsarin trat an die Leiter und rief mit unterdrückter Stimme: „Kommt herunter! So rasch es geht!“
Als die beiden Frauen endlich wieder am Wagen angekommen waren, schaute die Vaubernier die Corsarin erstaunt an.
„Wer seid ihr?“
„Das spielt jetzt keine Rolle! In den Wagen mit euch, wenn ihr nicht doch noch im Kloster oder auf einer Galeere landen wollt!“
„Da…liegt ein Toter…“ rief die andere Frau.
„Zwei!“ verbesserte Estrella. „Jetzt bewegt eure Ärsche!“
Kurz darauf fuhr die Kutsche gemächlich an. Die Corsarin saß auf dem Bock und lenkte das klobige Gefährt ohne Eile – um ja nicht aufzufallen – die Gasse entlang auf die Kais zu. Niemand nahm Notiz. Gefangenentransporte war man scheinbar gewöhnt.
Vom Kai aus schwenkte Estrella auf die Hauptstraße ab und strebte dann in rascherem Tempo dem Ortsrand zu.
Am Stadttor tippte sie grüßend an ihren Dreispitz. Die Wachen winkten nur lässig zurück.
Nach etwa hundert Metern ließ sie die Gäule galoppieren.
Die Landstraße zog sich in mehreren Kurven durch die Ebene. Als ein Gehöft auftauchte, lenkte die Corsarin die Kutsche dort in und fuhr schnurstracks in die geöffnete Scheune.
„Hallo!“ rief der Bauer. „Was kann ich für euch tun?“
Estrella hielt die Pferde an und rief: „Das Tor schließen. Aber zügig!“
Als der Mann etwas zögerte, spürte er plötzlich den Degen an seinem Hals.
„Mach schon! Ich erkläre dir alles nachher.“
Eine Stunde später saßen der Bauer, seine Frau, die Vaubernier und die weitere Gefangene – sie hieß Janette Noir – um das Herdfeuer.
„Die in der Stadt sind Halunken“, brummte der Bauer. „Die Soldaten kommen auf die Höfe und nehmen sich, was sie brauchen und wollen. Ohne Rücksicht!“
Die Corsarin saß so, dass sie das Fenster im Blickfeld hatte.
„Könnte ihr uns für einen Tag verstecken?“
Der Bauer nickte. „Oben auf dem Söller. Hinter den Strohballen gibt es einen Geräteraum. Dort seit ihr sicher.“
Estrella deutete auf die Fesseln der beiden Frauen. „Bekommst du das ab?“
„Hm – geschmiedet. Nicht genietet. Das geht nur heiß.“
Da erkannte die Corsarin auch erst die verbrannten Hautstellen an Hand – und Fußgelenken.
„Mierda! Hast du ein Schmiedefeuer?“
„Ich muss es anheizen. Das dauert etwas. Viel wichtiger ist es, die Kutsche verschwinden zu lassen.“
Die Corsarin erhob sich. „Du hast Recht. Aber wie?“
Der Bauer stand ebenfalls auf. „Überlasst das mir. Es gibt nicht weit von hier einen Abgrund. Da fahre ich sie hinein. Aber das geht erst, wenn die Soldaten nicht mehr hier längs marschieren. Das passiert zweimal am Tag. In einer Stunde etwa sind wir sicherer.“
Am späten Nachmittag war sowohl die Kutsche fort, wie auch die Ketten gelöst.
„Die Pferde stehen hinten auf der Weide. Dort werden sie nicht sogleich als Armeegäule erkannt.“
Nach diesen Worten machte der Mann seiner Frau ein Zeichen, das Essen zu richten.
Estrella blickte die Vaubernier an. „Ihr habt jetzt die Wahl. Ihr könnt mit mir kommen oder eventuell wieder in den Fingern von Louis’ Soldaten landen.“
„Ich ahne nun, wer ihr seid.“
„Dann behaltet es für euch!“ Die Corsarin wandte sich an Janette Noir. „Weshalb solltet ihr in das Strafkloster gebracht werden?“
„Ich habe…hatte ein Verhältnis mit einem Priester.“
Estrella verdrehte die Augen. „Du liebe Zeit! Und? Wo ist er?“
„Strafversetzt nach Ruon.“
Die Corsarin nickte. „Dann bleibst du auch bei mir!“
Dann nahm sie den Bauern zur Seite. Sie erklärte ihm wer sie sei und dass sie die Spur zu ihrem Schiff aufnehmen müsse.
„Sollte in meiner Abwesenheit den Frauen etwas passieren, hänge ich dich an deinen Eiern an den nächsten Baum!“
Der Mann beeilte sich ihr zu versichern, dass sie unbesorgt sein könne.
Sie blickte ihn einen Moment ernst an, dann nickte sie.
Eine halbe Stunde später ritt sie an der Küste entlang. Immer darauf bedacht, gut gedeckt zu bleiben und nicht gesehen zu werden
Die Dämmerung setzte ein und wie sie Sam Bush kannte, würde er das nutzen, um sich mit der SILVER STAR in irgendeiner Form zu nähern.
Möglicherweise würde er auch einen Boten mit dem Beiboot an Land setzen und so versuchen mit seinem Lady-Captain in Kontakt zu treten.
Die Corsarin ritt auf eine Landzunge zu – etwa acht Kilometer von der Hafeneinfahrt entfernt.
Tatsächlich!
Ihr Gefühl und das Vertrauen in ihren Ersten Offizier hat sie nicht getäuscht.
Die Silhouette dort hinten gehörte ohne jeden Zweifel zu SILVER STAR.
Estrella saß ab – griff in die Satteltasche und entnahm ihr zwei Magnesiumfackeln.
Sie wartete.
Das Schiff verschwand wieder – doch das sorgte die Corsarin nicht. Nach einer Stunde kehrte es zurück. Es hielt Kurs auf die Küste. Estrella harte noch eine Zeit aus, bis sie sicher sein konnte, dass das Schiff seinen Kurs beibehielt. Jetzt entzündete sie die beiden Magnesiumfackeln.
Sie signalisierte:

Es dauerte höchstens vier Minuten, da kam aus dem Mastkorb das Signal zurück:
< „Schicken Boot“ >
Sam Bush konnte seine Freude kaum im Zaum halten. Gegen alle offizielle Sitten seinem Captain gegenüber, riss er die Corsarin in seine Arme. Mit feuchten Augen grunzte er: „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!“
Estrella löste sich lächeln aus der Umklammerung des Freundes und meinte: „Schön zu wissen, dass sich wirklich jemand um einen sorgt. Danke Sam!“
Sogleich schaute sie sich suchend an Bord um.
Sam nickte. „Sie und Verdaux sind hier.“
Hörbar stieß Estrella die Luft aus. „Die Geister des Meeres seien gepriesen!“
Wenige Minuten später schloss sie ihre Schwester Helen in die Arme. Etwas abseits beobachtete Lucia die Szene. Die Corsarin schaute sie, schritt auf sie zu und bemerkte leise: „Eine Angst jagte die andere. Erst die um dich, dann die um Helen.“ Sie fiel Lucia um den Hals.
Doch nach den gefühlsüberschwänglichen Begrüßungen kam die Corsarin zum Ernst.
„Du willst dieses Weibsstück wirklich an Bord nehmen?“ Lucia machte zwei Schritte zurück. „Nur, wenn ich der Vaubernier den Arsch versohlen darf!“
Estrella lachte leise. „Die ist schon klein genug geworden. Vielleicht kann sie uns nützlich sein.“
Sie wandte sich an ihren Ersten. „Sam! Das Boot und vier Mann!“



