Romanauszug aus "Unter der blutroten Flagge"


Das ganze Abenteuer finden Sie in der
Romantruhe Historica.

Feind in Sicht
»Er kommt von Lee!«
Samuel Bush, erster Offizier der SILVER STAR, setzte das Fernrohr mit den verkratzten Messingverzierungen ab. Seine wilden, rötlichen Augenbrauen zogen sich zusammen und über seiner Nasenwurzel entstand eine scharfe Falte.
»Das kann uns nur recht sein, Mister Bush«, erklang es hart, aber in einem Timbre, das einen merkwürdig bis ins Mark berührte.

Estrella Avilla de Aragon strich sich das wilde lockige Haar aus dem Gesicht und starrte hinaus auf den tief blauen Horizont. Die Fregatte weit hinten ließ sich nur erahnen.
»Ein verfluchter Engländer«, zischte die Corsarin. »Ich erkenne ihn am Vorsegel. Wir werden ihn vernichten!«
Sie wandte sich um und rief mit mächtiger Stimme über das Deck:

»Handelsflagge setzen! Geschütze bereithalten, aber abdecken. Keiner zeigt sich über der Reling!«

»Ay, ay – Lady Captain«, bestätigte der Bootsmann.

Estrella wandte sich wieder um und schien das sich langsam aber stetig nähernde Schiff mit den Augen aufzusaugen. »Komm!« zischte sie und es klang wie eine Kobra vor dem tödlichen Biss. »Ich reiße dir den Arsch auf!«

Sam Bush lehnte sich langsam an die Bordwand und begann seine Pfeife zu stopfen. Sein dichter graurötlicher Bart vibrierte im Wind. Die Wanten und die Takelage knarrten, die Segel der SILVER STAR blähten sich, als signalisierten sie Vorfreude auf das Kommende.
Bush musterte seinen Lady-Captain. Er sah das Glitzern in ihren Augen. Unbändige, unterdrückte Wut, die aus tiefster Seele aufzusteigen schien.
Ja – Sam Bush wusste nur zu gut, was in Estrella vor sich ging.

Die Hände der Corsarin umkrampften so fest die Reling, dass die Knöchel weiß hervortraten. Unruhig scharrten ihre Stiefelsohlen auf den Planken.
Vor ihren Augen verwischte sich das wogende Meer und das Bild wandelte sich in eine gaffende, kreischende Menschenmenge. Estrella spürte die harten, schwieligen Hände der beiden Henker, die sie zum Pranger führten.

Ganz London schien sensationslüstern auf den Beinen zu sein.
»Zieht sie aus!« schrie eine sich überschlagende Stimme und bald stimmte die Meute mit ein. Eine alte hakennasige Frau grabschte an Estrellas Busen und zeriss dabei die ehemals weiße Rüschenbluse.
»Zieht ihr diese Männerhosen aus!« geiferte ein anderes aufgebrachtes Weib.
Es glich einem Spießrutenlaufen, bis man sie endlich grob auf dem Marktplatz an das Prangergerüst stieß...
Estrella begann trotz des scharfen Westwindes zu schwitzen. Sie zuckte zusammen, als Bush sie berührte. »Captain! Es ist vorbei.«
Hilflos starrte Estrella ihn an. Dann schüttelte sie sich und ihr Blick wurde hart. Sie knurrte unheildrohend: »Nein, Mr. Bush – es beginnt erst noch!«
Bush stieß sich von der Bordwand ab und stapfte – sich breitbeinig gegen die Schräglage des Schiffes stemmend – zum Ersten Kanonier.
»Diego – wenn er nahe genug ist, verpasst du ihm einen genau auf den Bug.

Und zwar dicht unter der Wasserlinie.«
Diego – ein feuriger Andalusier und der beste Kanonier der westlichen Hemisphäre – grinste breit. »Ist mir ein Vergnügen, Senõr Offizier.«
Busch nickte befriedigt. Er wusste, dass man sich auf Diego verlassen konnte. Der schoss auf hundert Yards einer Drohne die Eier ab. Falls sie welche hätte. Bush kicherte in sich hinein. Inzwischen hatte Estrella sich an den Bugsteven geklemmt. Von tief unten rauschte die Gischt zu ihr herauf.
»Der Schlund der Hölle ist für euch, verdammte Inglis«, fauchte sie.

Erneut tauchten die grässlichen Bilder der Vergangenheit auf. Fünf Jahre war es her und doch schien es erst eben gewesen zu sein. Estrella hörte das Ratschen, als ihre Kleidung zeriss. Fühlte den rauen Wind auf dem völlig entblößten, der gaffenden Menge feil geboten Körper. Sie spürte das kalte Metall der Hand- und Fußschellen, als man sie an den Pranger kettete. So scharf, dass ihre Gelenke knackten. Einer der Henker stieß ihr ein Rundholz in die Scheide.
Mit jeder Faser ihrer Seele fühlte Estrella noch den Schmerz und musste sich zusammennehmen, um nicht jetzt noch aufzuschreien.
Dann kam die Peitsche. Fünfzig scharfe Hiebe. Das Blut rann ihr von Brüsten und Schultern. Die Menge johlte und ein nahe stehendes altes Weib stieß ihr ihren nackten, schmutzigen Fuß in den Bauch...

Die Corsarin schüttelte sich.
»Schiff kommt näher«, riss sie die Stimme des Ausgucks aus den Erinnerungen.
Der Kopf der Corsarin ruckte herum. Überdeutlich zeichnete sich die englische Fregatte ab. Mit dem Fernrohr erkannte sie die Uniformen der Offiziere.
Estrella knirschte mit den Zähnen. Bald würden sie nackt vor ihr um Gnade winseln. Doch es würde keine Gnade geben. Sie würde die Bande auslachen, so wie die Gaffer damals vor Vergnügen gegrölt hatten, als die Henker ihr die kleinen heißen Kohlenpfannen unter die nackten Fußsohlen geschoben hatte.
Sie würde diese Hurenböcke an noch empfindlicherer Stelle rösten.
Es dauerte noch bald eine Stunde, bis der Engländer so nahe kam, dass man seine Bugwelle hören konnte.
Estrella sprang in die Mitte des Decks.
»Rote Flagge hissen!«
Zeitgleich donnerte Bushs Befehl so, dass man glaubte, die Takelage würde erzittern: »Feuer frei !«
Während Diegos erste Kugel genau ihr vorbestimmtes Ziel traf, schienen Estrellas Augen in einem unwirklichen Licht zu glühen.
»Betet zu euerem Gott...«