Wir werden es in zwei Tagen zu den Balearen schaffen“, bemerkte Sam Bush. Er stand neben der Corsarin auf dem Kapitänsdeck am Heck.
„Das ist gut! Dort sind wir vor den Franzosen sicher. Ich weiß nicht, ob Louis uns nicht wegen der Befreiung der Vaubernier und Sarah doch eine Flotte hinterher jagt.“
Sam nickte langsam. „Das ist gut möglich. Er wird sauer sein. Andererseits erfährt er wohl auch nicht immer alle, was seine Admiräle aushecken.“
„Egal…auf Mallorca sind wir erst mal sicher. Ich führe keinen Krieg gegen die Spanier und der Alkalde von Palma ist mir noch einen Gefallen schuldig.“
Der Wind blies frisch aus Nordwest. Die SILVER STAR machte schnelle Fahrt. Die Vaubernier zeigte sich freundlich und zurückhaltend. Estrella hatte ihr ein Quartier unter der Kapitänskajüte eingerichtet. So bequem, wie es möglich war.
Sarah begegnete die Vaubernier schweigend und sehr distanziert.
Es war am Mittag, als Sarah zu Estrella auf’s Deck kam.
„Ich danke dir für meine Rettung“, flüsterte sie.
Estrella drückte die zierliche Frau an sich. „Schon in Ordnung. Ich konnte dich doch nicht in der Patsche sitzen lassen. Aber…“ sie zögerte kurz. „Du solltest den Hitzkopf Verdaux besser kontrollieren.“
Sarah nickte. „Er schießt oft über das Ziel hinaus, aber er ist ein zuverlässiger Partner. Er ist zurück nach Paris.“
Die Corsarin richtete den Blick in die Ferne. „Aus dieser Stadt solltest du dich etwas fern halten, meine Liebe.“
Sarah lachte hart auf. „Dort in der Nähe des Hofes erhalte ich meine wichtigsten Informationen.“
Estrellas Blick glitt zu der Sprecherin herüber. „Du willst also von Mallorca wirklich nach Frankreich zurück? Ich rate ab.“
„Die SCHWARZE MÖWE braucht meine Führung!“
„Wie du denkst!“ Die Corsarin verließ das Deck und lief auf ihre Schwester Helen zu. Die stand mit Lucia am Bug.
Die Gischt spritzte ihnen entgegen. Lucia lächelte gequält. „Wann kann ich endlich nach Hause, Estrella?!“
Die Angesprochene lächelte freundlich. „Erst müssen wir hier aus diesem Binnenmeer raus. Die Franzosen könnten uns aber bei Gibraltar abfangen. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen.“
Am späten Abend sichtete der Ausguck eine französische Fregatte. Estrella ließ den Kurs ändern. Sie wurden nicht gesehen.
Am späten Morgen des folgenden Tages liefen sie in den Hafen von Palma ein. Zwei Schiffe des Malteserordens und eine spanische Galeone lagen dort vor Anker.
„Die ISABELLA“, murmelte die Corsarin. „Capitano Servantes. Ein alter Freund.”
Ohne Zwischenfall machten sie fest.
„Ich werde zum Rathaus gehen. Mal sehen, ob ich von Fredo etwas erfahren kann.“
Helen runzelte die Stirn. „Der Alkalde? Sei vorsichtig.“
„Keine Sorge – die Franzosen wagen sich nicht hier her. Und die Engländer schon gar nicht.“
Fredo begrüßte Estrella freudig. E kredenzte Wein und man unterhielt sich über alte Zeiten. Endlich bemerkte er: „Über dich berichtete man ja inzwischen wahre Wunder.“
Die Corsarin winkte ab. „Glaube nicht alles, Fredo.“
Der Alkalde stand auf und ging zum Fenster. Von dort hatte er einen weiten Überblick über die Rambla.
„Du bist doch auch mit Capitano Servantes befreundet“, bemerkte er dann, sich langsam umwendend. „Er fährt nach Santa Juan. Er könnte dir mit der ISABELLA Geleitschutz geben. Die Franzosen werden keinen Spanier angreifen.“
„Nach Santa Juan?“ Die Corsarin runzelte die Stirn. „Die Strafkolonie vor Marokko?“
Der Alkalde nickte. „Er hat eine verurteilte Betrügerin an Bord. Sie ist für vier Jahre verbannt.“
Estrella blickte fragend. „Was hat sie ausgefressen?“
Fredo zuckte die Achseln. „Du weist doch, wie das bei Hofe so zugeht. Eine Intrige zur falschen Zeit…“ Er zuckte gleichgültig die Achseln.
Nach einer Stunde verabschiedete sich Estrella.
„Ich hoffe“, bemerkte Fredo leise, „wir sehen uns bald mal wieder.“
Die Corsarin lächelte. „Das hoffe ich auch, alter Freund. Vielleicht, wenn das unselige Ränkespiel der Mächte um die Neue Welt beigelegt ist.“
Der Alkalde seufzte. „
W a s geht dich das eigentlich an?“
Estrella blieb einen Moment unschlüssig stehen, ehe sie leise sagte: „Eine private Angelegenheit.“
In einer schmalen Nebengasse der Rambla befand sich eine Bodega. Estrella betrat den vom Pfeifen – und Zigarrenrauch geschwängerten Schankraum. Hier trafen sich Menschen aller Schattierungen.
In einer Ecke – an ein altes Weinfass gelehnt – entdeckte sie Capitano Servantes.
Die Augenbrauen des hochgewachsenen Spaniers ruckten nach oben, als er der Corsarin ansichtig wurde. Dann huschte ein erfreutes Lächeln über seine Züge.
„Estrella!“ Er kam mit ausgebreiteten Armen auf die Jugendfreundin zu.
„Miguel Servantes!“ rief die Corsarin. „Wie lange ist
d a s her?!“
Der Kapitän der ISABELLA betrachtet die junge Frau. „Du bist noch schöner geworden.“
Estrella lachte glockenhell auf. „Du dreimal verfluchter Schmeichler!“
„Ich meine es ernst!“ Er lief zum Tresen und kam mit einem gefüllten Rotweinbecher zurück. „Lass uns auf unser Wiedersehen trinken.“
Nach einen tiefen Schluck meinte der Kapitän: „Estrella – heirate mich!“
Nun prustete die Corsarin los. „Um als Hofkätzchen in Madrid mein Dasein an der Seite des hochdekorierten Capitano Servantes Tee zu schlürfen? Mit dummen Schmusekätzchen? Nein danke!“
Servantes seufzte. „Du bist und bleibst ein unerzogener Feuerkopf.“
Die Corsarin hob ein wenig die Hände. „Ich brauche nun mal die Planken meiner SILVER STAR.“
Sie sprachen über dieses und jenes – es wurde ein herzliches Gespräch. Dann bemerkte Estrella: „Ich war bei Fredo. Er informierte mich darüber, dass du nach Santa Juan unterwegs seiest. Mit einer…Gefangenen.“
„Hm“, der Kapitän wedelte ein wenig mit dem Becher. „Eine kleine Intrigantin. Hat versucht einer Mätresse unseres Königs ein Collier abzuluchsen. Dafür sollte sie ein paar Morgen Weinland bei Toledo erhalten.“
Estrella runzelte die Stirn. „Was ist da ran so schlimm, dass sie für vier Jahre deportiert wird?“
Servantes lachte leise. „Das Land gehört der Königin.“
„Oh“, machte die Corsarin. „Dann ist mir alles klar.“
„Tja – dumm gelaufen! Das königliche Gericht sah das als Verrat an und verurteilte die Dame zu vierzig Peitschenhieben und drei Jahren Kerker. Als Alternative vier Jahre Santa Juan.“
Estrella schüttelte den Kopf. „Da kann sie doch nur als Hure enden oder irgendwann in einem Harem landen.“
Servantes nickte. „So ist es! Aber bis dahin genießt sie noch meine Gastfreundschaft. Sie durfte – in Anbetracht ihrer gehobenen Stellung sogar ihre Zofe mitnehmen. Allerdings…“
Die Corsarin schaute abwartend.
„Nun – diese Zofe wird wohl innerhalb von zwei oder drei Tagen auf dem Sklavenmarkt einer marokkanischen Stadt landen.“
Estrella nahm einen Schluck Wein. „
Wer ist die hochstehende Dame denn?“ fragte sie danach.
„Mercedes Rodriguez de Sevilla.“
„Mercedes…“ hauchte Estrella und wurde leicht blass.
Servantes runzelte erneut die Stirn. „Du kennst sie?“
Die Corsarin benötigte einen Moment der Fassung. Dann nickte sie stumm.
Der Kapitän ergriff ihre Hand. „Es geht dir nahe?“
Estrella straffte sich. Sie blickte Servantes fest an. „Sie war meine allerbeste Freundin. Sie
d a r f nicht nach Santa Juan. Dort geht sie zugrunde!“
Der Kapitän hob die Arme. „Sie hätte vorher daran denken sollen. Man legt sich nicht mit der Königin an.“
Die Corsarin stampfte mit dem Stiefel auf. „Egal! Lass sie auf mein Schiff bringen!“
Der Kapitän schaute die Freundin empört an. „Es handelt sich um eine rechtskräftig Verurteilte! Bist du verrückt? Das kostet mich mein Patent. Vergiss es!“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Kommt nicht in Frage!“
„Muss ich sie holen?“ zischte die junge Frau und ihre Augen versprühten Blitze.
Servantes richtete sich kerzengerade auf. „Senorita Avilla de Aragon – ich müsste das als Kriegserklärung auffassen und sie in Ketten legen lassen.“
Die Blicke der beiden ungleichen Menschen schienen sich ineinander zu bohren.
Die Corsarin wusste, das Servantes nicht anders handeln durfte und konnte.
Sie entspannte sich etwas und meinte dann: „Gut…verzeih. Mercedes ist…“
Die Miene des Kapitäns milderte sich. Er legte den Arm um diese bemerkenswerte Frau. „Ich verstehe das. Aber ich kann nichts tun.“
Estrella schluckte. Doch dann fiel ihr etwas ein.
„Miguel – es gibt einen Passus im Gesetz. Eine Person vom gleichen oder höheren Stand kann die Vormundschaft für den Zeitraum der Strafe übernehmen. Die Verurteilte kann dann dieser Person überstellt werden.“
Servantes wiegte den Kopf. „Das geht aber nur über langwierige Gerichtsanträge und bis das in Madrid durch ist…“
„Der Alkalde hat hier die oberste Gerichtsbarkeit als Vertreter des Königs“, bemerkte die Corsarin. „Ich stamme aus einer alten Adelsfamilie – wie Mercedes.“
Der Kapitän stutzte und dachte einen Moment nach.
„Hm“, kam es von ihm leise. „Du bist eine…Corsarin. Du stellst dich außerhalb des Gesetzes.“
Estrella schüttelte den Kopf. „Nein – nicht zu Spanien.“
Man sah, wie es in dem Kapitän arbeitete. Nach scheinbar endloser Zeit sagte er: „Gut, Estrella. Suchen wir Fredo auf.“
Der Alkalde zeigte sich erstaunt, die Corsarin schon wieder zu sehen. Als Servantes den Wunsch aus dem Munde des Kapitäns vernahm, schaute er noch erstaunter. Er fuhr sich durch das schüttere dunkle Haar.
„Deo! Estrella! Das geht nicht so einfach. Sie ist vom höchsten Gericht verurteilt. Sogar zur Peitsche. Das wurde nur abgewandelt.“
„Ja!“ rief Estrella höhnisch. „Santa Juan ist so gut wie ein Todesurteil!“
Der Alkalde wehrte ab. „Ganz so schlimm ist es auch nicht. Sie wird leben und…“
„Und jedem Stammesfürsten des Landstriches zu Willen sein müssen oder barbarische Foltern erleiden. Spanien zieht sich aus der Verantwortung. Santa Juan ist eine Strafkolonie, die sich selbst verwaltet. Was
d a s für eine Frau bedeutet, dürfte auch dir klar sein!“
Fredo blickte die Sprecherin ernst an. Dann nickte er. „Warte draußen. Ich muss mit Capitano Servantes unter vier Augen reden.“
Die Besprechung dauerte beinahe eine volle Stunde. Danach rief der Alkalde die Corsarin wieder herein.
„Weil ich dich gut kenne und der Kapitän für dich gesprochen hat, Estrella, erwäge ich die Zustimmung für deinen Plan. Aber es sind Auflagen zu erfüllen. Die Einhaltung dieser Auflagen hast du zu beschwören. Ich registriere das dann mit meinem Amtssiegel.“
„Was sind das für Auflagen?“ wollte die Corsarin wissen.
„Später“, entgegnete Fredo. „Zuerst muss deine Freundin deinem Vorhaben zustimmen.“
„Ich suche sie sofort auf!“
Servantes hielt Estrellas Arm fest. „Das geht nicht. Morgen! Ich muss erst noch das Urteil genauer lesen.“
Die Corsarin stieß die Luft aus. „Dann Morgenfrüh!“
Sie verließ das Amtsgebäude und kehrte zur SILVER STAR zurück. Dort berichtete sie ihren beiden Schwestern von der Sachlage.
„Mercedes…“ kam es sinnend von Lucia. „Wie ich mich erinnere, ist sie immer schon ein Hitzkopf gewesen. Aber dass sie versucht haben soll…“ Sie schüttelte den Kopf. „Jedoch wollte sie immer schon bei Hofe Karriere machen.“
Estrella lehnte an der Backbordreling und starrte in das aufgekräuselte Wasser. „Vielleicht ist es nur ein Ränkespiel gewesen. Jedenfalls lasse ich es nicht zu, dass sie in die Strafkolonie deportiert wird.“
Helen legte ihr den Arm um die Schultern. „Schon in Ordnung. Was meinte der Alkalde mit Auflagen?“
Die Corsarin zuckte die Achseln. „Wir werden es morgen erfahren.“
Gegen den späten Nachmittag verdunkelte sich die Sonne und ein scharfer Wind blies von West. Estrella ließ die Trossen verdoppeln. Dann gab sie dem Segelmacher den Auftrag, alle Leinwände zu kontrollieren und eventuelle Schäden auszubessern. „Es ist möglich, dass wir jeden Fetzen während der nächsten Tage benötigen.“
Es muss wohl gegen 1o Uhr am Abend gewesen sein – genau geht es aus den Chroniken nicht hervor – da vernahmen Estrella und Helen Lärm. Sie hielten sich in der Kajüte auf. Lucia hatte eben die Unterkunft verlassen und sich in die Stadt begeben.
„Was ist denn da los?“ Helen, die gerade die Seekarten studierte, blickte irritiert auf.
Ihre Schwester, die auf dem Diwan saß – schlug mit der flachen hand auf die Matratze und sprang hoch. Barfuß rannte sie zur Tür.
Auf Deck sah sie zuerst nur einen kreis von Seeleuten am Hauptmast. Dann Gekreische und danach eine dumpfen Schlag.
„Na warte, du Hure!“ keifte jemand. Estrella ordnete die Stimme Sarah zu.
„Keilerei?“ Helen war hinter die Schwester getreten.
„Scheint so.“ Die Corsarin bahnte sich energisch einen Weg durch die Ansammlung.
Auf den Decksplanken wälzten sich, schimpfend und in einander verkeilt die Vaubernier und Sarah Corell.
„Du verfluchte Spionin!“ keuchte die Vaubernier. „Du willst den König stürzen!“
„Na und? Du willst doch nur seine Hure sein!“ geiferte Sarah zurück. „Hat er einen langen Schwanz?“
„Du…“
A u s e i n a n d e r !“ donnerte die Corsarin dazwischen. Dabei riss sie die Vaubernier and en Haaren von Sarah weg.
Diese schlug wild um sich.
Estrella schickte sie mit einem trockenen Haken auf die „Bretter“. Dann baute sie sich vor Sarah auf, die sich mit völlig zerzaustem Haar und eingerissenem Wams hochrappelte.
„Wenn ihr Abkühlung benötigt…die kann ich euch besorgen.“
Sarah kam langsam in die Senkrechte und fuhr sich durch das Gesicht. Das Blut eines Kratzers gab ihr ein groteskes Aussehen. „Diese Königsnutte hat mich angegriffen…“
Die Augen der Corsarin begannen zu glitzern. „Das ist mir völlig egal!“ zischte sie. „Auf meinem Schiff dulde ich keine Schlägereien! Mr. Busch – lassen sie die Damen an Bugsteven binden, dass ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Nach acht Stunden fragt ihr sie, ob sie sich friedlich verhalten wollen.“
Damit stapfte sie in ihre Kajüte zurück.

Dann überrede sie“, meinte Capitano Servantes leise.
Er hatte die Tür zur Unterkunft seiner Gefangenen geöffnet.
Die Corsarin sah sich um. Servantes hatte es Mercedes so angenehm wie möglich gemacht. Die kleine Zofe sprang auf und blickte der Corsarin unsicher entgegen.

„Bleib ruhig“, sagte Estrella leise. „Dir tut keiner etwas.“
Dann schaute sie zu Mercedes, die völlig erstaunt den Blick auf die Eintretende gerichtet hatte.
„Estrella? Bist du das?“ kam es etwas heiser.
„Hallo Mercedes – ja ich bin es.“
Dann fielen sich die alten Freundinnen in die Arme. Mercedes weinte wie ein Schlosshund.
Endlich löste sich die Corsarin von ihr.
„Kannst du mir deinen Aufenthalt hier an Bord näher erklären?“ fragte sie.
Die Gefragte schluckte mehrmals, ehe sie antwortete.
„Die Königin hat mich deportieren lassen.“
„Ja – das weiß ich inzwischen“, kam es ungeduldig. „Aber ich will den wahren Grund wissen!“
„Jemand stellte mir in Aussicht, mit dem König in engeren Kontakt zu kommen“, antwortete Mercedes leise. „Gegen eine gewisse Gegenleistung.“
Estrella stemmte die Arme in die Seiten. „Aha! Und du bist voll in die Falle getappt!“
Die Freundin aus alten Tagen nickte und blickte betreten zu Boden.
„Du Schaf! Wolltest wieder mal hoch hinaus.“
Mercedes setzte zum sprechen an, doch Estrella hob herrschend die rechte Hand. „Halt die Klappe! Jetzt sitzt du in der Scheiße! Mierda! Wie kann man nur so…“
Sie holte tief Luft. „Wie dem auch sei – ich will dich hier herausholen.“
Die junge Frau starrte Estrella mit runden Augen an. Dann sank sie auf die Knie und stammelte: „Oh Gott…du willst…“
Die Corsarin machte einen Schritt zurück. „Steh auf! Du wirst noch knien müssen.“ Sie wandte sich um und sagte zu Servantes. „Lasst sie auf mein Schiff bringen. Dort bereden wir alles.“
Der Kapitän nickte. „Der Alkalde muss dabei sein.“
Die Corsarin nickte nur und verließ das Unterdeck.
Auf der SILVER STAR nahmen Lucia und Helen die Gefangene in Empfang. Auch die Zofe kam mit.
„Die Kleine kann nichts dafür“, flüsterte Estrella zu dem Kapitän.
„Das ist richtig. Aber ich kann nicht von den Auflagen runter.“
„Natürlich kannst du“, kam es ganz leise – nur für den Kapitän hörbar. „Was ich später auf See machte kann doch so wie so keiner kontrollieren.“
Servantes blieb stocksteif stehen. „Ich stehe mit meiner Ehre dafür ein, dass du dich an die Regeln hältst!“
Die Corsarin blickte ihn ernst an. „Ich halte mich an meine Regeln. Die besagen: was unmenschlich ist, findet nicht statt. Also bist du auch nur verantwortlich für dass, wessen du beigewohnt hast.“
Sie winkte die Zofe zu sich.
„Leg dich dort über das Fass. Mit nacktem Hintern nach oben.“
Die zierliche Frau wurde bleich. „Ihr wollt mich schlagen? Weshalb?“
„Red’ nicht – tue es! Oder ist die Santa Juan lieber?!“
Zögernd wandte sich die so angeherrschte dem alten Wasserfass zu, das neben dem Vormast lag, schürzte ihren Roch und zog das Unterzeug bis zu den Knien herab.
Nun wandte sich Estrella an Helen. „Zähle ihr zehn auf. Auf sei sanft.“
Die Schwester grinste. „Das zarte Brötchen wird sich nicht mal röten.“
Servantes verdrehte die Augen und wandte sich ab. Fünf Minuten später brachte Helen die Zofe in die Kajüte.
Der Alkalde von Palma betrat das Schiff.
Er schaute von Estrella zu Mercedes und dann zurück zu Estrella.
„Werdet ihr euch an die Verordnung halten – Estrella Avilla de Aragon, wenn ich diese Gefangene an euch überstelle?“
Ich werde die Verordnung in eurer Gegenwart akzeptieren, wenn sie nicht ins Unmenschliche abdriftet.“
Dann trat sie nahe an Fredo heran und flüsterte ihm zu: „Du bist mir aus Toledo noch was schuldig. Also überlege,
w a s unbedingt in deiner Gegenwart geschehen muss.“
Der Alkalde räusperte sich kurz und zischte zurück: „Du bist schlimmer, als jede Intrigantin!“
Die Corsarin grinste nur.
Der Alkalde straffte sich – setzte seine amtliche Miene auf und verlas eine Order.
Die Gefangene Mercedes Rodriguez de Sevilla – zur Deportation in die Strafkolonie Santa Juan bestimmt – wird Estrella Avilla de Aragon überstellt unter folgenden Auflagen. Die Gefangene hat barfuß vor ihrer neuen Herrin zu knien und ihr die Füße zu küssen. Sie hat diese zu bitten, sie drei Jahre als Sklavin anzunehmen. Die Gefangene schwört, ohne Murren ihrer Herrin zu dienen. Sie erhält als Einstand zwanzig Stockhiebe auf das nackte Gesäß und hat dann ein halbes Jahr in totaler Nacktheit zu verbringen. Während ihrer Sklavenzeit ist es ihr verboten, anders als auf bloßen Füßen zu laufen, um ihre Demut zu zeigen.“
Mercedes war noch eine Spur blasser geworden, als sie schon war.
Doch ehe Estrella etwas sagen konnte, zog sie ihre Schuhe aus und streifte die Seidenstrümpfe von den Füßen und sank auf die Knie. Dann küsste sie der Corsarin die Spitzen ihrer Stiefel.
Estrella atmete tief durch und zog die Freundin aus der Demutshaltung hoch.
„Mr. Bush! Wir haben einen Zeitplan zu erfüllen. Schiff klar zum auslaufen.“
Der Alkalde und Servantes öffneten gleichzeitig den Mund, um etwas zu sagen – da erklärte Estrella: „Meine Herren – alles andere auf See. Ich muss sie bitten die SILVER STAR jetzt zu verlassen. Nehmen sie zu Protokoll, dass sie davon überzeugt sind, dass Estrella Avilla de Aragon ihr Wort hält.“
Ehe sich die beiden Männer versahen, hatte der erste Offizier die freundlich von Bord bugsiert.
„Trossen lösen! Viertel Leinwand!“ kommandierte Sam Bush.
Eine Stunde später befand sich die SILVER STAR auf der offenen See.
Mercedes stand etwas abseits an der Rehling und schaute dem Treiben der Besatzung zu.
Nun hatte Estrella Zeit, sich um die Freundin zu kümmern. Sie ging auf sie zu und nahm sie in den Arm.
„Denke nicht, dass mir das eben angenehm gewesen ist.“
Mercedes lächelte etwas verunglückt. „Estrella…ich küsse dir jeder Zeit die Füße. Das macht mir nichts aus und ich bin dir unendlich dankbar…“
Rasch legte die Corsarin ihr den Finger auf die Lippen. „Alles bueno! Jetzt komm mit in die Kajüte.“
Mercedes folgte der Freundin. Leise fragte sie dabei: „Wirst du mich auspeitschen?“
Die Corsarin blieb abrupt stehen und blickte Mercedes fest an. „Nein! Aber komm jetzt weiter!“
Sie betraten die Kajüte. In einer Ecke stand die Zofe – Hannah – und schluchzte leise vor sich hin. Lucia sprach beruhigend auf sie ein. Estrella runzelte die Stirn und erkundigte sich: „Was ist los?“
Lucia kam auf sie zu. „Sie schämt sich wegen…“
Die Corsarin hob theatralisch die Arme. „Meine Güte! Weil für knapp fünf Minuten anderen ihren nackten Hintern gesehen haben?! Besser den Arsch zeigen als vier Jahre nackt in irgendeinem Harem der Schwanzlutscher!“
Die Gouverneurin von San Luca umfasste die Schultern ihrer Schwester. „Nicht jeder ist so robust wie du. Ich habe mich entschlossen, Hannah in meine Dienste zu nehmen. Sie kommt mit nach San Luca…falls ich jemals wieder dort hin komme.“
Estrella seufzte. „Es kann sich noch etwas verzögern. Ich vermute, die Franzosen werden uns irgendwie auflauern. Spätestens bei Gibraltar.“
Dann wandte sie sich an Mercedes. „Zieh dich aus!“
Die Angesprochene machte runde Augen.
Estrella wurde ungeduldig. „Mach schon!“
Dann ging sie zu einer großen Holzkiste und wühlte darin. Inzwischen zog sich Mercedes zögerlich aus. Dann stand sie total nackt in der Kajüte.
„Du warst vor mir nackt – das sollte für Servantes, Fredo und den spanischen König reichen.“ Sie warf ihr ein braunes, robustes Leinenkleid zu.
„Zieh das an. Es ist hier an Bord zweckmäßiger als die desolate Hofbekleidung.“
Rasch streifte Mercedes das Kleid über. „Und nun?“ fragte sie leise.
Die Corsarin lachte und nahm Mercedes in den Arm. „Ich bin eine sehr freizügige Herrin.“ Sie drehte sich zu Helen um. „Nimm dich ihrer an!“
Helen lächelte. „Dann komm!“
Sie gingen an Deck.
Estrella widmete sich den Seekarten. „Ich denke, wir werden…“
Der Ruf von draußen unterbrach sie.
„Schiff voraus!“
Estrella und Lucia rannten nach draußen. Sam hatte bereits das Fernrohr gezückt. „Franzose. Schoner – kleine Klitsche aber könnte ein als Händler getarntes Spionageschiff sein.“
„Lass mal sehen!“ Die Corsarin nahm ihrem Ersten das Glas aus der Hand.
„Hm – jedenfalls französische Königsflagge. Ich erkenne zwei merkwürdige Aufbauten unter einer Plane. Schätze – sie haben Kanonen verborgen.“
Sam Bush nickte bestätigend. „Das denke ich auch. Er nimmt Kurs auf uns.“
Die Corsarin schaute zum Hauptmast. „Setzt die spanische Flagge und dann warten wir ab. Vorsichtshalber soll Diego die Kanonen bereitmachen.“
„Ay, ay – Lady Captain!“
Der Schoner drehte etwas bei und hielt Abstand.
„Er ist verunsichert“, vermutete Sam.
Estrella winkte ihre Schwester Helen heran. „Commodore – Schiff beobachten!“
Zwei Stunden später blieb der Schoner zurück und eine weitere halbe Stunde danach verschwand er hinter dem Horizont.
„Er hat das Interesse an uns verloren“, stellte Helen befriedigt fest. „Welchen Kurs jetzt?“
Die Corsarin blickte auf die Karte. „ Nordost!“
Helen blickte auf das Kreuz, das ihre Schwester auf die Karte zeichnete.
„36° 25' nördlicher Länge und 25° 26' östlicher Breite…
KallistÄ“.“*)
„Richtig!“ Die Corsarin nickte.
„Was willst du dort?“
„Bei den Griechen sind wir einigermaßen sicher. In das Gebiet der Insel trauen sich die Franzosen nicht.“
Die Nacht brach herein – das Mare Mediterrane’
*) lag ruhig wie ein Spiegel.
Helen stand mit Sam Busch am Bug der SILVER STAR
„Weshalb will Estrella nach Kalliste’?“ murmelte Helen. „Nur um den Franzosen auszuweichen?“
Der erste Offizier nagte an seiner Pfeife. „Dort wären wir erst mal in Sicherheit. Sie kennt den Hafenmeister von Tera gut. Denke – sie will dort überlegen, wie wir uns am besten wieder in den Atlantik manövrieren. Außerdem…“
„Außerdem?“ Helen schaute fragend.
Sam zuckte leicht die Achseln. „Ich habe gehört, dass der Lady-Captain die Vaubernier auf Malta an Land setzen will.“
Helen runzelte die Stirn, ehe sie anmerkte: „Ah ja…der Malteserorden pflegt ja gute Beziehungen zu Frankreich. Die werden sie sicherlich auf einem ihrer Schiffe mitnehmen.“
Ein Matrose kam auf den ersten Offizier zu. „Senor Chef – hinten ist eine der Laternen ausgefallen. Ich bekomme das allein nicht hin.“
Sam Bush hob die Augebbrauen. „Weshalb nimmst du nicht Perez mit?“
„Er hat gesagt, ich muss sie fragen.“
Der Erste verdrehte die Augen. „Himmel und Donner! Bin ich eure Mutter?“
Er stampfte mit dem jungen Mann – der sich erst recht kurz auf der SILVER STAR befand – ab nach hinten. „Perez!“ schrie Sam dabei und winkte einem langen dürren Seemann zu.
Helen lehnte sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in die Spitze der Bugreling und blickte den Männern nach.
Als sie den Stich im Rücken wahrnahm, zeigte es sich zu spät.
Lautlos – mit weit geöffneten Augen und Mund sackte die Frau zusammen.





Es muss wohl gegen die erste Morgenstunde gewesen sein, als der Schiffsjunge Henry aufgeregt die Kapitänskajüte stürmte.
Estrella, Lucia und Sam Bush schauten aufgeschreckt von den Karten auf.
„Henry! Was ist passiert?“ kam es überrascht von Sam – der sehr wohl wusste, dass der Junge niemals ohne zu klopfen in den Captains Room stürmen würde.
Der Mund Henrys öffnete und schloss sich – es kam aber kein Wort heraus.
Lucia stand vom Tisch auf und umfasste den Jungen sanft bei der Schulter.
„Henry -
w a s ist los? Sind Feinde in der Nähe?”
Der Junge schüttelte heftig den Kopf. Endlich würgte er hervor: „Ich habe Wache mit Pete. Er kontrolliert gerade den Laderaum und…“
„Und?“ Lucia wurde energischer.
„Der Commodore…liegt am Bug…“
Weiter kam er nicht. Estrella sprang so rasch hoch, dass ihr Stuhl umpolterte. Sie riss die Kajütentür auf und raste über das Deck – gefolgt von Lucia und Sam.
Als sie am Fockmast ankamen, wurden alle drei noch blasser, als sie es bereits waren.
„Helen…mein Gott…Licht.“ Dann schrie Sam es. „Licht! Verdammt noch mal! Bringt mir eine Laterne!“
Zwei Seeleute, die neben einer Taurolle schliefen, zuckten hoch. Plötzlich entwickelte sich Leben an Bord.
Estrella kniete neben der Schwester. „Helen!“ rief sie. „Helen, wach auf!“
Jemand kam mit einer starken Laterne. Nun sahen alle die große Blutlache unter dem Körper Helen de Veres.
„Mierda!“ stieß die Corsarin hervor. Sie sprang auf. „Zwei Mann in den Hauptmast! Feind in der Nähe!“
Auch Sam war wieder hochgesprungen und ließ den Blick über das vom Mond matt beleuchtetet ruhige Meer gleiten. Doch nicht der Haus eines anderen Schiffes zeigte sich.
Unterdessen versuchte Lucia die pulsierende Wunde unterhalb des letzten Halswirbels mit der flachen Hand zu zudrücken.
„Wir brauchen einen Arzt“, flüsterte Lucia. „Sonst verblutet sie…wenn es nicht überhaupt zu spät ist…“
„N e i n !!“ schrie Estrella. Sie warf sich neben Helen auf die Knie und küsste deren Stirn und Mund. „Nein! Du gehst nicht von mir. Nicht so!“
„Mehr Licht!“ schrie Sam Bush. „Holt den Segelmacher! Sofort!“
Es dauerte nur wenige Zeit, da erhellten mindesten acht Lampen die Szene. Der Segelmacher kniete neben Sam. Das Blut aus der Wunde quoll zwischen Lucias Fingern hindurch.
„Legt sie auf den Bauch. Schnell!“ kommandierte Frederik Olson, der norwegische Segelmacher. Während er das sagte, angelte er in seinen Hosentaschen herum und hielt bald eine gekrümmte Nadel und einen starken Zwirn in den Händen.
Lucia und Sam drehten die Verletzte und bewusstlose Helen um.
„Licht hier her!“ kommandierte Olson und zog den Faden durch die Öse der Nadel. „Sam – zieh die Wundränder auseinander. Eine Kelle Wasser! Schnell!“
Sam tat, wie ihm geheißen. Ein anderer Seemann schüttete das Wasser über die Wunde. Das Blut spülte für einen Moment fort. Olson nahm Maß. Er hatte den Riss in der Ader gesehen.
Nach fünf weiteren Minuten richtete sich der Segelmacher mit blutigen Händen auf, ließ die Nadel fallen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Das Blut von den Fingern vermischte sich mit der Nässe und gab dem Mann das Aussehen eines Ungeheuers.
„Betet zu allen euren Göttern“, knurrte er. „Mehr kann ich nicht tun.“
Die schwer verletzte Frau wurde in die Kapitänskajüte gebracht.
Olson hielt Sam am Oberarm fest.
„Es war ein heimtückischer Messerstich und der Täter befindet sich an Bord.“
Der erste Offizier schluckte schwer ob der gezischten Worte. Dann stakste er zur Kajüte. Unterwegs trat er einem auf einer Taurolle sitzenden Mann in die Seite und knurrte: „Wisch das Blut von den Planken!“
In der Kajüte lag Helen – kalkweiß wie eine Wasserleiche auf dem Diwan. Dass sie atmete, konnte man nur mühsam erahnen.
Die Corsarin blickte Sam verzweifelt entgegen.
„Estrella…wir brauchen dringend einen richtigen Arzt. Olson hat Helen vermutlich das Leben gerettet – vorerst…aber ob sie es schafft…“
Er ließ den Satz offen.
Stelzig, wie eine Hundertjährige, bewegte sich die Corsarin zum Kartentisch.
„Wir brauchen volle zwei tage bis Kalliste’…“ krächzte sie.
Sam schüttelte den Kopf und blickte auf Helen. „Das schafft sie nicht.“
„Vielleicht treffen wir auf ein Schiff, das einen Arzt an Bord hat?“ kam es von Lucia
Sam schnaubte durch die Nase. „Wenn es ein Franzose ist, können wir das Mädel besser sofort umbringen. Nur Kriegsschiffe haben einen Wundarzt dabei.“
Lucia richtete sich von ihrer sitzenden Haltung neben Helen auf. „Korsika – das wäre ein Chance.“
Nun war es Estrella die scharf die Luft ausstieß. „Bist du verrückt? Seit dem Tode des korsischen Königs buhlt sowohl Genua, wie auch Frankreich um die Insel. Es wimmelt dort von Kriegsschiffen!“
Lucia sprang auf. „Wenn wir noch lange diskutieren, ist unsere Schwester tot. Außerdem haben wir einen Attentäter auf dem Schiff!“
Estrella schloss die Augen für einen Moment.
„Gut“, kam es dann leise. „Kurs auf Korsika, Mr. Bush!“
„Was ist mit dem Täter?“ wollte Sam im Hinausgehen wissen.
„Später!“ rief die Corsarin.



Unter vollen Segeln strebte die SILVER STAR Korsika zu.
Estrella lief unrastig zwischen Bug und Heck hin und her. Lucia wachte an Helens Lager. Die Schwester wurde zusehends schwächer. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Lucia wischte ihn sanft mit einem feuchten Tuch ab.
Sam Busch hielt die Corsarin am Arm fest, als sie wieder einmal langen Schrittes den Hauptmast passierte.
Unwirsch schaute sie ihren Ersten an.
„Estrella“, flüsterte der Alte. „Bleibe ruhig! So hilfst du Helen nicht. Du benötigst einen kühlen Kopf!“
Die Corsarin hob die Augenbrauen und fauchte den Mann an: „Mein Kopf ist stets kühl, Mr. Bush!“
Sie riss sich los und rannte die acht Stufen zum Kapitänsdeck am Heck hinauf.

Der Morgen graute heran, als sich in der Ferne die Insel abzeichnete.
„Wir laufen Propriano an, Mr. Bush!“ rief die Corsarin.
Der erste Offizier der SILVER STAR schaute verblüfft auf die Empore. Wie ein Schattenriss zeichnete sich Estrella dort ab. Der aufgefrischte Wind ließ ihr Haar wild wehen.
„Dieses…Nest? Dort stehen nur ein paar Fischerhütten!“
„Eben! Deshalb wird uns dort niemand Schwierigkeiten machen.“
„Himmel! Der Hafen hat kaum Tiefgang…soweit man überhaupt von einem Hafen reden kann.“
„Das geht schon. Tun sie’s einfach –
M i s t e r Busch!“
Die Stimme klang so eisig, dass dem Alten ein Schauer über den Rücken lief. Er wusste, dass – falls Helen sterben würde – Estrella wie ein Monster über Meere geistern würde und der Herr im Himmel mochte wissen, zu welchen Gräueltaten sie sich dann bereit finden würde.
Die ersten Strahlen der Sonne fanden ihren Weg schüchtern über die Meeresoberfläche, als die SILVER STAR unter ‚Viertelleinwand’ in die winzige Bucht einlief. Zwischen den vier Fischerbooten wirkte die Dreimastbark wie ein Koloss.
Einige verhärmte Menschen liefen am Ufer zusammen.
„Segel ein und Anker!“ kommandierte Estrella.
Anschließen rannte sie die hölzernen Stufen hinunter zur Kajüte. Dort fand sie Lucia völlig erschöpft vor.
Die Corsarin blieb mitten in dem Raum stehen und blickte auf Helen, deren Haut sich kaum noch farblich von dem hellen Laken des Diwans abhob.
„Sie wird es nicht schaffen“, flüsterte Lucia und Tränen rannen wie Bäche aus ihren Augen. „Oh Herr der Welt…wer hat das nur getan? Welches Monster befindet sich hier an Bord?“
Estrellas Verdacht drängte zur Vaubernier. Aber sie schwieg noch.
„Ich gehe von Bord“, sagte sie leise. „Sorge dafür, dass niemand das Schiff verlässt.
N i e m a n d !!“
Damit verschwand sie.
An Deck sagte sie zu Sam Bush: „Wer versucht das Schiff zu verlassen, wird an der obersten Rahe aufgehängt. Verstanden?“
Sie rannte über die schmale Planke ans Ufer. Den zuerst stehenden Mann hielt sie am Arm fest und fragte beherrscht: „Wo ist Perfides?“
„In den Bergen“, kam die Antwort. „Er hat sich wieder mal zurückgezogen.“
„Weißt du wo genau?“
Der Mann sagte es ihr.
„Bring mich hin!“
Als der Angesprochene zögerte, knurrte die Corsarin: „Wenn du mich hinbringst, erhältst du zweihundert Golddukaten. Wenn nicht, mache ich euer Dorf dem Erdboden gleich und spieße die Bewohner auf Pfähle.“
Der Mann erbleichte und begann zu zittern. Rasch stammelte er dann: „Kommt mit – aber es ist ein beschwerlicher Weg.“
Auf zwei Eseln ging es los. Quer durch eine Geröllwüste – die aufsteigende Sonne brannte rasch unerträglich – dann durch Pinien…immer höher hinauf.
Wie der Dom der Götter ragte aus dem Dunst der Monte Clinto auf. Über zweitausend Meter.
„Perfides redet seit vier Tagen wieder mit den Göttern“, murmelte ihr Führer.
„Das wird er unterbrechen müssen“, kam es zurück.
Am Fuße des Berges lag eine Lichtung. Darauf stand ein großer steinerner Altar. Davor stand ein alter, großer Mann in einer weißen Kutte. Schlohweißes Haar fiel bis zum Gürtel des Kleidungsstückes. Der Mann hatte die Arme zum Himmel erhoben und verharrte so.
Estrella sprang von Pferd. Da rief ihr Führer: „Halt! Das ist heiliger Boden. Ihr dürft ihn nicht so einfach betreten.“
Die Corsarin verzögerte ihren Schritt – dann bückte sie sich und entledigte sich ihrer Stiefel. Barfuß rannte sie auf Perfides zu.
Als sie ihn erreichte, wandte sich der Mann langsam um. Blinde Augen waren auf Estrella gerichtet. Trotzdem schien der Mann zu wissen, wer ihn aufsuchte.
„Du bist es nach langen Jahren“, murmelte er. „Dir ist ein Unglück widerfahren.“
Estrella fuhr sich nervös durch das wirre schwarze Haar.
„Nicht mir, oh ehrwürdiger Perfides. Meiner Schwester Helen. Sie steht an der Schwelle des Todes.“
Der alte Mann verhielt sich, als würde es ihn nicht überraschen. „Ist Philipp bei dir?“
Die Corsarin nickte – sagte dann aber rasch: „Ja.“
„Gib mir deine Hand, Estrella Avilla de Aragon.“
Mit klopfendem Herzen streckte sie ihre Rechte aus. Der Blinde griff zielsicher danach. Einen Moment lang hielt er Estrellas Hand in der Seinen. Dann bemerkte er: „So wollen wir uns eilen.“
Es brauchte über eine Stunde, dann betrat Perfides die Kajüte, in der die mit dem Tode ringende Helen lag.
„Wer ist das?“ fragte Sam Bush leise den neben ihm stehenden Diego.
„Perfides – ein Heiler. Er ist Blind, aber ein Seher. Ein Mann, der direkten Kontakt zu den Göttern besitzt.“
„Hm“, grunzte der Erste. „Hoffen wir, dass seine Connection wirklich gut ist.“
Unterdessen stand Perfides vor dem Lager Helens. Er stand völlig reglos. Dann sagte er: „Der Todesengel ist hier. Ich spüre ihn. Aber er ist unschlüssig.“
Damit schritt er ohne Hilfe näher an den Diwan heran. Zielsicher legte er Helen seine beiden Hände auf die Brust.
Lucia und Estrella schauten atemlos zu.
Lucias Blick glitt immer wieder von Perfides zu Helen und dann zu Estrella.
„Verlasst den Raum“, befahl der Heiler plötzlich. „Geht und schließt die Tür. Ich habe mit dem Engel zu reden.“
Die Worte ließen keine Diskussion zu. Die Corsarin und Lucia betraten das Mitteldeck. Sam Busch schaute sie mit gerunzelter Stirn unter seien dichten rötlichen Brauen an. Langsam kam er auf die beiden Frauen zu und fragte Estrella: „Du denkst doch nicht, dass so ein Wunderdruide Helen helfen kann?“
Es klang vorwurfsvoll und Unverständnis vibrierte in der Stimme.
„Wenn es einer kann – dann er!“ kam es mit fester Stimme, wenn auch gedämpft.
Busch strich sich den Bart. „Woher kennst du den Mann?“
Die Corsarin machte eine abwehrende Armbewegung. „Das ist jetzt gleichgültig. Aber es ist Helens einzige Chance hier auf der Insel.“
Der Erste wollte aufbegehren. „Deine Schwester brauchte einen richtigen Arzt.“
Estrella schaute spöttisch. „Von einem Kriegsschiff?“
„Aber dieser Bursche…“
Die Augen der Corsarin nahmen eine stahlgraue Farbe an. „Dieser Mann kann Wunder vollbringen.“
Sam unterdrückte einen Husten. „So…Wunder…na denn…“
Er wandte sich um und marschierte kopfschüttelnd zum Fockmast.
Estrella knetete nervös ihre Finger, dass die Gelenke krachten. Lucia sah sie verzweifelt an. „Estrella! Helen braucht einen richtigen Arzt. Nicht so einen Quacksalber!“
„Es gibt hier keinen anderen Arzt“, stieß die Corsarin rau hervor.“
Lucia rang die Hände. „Dann fahren wir zu einem großen Hafen!“
Estrella spuckte aus. „Um mich in wenigen Tagen auf eine Galeere ketten zu lassen?“
Ihre Schwester barg das Gesicht in den Händen. „Helen wird sterben“, schluchzte sie. Ihr Körper schüttelte sich.
Da kam Perfides aus der Kajüte. Langsam schritt er auf die Corsarin zu. Er drückte ihr ein kleines Fläschchen in die Hand.
„Gib ihr jede Stunde vier Tropfen davon. Der Engel ist gegangen.“
Mit diesen Worten verließ er das Schiff.
Lucia stampfte mit dem Fuß auf. „Verdammt! Was soll der Humbug?!“
Estrella sagte nichts, sondern rannte auf die Kajütentür zu. Im Halbdunkel des Raumes konnte sie die Schwester kaum ausmachen. Unschlüssig blieb sie stehen. Dann glaubte sie, ihr Herz müsse zerspringen. Täuschte sie sich oder…
Nein!
Regelmäßige tiefe Atemzüge erfüllten den Raum.
Rasch lief die Corsarin zum Kartentisch und entzündete eine Kerze.
Ihr Mund fühlte sich trocken an. Vorsichtig näherte sie sich Helen. Sie lag bewegungslos, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Ruhig floss ihr Atem.
Weinend sank die Corsarin auf die Knie. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.
Da vernahm sie Schritte hinter sich.
Lucia.
„Was ist mit ihr…?“ kam es tonlos.
Estrella wandte den Kopf. Trotz der Tränen lächelte sie. „Perfides hat Recht. Der Engel ist gegangen.“

Malta!
Dichter Dunst lag über der Insel. Doch es würde höchstens eine Stunde dauern, dann würde die Sonne wieder unbarmherzig brennen.
Helen saß auf einer bequemen Liege auf dem Oberdeck über der Kapitänskajüte. Estrella streichelte ihre Hand.
„Verspürst du noch Schmerzen?“ erkundigte sie sich leise.
Helen schüttelte den Kopf und lächelte. „Dank deiner und Lucias Pflege geht es mir gut.“
„Halbe Leinwand!“ vernahm man das Kommando von Sam Bush.
Die Corsarin schaute auf. „Bald sind wir in Malta. Da kann sich der Leibarzt des Großmeisters sich deine Wunde noch einmal anschauen. Er soll eine Kapazität sein.“
Helen lachte leise auf. „Dein Wunderdoktor aus Griechenland aber wohl auch. Woher kennst du ihn eigentlich?“
Estrella lehnte sich an die Reling. „Er hat mir mal das Leben gerettet. Ich fuhr mit Albany nach Venedig. Wir kamen aus Athen. Da hat uns ein türkischer Sklavenhändler aufgelauert. Eine verirrte Kugel traf mich im Bauch.“
Der Ruf des ersten Offiziers unterbrach sie.
„Lady Captain! Aus dem Hafen läuft gerade ein Portugiese aus. Corvette, so scheint’s.“
Estrella zuckte die Achseln. „Lassen sie die griechische Flagge setzen.“
„Ay, ay!“
Der Portugiese nahm keinerlei Notiz von ihnen. Eine Stunde später lag die SILVER STAR am Kai.
„Madame Vaubernier“, erklärte Estrella, „Hier werde ich sie an Land setzen.“
Sie sah die Französin fest an. „Der Großmeister des Malteser-Ordens wird sicher eine Gelegenheit finden, sie nach Frankreich zu bringen.“
Die Angesprochene schaute etwas verlegen zu Boden. Dann hob sie den Blick. „Ich danke ihnen, Madame Avilla de Aragon.“
Die Corsarin informierte Sam Bush und ihre Schwestern davon, dass sie sich zum Palast des Großmeisters begeben werde.
Lucia verzog leicht die Mundwinkel. „Denkst du, ihm ist zu trauen? Steht er nicht den Franzosen sehr nahe und gibt es da zwischen dem König und der römischen Kurie nicht einige verwandtschaftliche Bindungen?“
Estrella schürzte die Lippen. „Das ist zwar richtig, aber bisher hatte ich mit Manuel Pinto de Fonseca keine Schwierigkeiten.“
Sie warf ihren Mantel über und verließ das Schiff. Die vom Hafen zur Stadt aufwärts führenden Gassen wimmelten von Menschen. Händler boten ihre Waren feil, Kunden handelten um den Preis und Musikanten wetteiferten in verschiedenen Lautstärken mit einander.
Die Corsarin folgte der Hauptgasse zum Palast. Plötzlich bemerkte sie um sich herum einen sich unnatürlich rasch bewegenden Menschenstrom.
Neugierig folgte sie und gelangte auf den Platz vor dem Haupttor des Großmeisterpalastes. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits angesammelt. Hier und da konnte Estrella aus dem Stimmengewirr einen Fetzen Verständliches aufnehmen. Ihr wurde auf jeden Fall klar, dass der Großmeister eine Bestrafung angesetzt hatte, die öffentlich vollzogen werden sollte.
Estrella wollte sich schon wieder abwenden – sie mochte solche Schauspiele auf Kosten der Delinquenten nicht – da rollte die Gefangenenkarre direkt vor ihr auf den Platz.
Es handelte sich um eine der üblichen offenen zweirädrigen Wagen, die von einem Esel gezogen wurden.
Auf dem Wagen hatte man einen aufrechtstehenden Holzbalken angebracht. Daran zeigten sich zwei Personen gebunden. Ein vielleicht gerade mal siebzehnjähriges Mädchen und eine Frau – die Estrella als dessen Mutter einschätzte.
„Vermutlich Diebspack“, murmelte die Corsarin und wollte bereits in eine der Seitengassen abbiegen. Doch dann blieb sie einer Eingebung folgend doch stehen. Von der Ecke der leicht weiter ansteigenden Gasse konnte sie direkt auf ein Podium sehen, auf dem sich zwei Männer in richterlichen Roben an die Schaulustigen wandten. Einer rollte eine Pergamentrolle auseinander. Sogleich trat in der Menschenmenge Stille ein. Gespannt und neugierig verharrte man.
Mit leicht zusammengekniffenen Augen – eine Hand auf dem griff ihres Degens – lauschte auch Estrella.
„Volk von Malta! Gebet acht!“
Mit lauter Stimme hallte es über den Platz mit der morgendlichen Sonne.
Der Sprecher deutete auf den Karren. „Diese beiden Individuen sind vom Gericht des Ordens im Namen der Stadt für schuldig befunden worden, gegen Recht, Gesetz und gute Sitten verstoßen zu haben.“
Ein Raunen ging durch die Menge.
Der Sprecher fuhr fort. „Das Mädchen, welches ihr dort sehet hat gestohlen in niederer Beweggründigkeit einem ehrlichen Bäcker ein Brot. Damit so etwas nicht andere animiert dieses nachzumachen, hat der Magistrat in Absprache mit dem ehrenwerten Großmeister beschlossen, ein Exempel zu statuieren.
Die verurteilte Claire Roch wird hier auf die Bühne gebracht, nackend ausgezogen und an diesen Pranger gestellt.“ Er zeigte auf einen Pfahl mit einem Halseisen hinter sich. „Dort soll sie ausharren und über ihren Frevel nachdenken für achtundvierzig Stunden. Ausgesetzt am Tage der Sonne – in der Nacht dem Wind des Meeres. Ohne Essen oder trinken. Gleichzeitig werde ihr vom Henker verschlossen Anus und Harnröhre – sodass sie nicht mutwillig etwas ablasse.“
Die Corsarin knirschte mit den Zähnen. Neben ihr stand eine alte Frau in der typischen tracht der Insel und murmelte: „Der Großmeister ist ein nimmersatter Verbrecher! Er nimmt das einfache Volk aus um in Saus und Braus zu leben.“
Estrella runzelte die Stirn. Sie wusste zwar, dass der Ritterorden vor Arroganz nur so strotzte. Dass er aber das Volk ausnahm, war ihr neu.
Inzwischen hatten zwei kräftige Wachen das Mädchen vom Wagen gezerrt und auf die Bühne gebracht.
„Lasst mich los, ihr Schweine!“ schrie sie.
„Halte deine Zunge im Zaum oder ich nagel dich damit an den Pranger!“ rief eine der Wachen und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen sackte wimmernd in die Knie. Sogleich riss man ihr die Kleider vom Leib, bis sie splitternackt auf dem Boden des Podiums lag.
„Der Großmeister ist der wahre Dieb!“ rief nun die Frau vom Wagen herab. „Er bringt die Menschen um Haus und Hof mit seinen Steuern. Er hurt herum und lässt das Volk verhungern!“
Selbst auf diese Entfernung konnte die Corsarin sehen, wie der Gerichtssprecher blass wurde.
„Weib!“ geiferte er mit krächzender Stimme, in der volle Wut mitschwang. „Dafür erhältst du eine Extrastrafe. Bringt sie her!“
Sogleich sprangen drei Soldaten des Ordens auf den Wagen, lösten die Ketten der Gefangenen und schleiften sie ebenfalls auf das Podium.
Der Gerichtssprecher hielt das Pergament mit dem Urteil wieder näher an seine Augen.
„Yvette Roch – Mutter dieser jungen Diebin – ist zu bestrafen, weil sie ihre Tochter nicht im Sinne des Rechtes erzogen hat. So erhält sie, bis zum Bauchnabel entblößt, vierzig scharfe Hiebe mit der Peitsche auf Brust und Rücken. Wegen der Beleidigung des Großmeisters bekommt sie zusätzlich dreißig scharfe Stockschläge über ihre bloßen Fußsohlen, auf dass sie bei jedem Schritt an ihre Äusserung denke. Büttel! Ziehet der Verurteilten das Kleid bis zu den Hüften herab und ziehet ihr gleich auch die Schuhe aus. Sie soll auf der Bank dort kniend die Strafe erleiden.“
Einige in der Menge klatschten Beifall – es handelte sich um die höhergestellten Personen der Stadt. Andere murrten der Gestalt lauthals, dass berittene Wachen sich vorsichtshalber in die Nähe drängten.
Die Gedanken der Corsarin wirbelten. Sollte sie versuchen einzugreifen?
In Gedanken schüttelte sie den Kopf. Was ging
s i e das an?!
Eine in ihrer Nähe stehende Frau rief laut: „ Verdammtes Ritterpack! Erst nehmt ihr den kleinen Leuten alles – enteignet uns vom Grund und Boden und wundert euch, wenn man stehlen muss!“
„Halte deine Zunge im Zaum!“ schrie einer der Reiter, der das Gehört hatte. „Sonst bist du schneller auf der Bank, als du denkst!“
Estrella machte ein paar Schritte zu der Frau hinüber, die auf der Treppe eines kleinen Ladens stand.
„Kennst du die Delinquenten?“
Die etwa Fünfzigjährige nickte nur und machte ein wütendes Gesicht. „Ja – ihnen gehört ein kleiner Weinberg unweit der Stadt. Die Ernte hielt sie immer rüber Wasser. Aber dann meinten diese selbstherrlichen Ritter, sie müssten eine Falkenjagd veranstalten. Mitten durch die jungen Rebstöcke!“
Die stampfte mit dem Fuß auf. „Da war dann alles hin. Keine Ernte dieses Jahr. „Yvette suchte den Palast auf um Rechenschaft zu fordern.“
„Und?“ fragte die Corsarin kurz.
„Ha!“ machte die Sprecherin. „Rausgeworfen hat man sie! Bedroht!“
Estrella wusste nun genug. Sie würde eingreifen.
Aber wie?
Sie war allein.
Von der Bühne her vernahm sie einen Schrei. Alles – auch die Wächter –konzentrierten sich dort hin.
Estrella ließ rasch den Blick schweifen. Nur vier Schritte von ihr entfernt hing ein Seil von einer Hauswand. Es diente dazu, eine Flagge am Giebel hoch zu ziehen. Neben der Bühne stand ein Fahnenmast. Dort wehte das Banner des Ordens
Aber allein würde man sie in wenigen Sekunden schnappen. Sie musste schließlich mit zwei Personen fliehen.
Ein Ding der Unmöglichkeit!
Oder vielleicht doch nicht?
Ihre Augen saugten sich an dem Feuerkorb fest, der nur wenige Meter in Kopfhöhe an der Hauswand hing. Seine Halterung wirkte nicht mehr sehr Vertrauen erweckend. Vom Regen und vom salzigen Wind eher porös als stabil. Im Inneren befanden sich noch Reisig und Teerreste.
Vor der Gerichtsbühne lagen Strohballen.
Ein waghalsiger Plan keimte in der Corsarin auf.
Die Sonne brannte nun unbarmherzig vom Himmel. Das Stroh musste „furztrocken“ sein – durchzuckte es Estrella.
Ein Blick zur Bühne. Das Mädchen stand nun nackt angekettet an dem Pfahl. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte es, wie die Mutter entkleidet wurde.
Die Corsarin schritt wie zufällig in die Nähe des Feuerkorbes. Ihre linke Hand ergriff den Korb…ja – ein kurzer Ruck und sie würde ihn von der Wand reißen können.
Estrellas Plan war ebenso verwegen – wie auch irrsinnig!
Sie entfachte mit ihren „Punks“
) ein kleines Feuer in den Reisigresten. Die kleinen Flammen griffen rasch auf das Pech über und verflüssigten es. In wenigen Sekunden fauchte das Feuer hoch.
„He!“ rief ein in der Nähe stehender Mann. „Was machst du da?“
„Kümmere dich um deinen Dreck!“ zischte die Corsarin.
Als sie die ersten Schreie von der Bühne vernahm, ging sie zur Tat über. Sie bückte sich, nahm einen Kieselstein auf, der neben dem rauen Kopfsteinpflaster lag und warf ihn einem der Wächterpferde zielsicher auf die Hinterflanke. Der Gaul wieherte erschreckt und bäumte sich auf. Gleichzeitig riss die Corsarin den Feuerkorb von der Wand.
Mit aller Macht, die sie besaß, schleuderte sie ihn in die Richtung der Strafbühne.
Das Ergebnis wartete sie nicht ab. Sie rannte zu dem Seil an der Hauswand, hangelte sich in halbe Höhe hinauf und schwang sich – mit den Füßen kräftig an der Hauswand abstoßend – wie beim Entern – quer über den Platz und katapultierte sich zu dem Seil des Fahnenmastes.
Unter sich hörte sie entsetzte Schreie, denn das brennende Pech aus dem Feuerkorb spritzte über die Bühne und entfachte überall kleine Feuer, die sich rasch in das trockene Holz fraßen.
Einige Spritzer landeten auch auf der Kleidung des Großmeisters und seiner Gehilfen. Panisch versuchten sie die Flammen zu löschen.
Auf der Bühne entstand das wahre Chaos. Auch die umstehenden Schaulustigen liefen erschreckt hin und her.
Die Corsarin landete auf der Bühne. Mit ihrem Degen zerschlug sie die Hanffesseln der Frau auf der Prügelbank.
„Steh auf, wenn du nicht weiter gefoltert werden willst!“ schrie sie ihr zu.
Dann wandte sie sich dem Prangerpfahl zu. Hastig löste sie die Schraube des Halseisens. Das Mädchen blickte völlig verstört. „Los! Zu dem Pferd dort!“
Eines der Gäule hatte seinen Reiter abgeworfen und der versuchte halb liegend, den Zügel umklammert, das Tier zu beruhigen.
Niemand nahm Notiz von der Tat, denn das Feuer griff immer weiter um sich und dicker schwarzer Qualm breitete sich über dem Platz aus.
Estrella jagte los. Ein tritt mit dem Stiefel mitten in das Gesicht des Pferdebesitzers – der fiel aufschreiend lang hin. Die Corsarin entriss ihm den Zügel und sprang auf das Pferd. Dann riss sie das Mädchen vor sich auf den Sattel.
„Spring auf – verdammt noch mal!“ schrie sie der Mutter zu.
Endlich löste die sich aus ihrer Erstarrung und versuchte hinter der Corsarin auf das Pferd zu gelangen.
Estrella griff zu! Mit einem gewaltigen Ruck zog sie die Frau hinter sich.
„Festhalten!“ schrie sie nun, dann gab sie den Gaul auch schon die Fersen zu spüren.
Der galoppierte los – ohne Rücksicht auf Umstehende, die er niederwalzte.
Die Corsarin sauste durch die engen Gassen und dann ging es steil abwärts zum Hafen.
Sam Busch sah diese „Apokalypse“ den Kai entlang jagen.
„Verdammt…!“ entfuhr es ihm. Dann drehte er sich um und rief mit donnernder Stimme über das Deck:
„Männer! Der Captain braucht unsere Hilfe!“
Ohne anzuhalten galoppierte Estrella auf die SILVER STAR zu. Sam ließ bereits die Trossen lösen.
Da!
Ein gewaltiger Satz des mit Schweiß bedeckten Tieres…und sie standen auf dem Mitteldeck des Schiffes.
Da tauchten auch bereits vier Malteserritter am Kai auf.
Doch die SILVER STAR schwamm schon im freien Wasser.
Die Corsarin sprang auf die Planken.
„Volle Segel! Wir müssen raus, bevor den Burschen einfällt, die Kanonen an der Mole zu laden!“
Als der erste Geschützdonner ertönte, legte sich das Corsarenschiff bereits zweihundert Yards weiter in den Wind und strebte der offenen See zu.


Denkt ihr nicht, dass uns der Großmeister verfolgen lässt?“ fragte später die Vaubernier, nachdem die SILVER STAR bereits weit von Malta entfernt schwamm.
Die Corsarin nickte mit ernstem Blick.
„Das wird er. Darauf könnt ihr euern Arsch verwetten, Madame!“
Die Französin trommelte nervös mit den Fingern auf der Reling herum. Estrella grinste.
„Angst, Madame? Vor einem Kerker der Malteser-Ritter? Macht euch keine Gedanken. Dort sitzen Frauen nicht lange. Die großen Sklavenmärkte sind nicht weit.“
Die Vaubernier – so oft Intrigenspinnerin und darin nicht gerade zimperlich – erbleichte.
Estrella lachte aus vollem Hals und klopfte der Frau auf die Schulter.
„Beruhigt eure Nerven. Wenn sie euch kriegen, dann kriegen sie auch mich. Und
d a z u habe ich wirklich keine Lust!“
Mit diesen Worten lief sie auf Sam Bush zu, der gerade vom Kanonendeck heraufstieg.
„Wie sieht es aus, Mr. Bush?“
Der Alte wedelte ein wenig mit den Armen. „Für eine große Schlacht reicht unsere Munition nicht mehr. Ich hatte bereits vor zwei Wochen gesagt, wir müssen auffüllen!“
Die Corsarin zog die Augen zusammen und blickte über das Heck der SILVER STAR. „Das hatte ich ja auf Malta vor.“
„Yea!“ knurrte der Erste im Yorkshire-Slang. „Aber du musstest ja mal wieder die Samariterin spielen.“
Estrella funkelte ihn wütend an. „Mr. Bush – lassen sie Kurs auf Gozo!“
Bushs Augen verengten sich. Er blickte über die rechte Schulter seines Captains.
„Denke nicht“, brummte er, „das
d i e uns dahin lassen.“
Die Corsarin wirbelte herum und erstarrte. Die unverkennbare Silhouette eines Malteser-Kriegsschiffes befand sich höchstens sechs Meilen entfernt von ihnen. Und es hielt Kurs direkt auf die SILVER STAR.
„Verdammt!“ schrie Estrella. „Wie können die das schon wissen?!“
„Brieftauben“, kommentierte der Alte nur knapp. Dann rannte er in die Mitte des Decks und schrie: „Gefechtsbereitschaft!“
Der „Malteser“ behielt seinen Kurs bei.
„Mierda!“ stieß die Corsarin aus. „Will er uns rammen?“
Bush schüttelte den Kopf. „Dann würde er auch sein Schiff beschädigen.“ Der erste Offizier strich sich durch seinen Bart. „Er wird kur vorher die Segel einholen und nur mit dem Fock längsseits gehen.“
Genau das geschah.
In einer Entfernung von einer Viertelseemeile glitt das Ordensschiff parallel zur SILVER STAR. Dann kamen aus dem Krähennest Flaggensignale.
„Haben Befehl, euch nach Malta zu bringen“, knurrte Bush.
Helen, die hinzugekommen, stemmte die Hände auf die Reling. „Das werden wir nicht tun!“
Estrella blickte nur kurz auf, ehe sie den befehl gab: „Signalgasten in den Korb. Antwort: Was wollt ihr von uns?“
Wenig später kam die Antwort: „Großmeister will die Corsarin sprechen.“
Von der SILVER STAR kam es dann: „Haben keine Zeit.“
Antwort: Das ist ein Befehl vom Kommandanten des Ordensschiffs JERUSALEM.
Estrella stieß die Luft zischen aus, ehe sie höhnisch ausrief: „Jerusalem! Oh wie heilig !!“
Plötzlich kam das Signal: „Dreht bei oder wir schießen euch genau in den Bug.“
Helen ballte die Fäuste. „Scheißkerl! Aber er ist uns überlegen.“
Estrella richtete sich auf. „Wir tun folgendes….“
Bush schluckte, nachdem er das gehört hatte. „Du bist verrückt! Die legen dich in Ketten! Es geht doch um die illegale Befreiung von Gefangenen!“
Doch Estrella ließ sich von ihrem Plan nicht abbringen. „Wir haben das doch schon erfolgreich praktiziert. Also los! Boot zu Wasser und Signal: Captain kommt rüber.“
Nach der Meldung wurde auf der JERUSALEM – eine Fregatte mit zwei Kanonendecks – eine Strickleiter über die Steuerbordwand geworfen.
Zehn Minuten später stand die Corsarin dem Kommandanten – einem Deutschen – Kurt Hansen gegenüber. Der begrüßte sie mit ausgesuchter Höflichkeit.
„Madame“ – sagte er mit einer leichten Verbeugung – „ Mein Befehl lautet, euch und euer Schiff in den Hafen von Malta zu bringen.“
„Was will der Großmeister von mir?“
Die Corsarin sagte das mit hochmütig erhobenem Kopf.
Hansen zuckte die Achseln. „Er will euch sprechen. Mehr ist mir nicht bekannt. Aber die order lautet: Notfalls die SILVER STAR zu versenken.“
Die Augen der Corsarin hatten sich zusammengezogen. Dann nickte sie langsam. „Gut! Wir drehen um.“
Als sie anstalten machte, das Schiff zu verlassen, trat ihr der Bootsmann in den Weg.
„Tut mir leid“, erklärte Hansen. „Ihr bleibt bei mir an Bord!“
Estrella wandte sich zu dem Spreche rund reckte das Kinn vor. „Wollt ihr damit sagen, ich sei eure Gefangene?“
Der Kommandant lächelte. „Sagen wir es so…seien sie bis Malta mein Gast.“
„Euer Gast…soso…“ Die Corsarin lächelte hintergründig. Ihre linke Hand lag auf dem Degengriff.
Hansen lächelte seinerseits. „Ich weiß, dass sie eine gefährliche linke Fechthand führen. Doch bitte ich sie zu überlegen, ob es gegen unsere Übermacht Sinn hat. Auch kanonenmäßig sind wir ihrer schon legendären SILVER STAR weit überlegen. Meine Kanoniere sind bereit, sofort eine volle Breitseite abzugeben. Das sind zwanzig Kugeln. Ihr Schiff wird spurlos im Meer versinken.“
Estrella schürzte die Lippen und nickte nur. Hansen erzählte ihr nichts Neues.
„Kapitän – ich werde ihre Gastfreundschaft annehmen. Signalisieren sie bitte zu meinem Schiff, dass wir Malta anlaufen werden. Mister Bush – mein erster Offizier – hat das Kommando.“
Hansen nickte befriedigt. Man merkte ihm an, wie er sich entspannte. Er gab den Befehl an seinen zweiten Offizier weiter. Der wandte sich an den Signalmaat.
Hansen wandte sich an die Corsarin. „Darf ich ihnen in meiner Kajüte einen Tee anbieten?“ Er machte eine leichte Verbeugung.
In diesem Moment erhob sich rund um das Schiff – aus dem Wasser – Geschrei.
Hansen wirbelte herum. „Verflucht! Was ist das?“ Seine Augen schleuderten Blitze gegen Estrella. „Versuchen sie etwa…“
„Haie!“ rief jemand von der Mannschaft der JERUSALEM. Hilferufe und hysterisches Geschrei drang vom Wasser herauf. Estrella stürzte an die Reling. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
In diesem Moment donnerten zwei Schüsse von der SILVER STAR herüber. Der Fockmast des Malteser-Schiffes barst. Teile der Bugreling flogen über Deck.
„Alle Teufel!“ schrie Hansen. Estrella riss ihren Degen heraus.
Von irgendwo her drang der Ruf an ihr Ohr: „Volle Breitseite! Feuer frei!“
Doch da donnerten vier weitere Kugeln über das Deck und rissen gewaltige Löcher in die Tagelage. Gleichzeitig drehte die SILVER STAR sich um neunzig Grad. Die Breitseite der JERUSALEM verfehlte ihr Ziel. Lediglich eine der Hecklaternen wurde weggefegt.
Estrella katapultierte sich auf das Kapitänsdeck und trat gleichzeitig einem Malteser mit aller Macht beim Absprung in den Magen. Jaulend knickte der in den Knien ein. Die Corsarin hechtete an dem verstörten Steuermann vorbei, wobei sie mit der scharfen Damaskusklinge ihres Degens gegen eines der Steuerseile hieb. Dann rannte sie weiter zum Heck und sprang auf das einen Fuß breite Geländer der Achternreling.
Was sie sah, ließ ihr das Blut in Adern gefrieren. Einige Männer ihrer Mannschaft versuchten verzweifelt sich mit ihren Messern der Haie zu erwehren. Andere schwammen tot und verstümmelt auf den Wellen. Blutige Gliedmaßen wurden von den Raubfischen geschnappt und unter die Wasseroberfläche gezerrt.
„Wir dachten uns, dass sie versuchen würden die JERUSALEM anbohren zu lassen oder unser Steuer zu blockieren“, erklang es mit beherrschter Stimme hinter ihr. „Wir haben deshalb blutige Abfälle ins Meer gekippt.“
Estrellas Mund wurde trocken wie die Sahara. Steif wie eine Puppe wandte sie sich dem Sprecher zu. Dann stürzte sie sich mit einem unmenschlichen Schrei auf Hansen…



Verdammt! Was wollt ihr von mir?“
Müde hob die Corsarin den Kopf. Ihr Nacken schmerzte von dem schweren Halseisen, dass man ihr vor fünf Tagen angelegt hatte. Ihr Kerker zeigte sich feucht und es stank fürchterlich.
Marcel de Goudin – der Kanzler des Malteserordens stand – begleitet von zwei Rittern – vor der am Boden kauernden Frau.
„Ein Schuldeingeständnis und die Auslieferung der SILVER STAR, sowie die freiwillige Gefangennahme eurer Mannschaft.“
Estrella verzog das verschmutzte Gesicht. Nachdem man sie auf der JERUSALEM überwältigt hatte und nach Malta geschafft, saß sie im Kerker des Palastes. Der Großmeister – er hatte sich noch nicht blicken lassen – beschuldigte sie des Hochverrates.
„Ihr verlangt Unmögliches, Monsieur. Seit des Kampfes mit eurem Schiff habe ich nichts mehr von der SILVER STAR gehört.“
„Madame“, sagte Goudin leise. „Sie wollen doch nicht behaupten, dass sie ihrem ersten Offizier keine klaren Befehle erteilt haben?! Nennen sie uns das Versteck ihres Schiffes. Eine unserer Fregatten wird dort hinfahren und eine Botschaft überbringen.“
Die Corsarin richtete sich langsam in halbsitzende Stellung auf. Ihre Rüschenbluse zeigte zahlreiche Risse. Die Stiefel hatte man ihr weggenommen. Sie fühlte die feuchte Kälte unangenehm an den nackten Füßen und Beinen.
„Mr. Bush handelte in eigener Verantwortung.“
Goudin ging in die Hocke, um seiner Gefangenen ins Gesicht sehen zu können.
„Madame Avilla de Aragon…der König von Frankreich verlangt euere Auslieferung. Versailles klagt sie der Hexerei an. Außerdem Mordversuch an König Louis. Unser Großmeister ist bereit, euch nicht auszuliefern, wenn ihr euch der Verbrechen gegen den Orden geständig zeigt.“
„Welcher Verbrechen gegen den Orden?“
„Nun…ihr habt eine nach unserem recht verurteilte Gefangene befreit, zwei Ritter des Ordens dabei getötet. Außerdem des Patriarchen Flaggschiff JERUSALEM stark beschädigt…acht Mannschaftsangehörige und vier Ritter getötet…ich denke, das ist eine ganze Palette.“
Estrella lachte rau.
„Die Frau auf dem Marktplatz wurde unrechtmäßig bestraft.“
Goudin erhob sich. „
D a s Madame, war nicht eure Angelegenheit. Der Großmeister und seine Richter sind unfehlbar!“ kam es scharf.
Die Corsarin spuckte aus. „Ihr seid auch nur ein Spielball im Krieg der Nationen.“
Der Kanzler seufzte. „Das mag schon sein…aber es ist
nicht euer Spiel!“
Er gab seinen Begleitern ein Zeichen. „Sorgt dafür, dass die Gefangene sich ordentlich baden kann, dann gebt ihr zu essen und bringt sie in den Hauptpalast. Morgen wird sie vor das Tribunal gestellt.“
Der Raum, in dem man die Corsarin später unterbrachte, erfüllte allen Luxus. Estrella trug ein Kleid von guter Qualität und bequemes, aber modisches Schuhwerk. Lediglich ein rötlicher Kratzer am Hals zeugte noch von dem Kerkeraufenthalt.
Als sich die Sonne dem Horizont zu neigte, schaute sie in den prachtvollen Palastgarten. Sie war allein.
Niemand kümmerte sich um sie. Allerdings hatte man die Tür versperrt.
Erst am frühen Abend erschien Goudin wieder.
„Ich hoffe, es geht euch den Umständen entsprechend gut, Madame. Haben sie sich den Vorschlag des Großmeisters überlegt?“
Estrella blickte den Mann – einen nicht unsympathischen Franzosen – ernst an. „Seit wann gehört ihr zum Orden?“
„Schon über zwanzig Jahre.“
Die Corsarin nickte. „Weshalb habt ihr euer französisches Heimatland verlassen?“
Der Kanzler trat ans Fenster und starrte in die Dunkelheit. „Politische Intrigen, Madame. Ich fiel bei Hofe in Ungnade.“
Estrella trat von hinten ganz dicht an den Mann heran. Er roch nach teurem Parfüm. „Dann solltet ihr doch meine Beweggründe, die mich auf das Meer trieben verstehen…“
Goudin wandte sich um. „Persönlich schon, aber ich bin Diplomat des Ordens und dessen Gesetzen unterworfen. Ihr habt unserem Staat Schaden bereitet. Außerdem bemühen wir uns um gute Beziehungen zu Frankreich. Wir haben im Kampf mit den Türken sonst keinen Rückhalt.“
„Ich habe dem König von Frankreich das Leben gerettet. Madame Vaubernier versuchte mit allen Mitteln Einfluss bei Hofe zu gewinnen.“
Gaudin sog tief die Luft ein. „Wir sind über diplomatische Kanäle informiert. Allerdings hat Louis Madame Vaubernier begnadigt. Gleichzeitig wurde uns über sie eine Depesche des Königs übermittelt, euch in Gewahrsam zu nehmen.“
Nun war es an der Corsarin irritiert zu sein.
„Eine Depesche des Königs über die Vaubernier?“
Estrella machte aufgebracht ein paar Schritte durch das Zimmer. Dann wirbelte sie herum. „Die Vaubernier befindet sich auf meinem Schiff! Ich rettete sie vor dem Strafkloster in Frankreich!“
Der Kanzler des Ordens lächelte nun mild. „Das scheint wohl eher eine Falle für sie gewesen zu sein. Louis wollte an die Hintermänner der Organisation SCHWARZE MÖWE heran.“
Estrellas Gedanken wirbelten. Ein abgekartetes Spiel! Ihr Götter der Meere!
„Die Vaubernier konnte keinen Kontakt zu jemandem haben…“ Sie unterbrach sich. „Es sei denn…“ Ihre Augen rundeten sich. „Der Mordanschlag auf Helen…!
S i e war das!“
Gaudin zuckte die Achseln. „Auf Korsika traf sie wohl den Kontaktmann des Königs und der leitete alles weiter an den Orden. Louis muss wohl geahnt haben, dass ihr die Vaubernier auf Malta absetzen wolltet. Dann kam die Sache mit dem Marktplatz dazwischen.“
Estrella stampfte mit dem Fuß auf. „Ich hatte die Vaubernier im Verdacht, aber dann kam es mir so unmöglich vor…“
Gaudin setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf. „Es scheint, als hätten sie den internen Geheimdienst von Madame Vaubernier unterschätzt.“
Die Corsarin benötigte einige Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen. Die Vaubernier befand sich noch an Bord der SILVER STAR und stellte so eine große Gefahr da. Vermutlich hielt sich das Schiff unter dem Kommando von Helen, Sam und Lucia in der Nähe auf. Aber
w a s vermochten sie zu tun?
„Ihre Antwort auf meine Frage steht noch aus, Madame Avilla de Aragon.“
Wie durch Watte drang die Stimme an ihr Ohr.
Endlich sagte sie wahrheitsgemäß: „Ich habe keinerlei Ahnung, wo die SILVER STAR sich aufhält.“



Estrella Avilla de Aragon“, drang die Stimme des Großmeisters hohl durch den riesigen Gerichtssaal. „Ihr seid angeklagt des Verrates am Orden zu Malta. Ihr seid weiter angeklagt dem Orden Schaden zugefügt zu haben. Ihr seid weiter angeklagt, dem König von Frankreich nach dem leben getrachtet zu haben.“
Eine Pause trat ein.
Estrella stand zwischen zwei Wachen auf dem wertvollen Marmorboden und blickte dem Sprecher gerade ins Gesicht.
Gaudin trat hinter sie und flüsterte: „Bekennt euch schuldig, um des Himmelswillen. Dann kann der Großmeister Gnade walten lassen.“
Unwillkürlich lachte die Corsarin laut und kurz auf.

„Gnade?!“ zischte sie. „Wie sollte diese Gnade aussehen? Den Rest meines Lebens in Kerkerketten?“ Lauter rief sie: „Nicht schuldig. Und das wisst ihr genau – verflucht noch mal!“
Ein unwirsches Raunen ging durch die Reihen der zuschauenden Ritter.
Die Miene des Großmeisters verdüsterte sich.
Manuel Pinto de Fonseca
setzte sich kerzengerade auf seinem erhöhten Stuhl zurecht.
Die Corsarin wollte einen Schritt näher an den Tisch des Tribunals heran, wurde aber von den Wachen daran gehindert.
„Manuel!“ rief sie. „Vergiss nicht, dass ich dir vor zwei Jahren das Leben gerettet habe, als du von einem maurischen Schiff vor Alexandrien bedrängt wurdest.“
Tiefes Schweigen legte sich über die Versammlung. Man konnte die Möwen von draußen hören.
Der Großmeister schaute die Frau lange an. Es währte wohl an die vier Minuten. Niemand wagte fast zu atmen.
„Das vergesse ich nicht“, kam es dann langsam. „Deshalb bleibt dir auch die Folter erspart.“
Manuel Pinto erhob sich.
„Die Sitzung ist bis morgenfrüh vertagt. Bringt Madame in ihr Quartier!“
Den Rest des Tages verbrachte Estrella in ihrem komfortablen Raum. Erst am Abend tauchte Gaudin auf.
Er blickte verlegen.
„Weshalb hören sie nicht auf mich?“
„Wenn ihr mich hängen wollt…dann tut’s!“ kam es hochmütig von der Corsarin. „Mit dieser Gefahr lebe ich schon lange. Bei meiner Lebensart stirbt man entweder auf der Folter, am Galgen oder im Gefecht.“
Gaudin schwieg. Das nutzte Estrella dazu auf ihn zu zugehen und ihm die Hand auf den Arm seiner schmucken tracht zu legen. „Na, Monsieur? Welche Art habt ihr für mich vorgesehen?“
Der Kanzler wischte sich nervös durch das Gesicht.
„Na los doch!“ rief die Corsarin. „Habt ihr Angst?“
Gaudin atmete schwer, ehe er sagte: „Ihr werdet nach DIABLOS gebracht.“
Die Corsarin legte den Kopf leicht in den Nacken. „Was ist das? Ein Sklavenmarkt?“
Gaudin schüttelte den Kopf.
„Also,
w a s dann?“
“Ihr kommt auf die Maltesergaleere ZION. Während der Überfahrt hängt ihr am Kreuz. Auf dem Eiland, etwa 13o Seemeilen von hier – das wir DIABLOS nennen, wird das Kreuz dann aufgestellt und…“
Estrellas Herz begann zu rasen, aber sie beherrschte sich meisterhaft.
„Ich verstehe“, kam es leise. Dann zuckte sie mit den Achseln. „Nun – so ist es mein Schicksal.“
Gaudin drehte auf dem Absatz um und eilte aus dem Raum.
Die Corsarin atmete schwer. Sie starrte aus dem Fenster. Die letzten Sonnenstrahlen vergoldeten die Palmwedel im Garten des Großmeisters.
‚Eine Hinrichtungsinsel’, durchfuhr es Estrella. Sie würde am Kreuz hängen, die Möwen würden ihr erst die Augen aushacken, dann den restlichen Körper attackieren, bis sie nach endlosen Tagen an Schwäche und Durst…und am Blutverlust sterben würde.
In der Nacht schließ sie unruhig bis in die ersten Morgenstunden. Dann lag sie wach. Sie sah die Sonne über den Mauern des Palastes aufgehen.
Sie stand auf, wusch sich in der marmornen Schüssel und rieb sich mit einer duftenden Essenz ab. Dann brachte man ihr ein Frühstück. Eine weitere Stunde später führten die Wachen sie wieder vor das Tribunal.
Es war mucksmäuschen still im Saal.
Der Großmeister erschien mit allem Pomp und nahm seinen Sitz ein.
„Estrella Avilla de Aragon“, begann er mit lauter Stimme. „Das Gericht hat euch in allen Punkten für schuldig erklärt. Das Urteil lautet auf Gottesfügung.“
Jeder im Saal wusste, was es bedeutete. Genau das, was Gaudin ihr prophezeit hatte. Man würde sie nicht töten. Gott würde richten. Dabei konnte nur der Tod das Ende sein.
„Das Urteil wird sofort vollstreckt. Die Verurteilte wird auf den Marktplatz geführt und dort ans Kreuz gebunden. Mit dem Schiff wird sie dann nach DIABLOS gebracht.“
Der Großmeister sah von seinem Pergament auf und sah jetzt die Corsarin wieder fest an.
„Ich werde es nicht sein, der dich töten muss.“
Er machte eine kurze Pause.
„Hast du noch etwas zu sagen?“ fragte er dann.
„Fahr zur Hölle, Manuel Pinto!“
Der Großmeister erhob sich. „Das Urteil ist gesprochen. Estrella Avilla de Aragon, zieh dich aus, damit du auf den Richtplatz gebracht werden kannst.“
Es half nichts – Estrella musste sich fügen. Langsam streifte sie ihre Kleider ab. Dann führte man sie auf den Vorplatz des Palastes. Ein Knecht legte ihr Fesseln an.

Monoton und dumpf – nervtötend – dröhnten die Trommeln im gleichen Rhythmus. Estrella schritt zwischen einem Corps aus vier schwer bewaffneten Rittern splitternackt einher. Ihre Ketten – die Hals, Hände und Fußgelenke verbanden, klirrten bei jedem Schritt, den ihre nackten Füße auf dem groben Pflaster vollzogen.
Sie versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie schaute stur gerade aus. Dicht gedrängt standen die Menschen der Insel. Wollten sie doch erleben, wie die berüchtigtste Corsarin aller Zeiten ihrer Strafe zugeführt wurde.
Die Prozession wurde vom Großmeister persönlich angeführt.
Estrella spürte förmlich die Blicke, die geifernd und lüstern über ihren nackten Körper glitten. Alte Bilder aus der fast verdrängten Vergangenheit tauchten wieder vor ihrem geistigen Auge auf.
Der Zug kam ins stocken. Die Corsarin strauchelte in ihrem durch die Ketten begrenzten Bewegungsraum. Zwei Hände griffen zu und hielten sie aufrecht. Der Kopf der Corsarin ruckte hoch und sie blickte direkt in das Gesicht von Sam Bush.
Sie glaubte zu träumen. Doch da stieß man sie schon weiter.
Auf dem Marktplatz lag mächtig und roh – in einer Schräglage – das Kreuz. Zwei vermummte Henker in roten Roben und dem Wappen der Malteser auf den Unterkutten – warteten.
Estrella wurde vor das Hinrichtungsgerät geführt. Man nahm ihr die Ketten ab, was eine Zeit in Anspruch nahm. Dann stieß man sie auf das Kreuz. Ihre Arme zogen zwei Knechte auseinander, zwei andere hielten ihre Füße fest.
Die Henker kamen näher.
Der Großmeister trat an das Kreuz heran, hob die Arme und rief: „Henker – waltet eures Amtes!“
„Das tun wir!“ kam es hohl unter einer der Kapuzen zurück. Eine Stimme, die Estrella elektrisierte.
„Helen!“ hauchte sie.
Plötzlich sah sich der Großmeister von mehreren Menschen umringt. Einer der Henker riss sich die Kapuze herunter und setzte in des Blitzes Schnelle dem Großmeister des Ordens eine Messerklinge an den Hals.
Aufruhr entstand in der Menschenmenge.
Die Corsarin drehte den Kopf und erkannte Lucia. Sie hielt den Großmeister fest im Griff.
„Euer Gnaden – wenn einer eurer Soldaten näher kommt oder zur Waffe greift, seht ihr das göttliche Tribunal.“
Manuel Pinto wagte nicht zu atmen. Lucia brachte ihren Mund ganz nahe an sein rechtes Ohr. „Wenn ihr Leben wollt, sorgt ihr für freies Geleit zum Hafen. Wir haben die JERUSALEM besetzt und werden mit ihr MALTA verlassen.“
„Damit kommt ihr nicht durch“, keuchte der Großmeister.
„Oh doch!“ bekräftigte Lucia. „Die Vaubernier liegt in Ketten im Bug unserer SILVER STAR und die anderen Schiffe des Ordens sind momentan manövrierunfähig.“



Die SILVER STAR rauschte durch die dunkle blauen Wogen.
„Jetzt haben wir auch noch die halbe Malteser Flotte hinter uns her!“ schimpfte Lucia. „Himmel! So komme ich nie nach Hause!“
Estrella setzte ihr Fernrohr ab. „Wir haben einen guten Vorsprung.“
Doch ihre Schwester zeigte ein wütendes Gesicht. „Darf man fragen, was die große Corsarin nun vor hat? Bei Gibraltar stoßen wir vermutlich auf Franzosen und Briten, die beide sauer sind und hinter uns schneiden uns die Malteser den Weg ab.“
„Wir werden nach Venedig segeln“, kam die kurze Antwort.
V e n e d i g ?“
„Wir stellen uns unter den Schutz des Dogen. Die Vaubernier können wir auch direkt dort abliefern.“
Lucia hob theatralisch die Arme. „Oh lieber Gott! Wie lange wollen wir uns dort verstecken?“
Die Corsarin grinste. „Venedig ist eine wunderschöne Stadt und die Zeit wird uns nicht lang werden.“
„Ja,
d u hast Zeit.“ machte ihre Schwester. „Ist dir klar, wie lange ich schon von SAN LUCA fort bin?!“
„Reg dich ab! Ich denke in spätestens einen Monat wird man die Suche nach uns aufgeben.“
Lucia stand kurz vor der Explosion.
Glücklicherweise tauchte da Helen auf – ergriff die Schwester bei der Hand und zog sie fort. Estrella schaute ihnen nach.
Der Wind frischte merklich auf und die Fahrt des Schiffes beschleunigte sich immer mehr. Estrella schätze, dass sie in acht Tagen Venedig erreicht haben könnten.



Der Wind blies mäßig. Estrella lehnte an der Heckreling des Kapitänsdecks. Sam Busch stand am Royalmast und unterhielt sich mit dem Bootsmann.
Die Sterne blinkten wie tausend Diamanten am Firmament. Nur die Wellen rauschten leise und die Tagelage knisterte ab und zu. Man fuhr vorsichtshalber ohne Positionslaternen.
Die Corsarin angelte eine pechschwarze dünne Zigarre aus ihrem Lederbeutel, der an dem kostbaren Gürtel hing. Feinste Filigranarbeit aus Damaskus.
Lucia ließ sich nicht sehen. Sie war sauer.
Helen schien sich bei der Vaubernier aufzuhalten. Estrella entzündete mit dem ‚Punks’ die Zigarre und sog den Rauch ein, ließ ihn über den Gaumen gleiten und kaute den Geschmack. Dann stieß sie langsam den Rauch wieder aus. Sie dachte an die Vaubernier. Hatte sie richtig gehandelt, dieses Luder an Bord zu nehmen? Sie hätte doch verrecken sollen in dem Kloster!
Aber die Aktion galt ja Helen.
Wer mochte diesen Anschlag verübt haben? Wer hatte Interesse daran, Helen zu töten? Die Vaubernier?
Unwillkürlich stampfte Estrella mit dem Stiefel hart auf das Deck. Sie sollte das Weib so lange auspeitschen, bis sie die Wahrheit gestand!
Sie richtete den Blick zu den Sternen. Manchmal sehnte sie sich doch nach einigen ruhigen Tagen auf ALBANY.
Es passierte völlig unerwartet!
Die Corsarin wurde über das Deck geschleudert. Die Zigarre flog ihr aus dem Mund. Sie schlingerte über die Planken und stieß mit dem Kopf gegen das geschnitzte Treppengeländer zum Mitteldeck. Rote Kreise tanzten vor ihren Augen. Sie vernahm wie durch Watte Schreie. Dann das Fluchen von Sam Bush.
Da spürte sie, wie die SILVER STAR sich zur Seite neigte. Estrella rutschte nach Backbord. Die Masten knarrten protestierend. Eine Taurolle sauste ihr ins Genick.
Ein winziger Blutfaden lief von ihrer Oberlippe zum Kinn herab.
„Mierda!“ stieß sie durch die Zähne und rappelte sich hölzern hoch.
Das Schiff knirschte.
Sie vernahm Bush’s Ruf: „Leinwand runter! Alles! Oder wollt ihr ersaufen?! Hurenbande! Verdammter Steuermann! Ich zieh dir das Fell ab …“
Blitzartig war Estrella klar,
w a s passiert war.
Sie saßen auf einer Sandbank!
Endlich hatte sie sich wieder so weit im griff, dass sie die Stiege zum Mitteldeck heruntersteigen konnte.
Der Steuermann hing über dem Ruder. Er schien sich bei dem Aufprall einige Rippen gebrochen zu haben.
„Warum habt ihr nicht gelotet?“ stieß die Corsarin zwischen den Zähnen fragend heraus.
„Hier gab es nie eine Sandbank!“ fauchte Bush.
„Hier gibt es immer Sandbänke“, spie die Corsarin hervor. „Wir befinden uns zwischen Griechenland und Italien. Ich muss mich sehr wundern,
Mi s t e r B u s h!“
Der Alte wurde puterrot im Gesicht. Verflucht…sie hatte ja Recht! Das hätte ihm nicht passieren dürfen.
Die Segel waren eingeholt. Sogleich richtete sich die SILVER STAR wieder auf.
Helen und Lucia kamen aus der Kajüte. Lucia blutete am Kopf.
Als sie Estrella ansichtig wurde, knirschte sie: „Deine christliche Seefahrt kannst du dir sonst wo hinstrecken. Bring mich – zum Henker – nach SAN LUKA und dann verpiss dich für die nächsten Jahre!“
Dann rannte die Gouverneurin zur Reling und kotzte über Bord.
Estrella hielt sich mit dem Gezeter nicht auf. Sie rannte zum Bug. Schaumig umspülte es die Galionsfigur. Im Licht des aufsteigenden Mondes erkannte sie den weißen, glitzernden Sand zwischen den Wogen.
„Boot zu Wasser!“ herrschte sie Sam Bush an.
Der gab wütend d en Befehl weiter, wobei er – weil es ihm nicht schnell genug ging – den Matrosen in den Hinter trat, der ihm am nächsten stand.
Wenig später umrundeten Helen und Estrella den Schiffsrumpf.
„Stellt fest, ob Wasser eindringt!“ rief die Corsarin noch nach oben zu Bush.
Dieser jagte den Bootsmann ins Unterdeck.
Glücklicherweise gab es kein Leck.
Helen stemmte sich in die Ruder. „Bete, dass uns die Malteser nicht zu nahe sind.“
Die Corsarin spuckte aus. „Beten? Zu deinem komischen Gott, der nie da ist, wenn man ihn braucht?“
„Vielleicht hat er ja dafür gesorgt, dass man dich nicht ans Kreuz genagelt an auf Malta.“
Estrella sagte darauf nichts. Ihre Augen glitten zwischen Wasseroberfläche und Schiffsrumpf hin und her.
„Die Wellen drücken uns immer fester auf den Sand. Wir müssen graben.“
Helen hielt im Rudern inne und stand in dem leicht schwankenden Kahn auf. „Tolle Idee, Schwester!“
Die Corsarin funkelte sie an. „Ist das zu fein für eine Inglis?“
Dafür erntete sie einen Fluch, der jeden Bierkutscher in Boston noch in Verlegenheit gebracht hätte.
Sie hatten das Heck umrundet, als die Augen der Corsarin sich verengten.
„Näher ans Ruder!“ befahl sie.
Helen gehorchte mit zusammengekniffenen Lippen. Die Wut stand in ihrem Gesicht.
Estrella zog das Boot näher an das lang gezogene Steuerblatt heran.
„Sieh dir das an! Eines der Steuerseile ist angeschnitten!“
Nun wandte auch die Schwester den Blick dort hin. „Verflucht! Da will jemand verhindern, dass wir…“
Die Corsarin nickte nur stumm. Endlich quetschte sie durch die Zähne:
„Ich wette, es ist dieselbe Person gewesen, die mit dem Messer auf dich losgegangen ist.“
Helen schluckte. „Es ist ein Verräter an Bord. Die Vaubernier?“
Estrella schüttelte den Kopf. „Ich traue ihr viel zu, aber
d a s hier ist eine Nummer zu groß für sie.“
Die Corsarin fuhr sich durch das Gesicht. Der Wind frischte auf.
„Rudere zurück zur Strickleiter. Sam muss das Ruder unauffällig reparieren lassen. Dann müssen acht Mann vor dem Bug graben. Das Schiff muss hier weg.“
Sam Bush konnte seinen Zorn kaum unterdrücken. „Wir müssen den Verräter finden“, knurrte er wenig später in der Kajüte. „Ich habe nur keinen Schimmer, wer das sein könnte…“
Helen lehnte neben dem Kartentisch. Die Arme verschränkt – das Kinn in die Hände gestützt.
„Wir könnten das Gerücht in Umlauf bringen, dass eines der Steuerseile beschädigt ist. Wir hätten es notdürftig geflickt. Wenn es aber ein weiteres Mal reißen würde, sähe es schlecht für uns aus.“
„Hm“, kam es von der Corsarin überlegend. „Gehen wir davon aus, der Verräter will uns an jemanden ausliefern. Frage: An wen? Die Malteser? Er konnte nicht wissen, dass wir MALTA anlaufen würden. Die Franzosen? Dann müsste eine Fregatte hier in der Nähe pendeln. Oder Engländer? Auch dann müsste ein Schiff hier sein. Denn dem Attentäter musste klar sein, dass wir es mit dem angesägten Seil nicht bis Gibraltar schaffen würden.“
Sam zog die Augenbrauen bis zum Haaransätze. „Deibel! Du hast Recht! Er würde sich ja selber in Gefahr begeben. Auch bei dem Attentat auf Helen…er muss davon ausgegangen sein, wir würden einen allseits bekannten Hafen anlaufen, um rasch einen Arzt zu finden.“
Estrella lächelte düster. „Ergo? Machen wir uns auf eine Überraschung gefasst. Also…“
Sie gab klare Anweisungen.
Helen verschanzte sich auf der allerhöchsten Mastspitze. Sam und der Bootsmann leiteten den Grabetrupp vor dem Bug.
Estrella unternahm etwas ganz anderes. Sie verriegelte die Kajütentür. Dann entkleidete sie sich vollständig. Geschmeidig – ohne das geringste Geräusch – öffnete sie das hintere Fenster der Kapitänskajüte. Wie eine Schlange glitt sie hinaus und legte sich über den Achtersteven – direkt über dem Ruderblatt. Ein schmales, zweischneidiges Messer umkrampfte sie mit der linken Hand.
Der Mond stand am Bug. Das Heck der SILVER STAR lag völlig im Schatten.
Außer dem Rauschen der Wellen hörte sie entfernt die Stimmen der Männer, die bis zu den Hüften im Wasser standen.
Die Corsarin wartete.
Der Wind schien sich völlig zu legen. So – als warte auch er auf das Unabdingbare.
Ab und zu knarrte der Rumpf des Schiffes.
Estrella atmete ruhig und gleichmäßig. Sie besaß die Geduld einer Raubkatze.
Leises Plätschern. Nicht im Rhythmus der Wellen. Eher gegenläufig.
Da!
Der Schatten!
Er glitt dicht unter der Wasserfläche zum Ruder. Die Faust der Corsarin krampfte sich enger um den Dolch. Ihre Muskeln spannten sich unter nackter Haut. Ihre Augen schienen in der Dunkelheit dämonisch zu glühen.
Der Schatten richtete sich auf. Ein Körper zog sich am Ruderblatt hoch und griff nach dem geflickten Seil. Die Haut wirkte irgendwie unnatürlich. Gescheckt. So, sei sie von Pigmentflecken übersäht.
Die Corsarin rutschte lautlos etwas vor. Da zog sich die männliche Gestalt ganz aus dem Wasser. Dabei hob sie den Kopf.
Die Blicke beider Menschen trafen sich.
„Verdeux!“ zischte Estrella überrascht.
Der Angesprochene war keines Wortes der Entgegnung fähig.
Die Corsarin ließ sich fallen. Zwei Körper stürzten ins Wasser.
Die Wogen schlugen über ihnen zusammen. Estrella spürte den Sand unter den Füßen. Gleichzeitig krallten sich die Hände ihres Gegners in ihren Hals. Sie stieß das linke Knie vor. Doch der Griff lockerte sich nicht. Ihre Arme hatte sie um den Körper Verdeux’ geschlungen. Jetzt lockerte sie die Umklammerung einseitig und ergriff ihr Messer, das sie immer noch krampfhaft mit den Zähnen hielt. Doch der Franzose stieß mit einer kraftvollen Bewegung seines rechten Oberarms die Hand der Corsarin zur Seite. Das Messer entglitt ihr und trudelte auf den Boden der Sandbank. Irgendwo hin – unerreichbar. Erneut fühlte Estrella die Hände schraubstockartig an ihrem Hals. Die Luft wurde ihr knapp. Auf Hilfe konnte sie nicht hoffen, denn niemand auf der SILVER STAR konnte den Vorfall bemerkt haben.
Da sammelte Estrella alle ihre Reserven. Sie bog den Kopf zurück und stieß mit aller Macht zu!
Verdeux lockerte den Griff. Ob durch Schmerz oder Überraschung…es war der Corsarin egal. Ihre gespreizten Finger der Linken schnellten vor. Im Licht des Mondes, das silbrig fahl durch die Wasseroberfläche drang, sah sie die dunkle Verfärbung. Mindesten ein Auge des Gegners hatte sie ernsthaft verletzt. Verdeux ließ von ihr ab. Die Corsarin schnellte nach oben. Ihr Kopf durchstieß die Wasseroberfläche. Sie sog gierig die Luft ein. Nur undeutlich vernahm sie Stimmen. Sie stammten von den Männern am Bug ihres Schiffes.
Mit einem Ruck an ihren Beinen wurde die Corsarin wieder unter Wasser gezogen. Sie fühlte den Stich. Der Schmerz gesellte sich Sekunden später hinzu. Verdeux hatte ihr ein Messer in die Seite gerammt. Vor Estrellas Augen tanzen Sterne. Blind stieß sie mit den Fäusten zu. Sie bemerkte Widerstand. Für einen Moment bekam sie Spielraum. Sie schnellte sich nach hinten. Haarscharf glitt das Messer beim zweiten Angriff an ihr vorbei. Da griff sie zu! Ihre beiden Hände umklammerten die Messerfaust des Gegners.
Ein Machtkampf der an die Grenzen ihrer Kräfte ging entspann sich unter Wasser. Wie lange es dauerte, vermochte sie später nicht zu sagen. Die Luft ging ihr aus, obwohl sie gut trainiert war. Der Schädel schien zu platzen. Ein gewaltiger Strudel wollte sie aufnehmen – in eine rot wabernde Hölle reißen. Da spannte sie noch einmal sämtliche Muskeln an, zog die messerbewehrte Faust zu sich an ihren Körper, um sie dann mit aller ihr noch zur Verfügung stehenden Gewalt nach vorn zu pressen.
Sie fühlte, wie die Klinge tief in Verdeux’ Körper drang. Seine Gegenwehr erschlafft ruckartig. Estrella schnellte sich an die Wasseroberfläche. Da erkannte sie Lucias Gesicht über der Heckreling des Kapitänsdecks. Ihre Augen blickten entsetzt und sie schrie etwas, was die Corsarin nicht verstehen konnte. Während sie plötzlich mit dem Kopf unter Wasser gedrückt wurde, nahm sie noch wahr, dass ihre Schwester sich mit einem Hechtsprung über Bord katapultierte. Dann schwanden ihr die Sinne.
Irgendwann lag sie ausgepumpt an Deck und blickte in das besorgte Gesicht von Sam.
Eben stieg Lucia über die Strickleiter an Bord. Sie lief, völlig vor Nässe triefend und barfuß auf die Schwester zu. Neben ihr ging sie in die Knie.
„Es war Gottes Fügung, dass ich von Unruhe geplagt nach hinten kam“, flüsterte sie.
Die Corsarin spuckte Wasser aus.
„Unruhe? Du?“ krächzte sie.
„Unser Streit…ich wollte mit dir reden…“
Plötzlich beugte sich die stolze Lucia vor und küsste ihre Schwester.
Estrellas Hände strichen über ihren Rücken. Endlich richtete sich die Gouverneurin von SAN LUCA wieder auf.
„Wie konnte sich der Bursche an Bord schleichen?“ fragte sie völlig verständnislos.
„Das wüsste ich auch gern“, knurrte Bush. „Er muss seit Frankreich hier sein Unwesen treiben. Wette – er hat auch Helen angegriffen.“
Die Corsarin stemmte sich mühsam mit den Ellenbogen hoch. „Ich sah verwaschene Farbe. Er tarnte sich als Mulatte. Wahrscheinlich schon bei der Verladung von Proviant und kam irgendwie an Bord. Dann gelang es ihm, sich versteckt zu halten.“
Sam strich sich den grauen Bart. „Thunder! Aber was sollte die Aktion?“
Estrella spürte den stechenden Schmerz in der Seite.
„Das muss verbunden werden!“ rief Lucia. Sogleich rief sie den Segelmacher. Der kannte sich mit Verwundungen bestens aus.
„Ich hab ihn zurecht gestutzt, als er Louis umbringen lassen wollte. Er sollte vor ein Tribunalgericht.“ Estrella schüttelte den Kopf. „Als ob der Tod des Königs etwas genutzt hätte.“
Lucia zog die Augenbrauen hoch. „Also Rache?“
Die Corsarin zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“ Dann schaute sie die Schwester an. „Ist er…“
Die blieb die Luft durch die geschürzten Lippen und breitete die Arme aus.
„Ich versetzte ihm einen Hieb – dann war er verschwunden. Vielleicht ist er ertrunken…“
Sam Bush sog geräuschvoll die Luft durch die Nase. „Ich lasse das ganze Schiff durchkämen. Dann sehen wir weiter.“
Doch sie fanden den Verräter nicht.
Es war am vierten Tag. Da bäumten sich die Wogen zu wahren Bergen auf. Die SILVER STAR stampfte mit dem Bug tief in die Täler ein, um dann mit Schwung wieder aufzusteigen. Wasser überspülte jedes Mal das Mittelschiff. Die Mannschaft klammerte sich an Reling und Seilen fest. Der Himmel verfinsterte sich zusehends.
„Wir nähern uns dem Canale Ionius*)“, bemerkte Sam Bush. „Hier müssen wir erneut mit Sandbänken rechnen. Bin mit der ALONSO vor zehn Jahren hier mal festgefahren.“
Estrella blickte mit zusammengekniffenen Augen zu den wüsten Sturmwolken auf.
„In zehn Jahren verändert sich die See“, entgegnete sie. „Sollen wir loten?“
Der Erste schüttelte den Kopf. „Hier noch nicht – aber…denke in drei Glasen.“
Die Corsarin nickte. „Das Wetter hat auch sein Gutes. Die Malteserflotte kommt uns nicht zu nahe.“
Bush versuchte seine Pfeife in Gang zu bringen. „Bisher haben wir nichts von denen gesehen.“
„Nein“, murmelte Estrella. „Das stimmt mich wachsam. Ihre Schiffe patrouillieren überall.“
„Du meinst Tauben?“ Der Alte schüttelte den Kopf. „Nicht über diese
Entfernung und unserer raschen Fahrt.“
Sie dachte an den Kampf mit Verdeux. Hatte er sich im Zeitplan verrechnet? Wollte er sie an die Malteser ausliefern? Oder mussten sie mit einer nahen französischen Flotte rechnen? Estrella riet zur äußersten Wachsamkeit. Doch alles kam anders…
Eine Stunde später tobte das Meer. Die Brecher schossen quer zum Schiff. Die SILVER STAR knarrte und ächzte.
„Segel reffen!“ Bushs Stimme donnerte durch den Orkan. „Au die Masten,
Boys – oder der Satan begrüßt euch in der Hölle!“
Die Corsarin stand auf dem Mitteldeck und klammerte sich an einem Tauende fest. Helen stemmte sich mit Lucia gemeinsam ins Steuer – unterstützt von zwei Matrosen. Sie mussten das Schiff gegen den Wind drehen, damit es nicht auseinanderbrach.
Ein Schrei durch das Brausen des Sturmes.
Estrella blickte auf. Ein junger Matrose war auf einer Rahe abgerutscht und stürzte auf das Deck. Die Corsarin schloss die Augen, als der Körper aufprallte, der Kopf aufplatzte und Gehirn und Blut umher spritzten, um im Bruchteil einer Sekunde samt dem toten Körper von einer gewaltigen Welle über Bord gespült zu werden.
Das Inferno umhüllte das Schiff!
Alles, was nicht niet – und nagelfest war, schleuderte umher. Estrella sah, wie Helen in die Knie sackte. Die Anstrengung stellte sich noch als zuviel für sie da.
Die Corsarin wartete ein Wellental ab – dann spurtete sie los, jagte die Treppe zum Podest des Steuerdecks hinauf und krallte sich in die Verstrebung des Geländers. Da brach die Welle über ihr zusammen. Ihr blieb die Luft weg. Sie glaubte, die Kleider würden ihr vom Leib gerissen. Als sie wieder einigermaßen klar sehen konnte, blieb ihr vor Entsetzen das Herz bald stehen.
Helen war verschwunden!
Panisch rannte sie, ungeachtete des extrem schwankenden Schiffes zur Rehling.
Die See schien zu kochen!
Dicke Schaumkronen wirbelten – Gischt spritzte Meter hoch.
„Helen!!!“ schrie sie den Elementen entgegen.
Doch es gab keine Antwort.
Doch da…
Zeigte sich nicht für einen Bruchteil des Augenaufschlages nasses blondes Haar…?
Estrella sprang auf die glitschige Rehling – schaffte es noch, sich die Stiefel von den Füßen zu reißen, dann hechtete sie in die Richtung, in der sie die Schwester zu sehen geglaubt hatte.
„Estrella!“
Der Ruf Sam Bushs ging in einer über das Deck donnernden Woge unter.
Die Corsarin selbst glaubte sich mitten in der Hölle. Das Wasser wirbelte um sie herum. Ein Schwall der salzigen Brühe überspülte sie, drang in die Lunge – sie würgte, doch die Angst um Helen hielt ihr Herz umklammert. Mit aller Kraft, die in ihrem Körper steckte, kämpfte sie gegen die teilweise zwölf Meter hohen Wasserberge an. Sie tauchte durch brausende Schaumgebirge…katapultierte sich hoch…versuchte die Richtung nicht zu verlieren.
Plötzlich stießen ihre Füße an etwas Weiches. Sie zuckte zusammen. Sie griff unter sich, zog…Helens kalkweißes Gesicht tauchte auf, das Haar glich eher einem Seetangnetz…
Ohnmacht wollte Estrella überkommen, doch sie hielt die Finger in dem Haardschungel fest verkrallt.

Neptun sei gepriesen“, erklang es wie durch Watte an ihr Ohr. Die Stimme klang tief und rau.
„Lebt sie?“ kam es ängstlich zögernd in weiblichem Ton.
„Sie leben beide“, antwortete die erste Stimme erleichtert.
„Die Vaubernier muss verrückt geworden sein!“
Einen Moment war es still. Dann die männliche Stimme wieder: „Trotz ihrer Ketten ist sie über Bord gesprungen.“
„Wie ist sie überhaupt los gekommen?“ kam es von der weiblichen Stimme erstaunt.
„Durch das Schwanken des Schiffes muss sich der Wandsplint gelöst haben.“
Estrella würgte. Dann nahm eine andere Welt sie wieder ein.
Irgendwann spürte sie angenehme Wärme. Leiser Gesang schmeichelte eine Luft, die nach Jasmin roch.
Estrella streckte sich. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
Jetzt roch sie intensiv die Blumen. Ihr Blick klärte sich. Sie wandte den Kopf.
‚Ihr Götter!’ durchfuhr es sie. ‚Nun bist du tatsächlich tot.’
Wasser plätscherte irgendwo gedämpft. Der wunderschöne melodische Gesang drang wieder zu ihr hinüber. Estrella richtete sich auf. Sie lag auf einer Ruhebank aus Teakholz. Mitten in einem wunderbaren Hain. Alabasterfiguren umgrenzten eine tiefgrüne Rasenfläche.
Nun erkannte sie den Ursprung des Gesangs. Eine Frau saß in einem Bastsessel, gekleidet in eine kostbare weiße Tunika mit Goldborden. Die bloßen Füße hatte sie auf die Sitzfläche hinaufgezogen. Der seichte Wind spielte in ihrem goldblonden Haar.
Helen!
Die Corsarin schluckte. Ihr Götter – auch sie musste wohl tot sein.
Da vernahm sie eine leicht krächzende Stimme hinter sich. Leicht irritiert drehte sie sich auf der Liege. Sie blickte in das gutmütige Gesicht von Sam Bush. Zwei Tränen rannen dem Alten aus den Augen.
„Estrella…dem Herrn sei gedankt. Du weilst wieder unter uns.“
Dann spürte sie zwei sanfte Hände. Es war ihre Schwester Helen.
„Oh Estrella“, hauchte sie. Dann küsste sie innig deren Stirn. „Du hast mich vor einem grausigen Tod bewahrt.“
Die Corsarin schloss für einen Moment wieder die Augen, ehe sie fragte:
„Wo sind wir?“
„In Venedig“, kam es von Sam. „Genauer gesagt, im Garten des Dogen.“
Dann berichtete er, wie er gesehen hatte, wie sie – Estrella – in der brodelnden See versank. Irgendwann hatte er sie dann zwischen den Wogen wieder ausfindig gemacht. Erkannt, wie sie etwas krampfhaft festhielt, um dann damit zu versinken. Dann war die Vaubernier aus dem Unterdeck aufgetaucht. Nackt und in Handketten. Sie musste die Situation wohl erfasst haben, denn sie rannte zur Steuerbordreling und katapultierte sich in die Fluten.
„Ich weiß nicht wie, aber sie hat dich gepackt und da du Helens Haar wie im Fieber umkrampft hieltst, zog sie euch beide mit sich. Irgendwie gelang es Diego, ihr ein Seil zu zuwerfen. An eine weiteres Tau gebunden sprang er ins Wasser.“ Bush zuckte mit den Schultern. „Wir zerrten euch an Bord. Doch weder für deines, noch für das Leben von Helen gab ich einen Pfifferling. Wir konnten euch auch nur festbinden, denn der Orkan tobte noch gut eine Stunde. Dann war es plötzlich ruhig wie im Paradies.“
Estrella fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Endlich fragte sie:
„Was ist mit der SILVER STAR?“
Sam Bush lachte leise. „Das alte Mädchen hat uns mit nur einem Mast sicher nach Venedig getragen. Sie liegt in der Werft.“
Der Kopf der Corsarin sank zurück. Dann suchte ihr Blick Helen.
„Wie geht es dir?“
Die Schwester drückte ihre Wange an die Estrellas. „Dank deiner Rettung gut.“
Sie schwiegen. Die Corsarin sah einen Schwarm Kraniche über den azurblauen Himmel schweben.
„Wo ist Lucia?“
„Beim Dogen“, kam es von Sam. „Mit der Vaubernier. Man verhandelt über eine Rückfahrt nach Frankreich.“
Die Corsarin schüttelte den Kopf. „Wieso rettete sie mich? Weshalb sprang sie ins Meer, ungeachtet dessen, dass sie selbst den Tod hätte finden können?“
Der Alte zündete seine Pfeife an. „Diese Frau ist mir ein absolutes Rätsel“, brummelte er dabei. „Denke aber – sie wird noch viel von sich reden machen.“


ENDE